Zusammenfassung
Leicht wird vergessen, daß die Ärzte erst gegen 1800 das Terrain der Verrücktheit konfiszierten. Es ist kaum ein Verdienst der Mediziner, jedenfalls nicht ihrer klassifikatorisch-nosographischen Anstrengungen, wenn die abendländische Gesellschaft diese dunkle Seite ihrer selbst an sie abtrat. Denn die großen psychiatrischen Systeme des 17. und 18. Jahrhunderts wurden, fern von den Irren, nach botanischem Vorbild und unter der Idee einer die Natur durchwaltenden universellen Vernunft entworfen. Von Felix Platters Praxeos tractatus (1609) bis zu Weikhards Philosophischem Arzt (1790) wurde die Verrücktheit wie ein symmetrischer Garten idealer Unvernunft konstruiert. Und wenn die Totalität möglicher Verrücktheiten in diesen Systemen sich einmal mit der Erfahrung eines konkreten Verrückten deckte, so geschah dies mehr zufällig und dank vulgärer Anschauungen, welche diese Klassifikatoren mit Geistlichen, Juristen, Polizisten und anderen Sachwaltern des Miserablen in der absolutistisch verwalteten Welt durchaus teilten. Folgt man Michel Foucault15, der die geschichtlichen Peripetien der folie und déraison in diesen beiden (von ihm klassisch genannten) Jahrhunderten nachzeichnete, so können die Ärzte in Bezug auf die Verrücktheit geradezu als Laien gelten. Sie hatten kaum Kontakte zu den Hospitälern, zu den maisons de force und workhouses jener Zeit, und ebenso unverbindlich für ihr System-Filigran blieben die aufblühenden anatomischphysiologischen Einsichten eines v. Haller oder eines Stahl.
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© 1970 Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands
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Kisker, K.P. (1970). Die Verfremdung des Abwegigen in der Neuzeit und ihre Ärztlichen Exekutoren. In: Dialogik der Verrücktheit ein Versuch an den Grenzen der Anthropologie. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-010-3248-3_2
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