1 Ein Roman als Problemfall: Einführung

Alfred Andersch ist eine der Schlüsselfiguren der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Seine Bedeutung für die Literatur und das literarische Leben gründet auf mehreren Faktoren. Chronologisch gesehen, steht seine Tätigkeit als Herausgeber der politisch-literarischen Zeitschrift Der Ruf in Zusammenarbeit mit Hans Werner Richter am Anfang seiner Karriere. Ihr Rücktritt von der Herausgeberschaft, auf den bald auch die Einstellung der Zeitschrift folgte, wird gewöhnlich als Voraussetzung oder gar ursächlich für die Gründung der Gruppe 47 angesehen, eines für die Nachkriegsliteratur prägenden Zusammenschlusses von Autoren, deren literarische Wirkung mit dem Aufstieg der Gruppe eng verzahnt ist (vgl. Böttiger 2012). Auch wenn Andersch nicht regelmäßig an den Gruppentagungen teilnahm und zunehmend Distanz zu ihr aufbaute, liegt seine Bedeutung während dieser Anfangsphase in seinem programmatischen Wirken. Mit seinem Essay Die deutsche Literatur in der Entscheidung (1948) versuchte er, „die Existenz der Gruppe [47] durch etwas Programmatisches zu legitimieren“ (ebd., 62).Footnote 1

Die nächsten Jahre arbeitete Alfred Andersch als Redakteur beim Hessischen und beim Süddeutschen Rundfunk. In dieser Funktion machte er sich nicht nur um die Etablierung und Weiterentwicklung von Sendeformaten wie des Radio-Essays, Features und Hörspiels, sondern auch um die damit verbundene Förderung und Entdeckung von Autoren wie Arno Schmidt und Hans Magnus Enzensberger verdient (vgl. Liebe 1990).

Aber Andersch war nicht nur organisatorisch und programmatisch erfolgreich. Mit zwei Buchpublikationen reüssierte er in den fünfziger Jahren auch als Autor: Der autobiographische Bericht Die Kirschen der Freiheit (1952) über seine Desertion von der Wehrmacht sorgte zunächst im weltanschaulichen Bereich für Furore, indem Andersch darin Pazifismus, Individualismus und Freiheitsdenken legitimierte und über den damals herrschenden Korpsgeist stellte; sein Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957) verschaffte ihm schließlich auch den ersehnten literarischen Durchbruch. Auf diesen Roman, der bald Lesestoff im Deutschunterricht an den Schulen wurde, folgten weitere Romane, die zwar jeweils breites Interesse hervorriefen, das sich in zahlreichen Rezensionen niederschlug, die aber auch viel Widerspruch selbst von Weggefährten erfuhren, so dass er an den Erfolg von Sansibar nicht mehr in derselben Weise anknüpfen konnte. Dies galt auch für seinen dritten Roman Efraim aus dem Jahr 1967, mit dem er vom Schweizer Walter-Verlag zu Diogenes gewechselt war. Nach einem Vorabdruck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Abmahnung eines Anwalts eines nicht verurteilten Kriegsverbrechers, der sich in einer Figur wiedererkannt zu haben glaubte, war genug Aufmerksamkeit vorhanden, dass die Startauflage schnell ausverkauft war und Andersch die Enttäuschung seines zweiten Romans Die Rote (1960) hinter sich zu lassen meinte. Doch entwickelte sich Efraim bald ebenfalls zu einem Ladenhüter, woran auch wohlmeinende Rezensionen und mehrere Literaturpreise nichts ändern konnten.Footnote 2

Infolgedessen scheint die literaturgeschichtliche Bedeutung des Romans gering – das ist zumindest der Eindruck, wenn man nur gängige Literaturgeschichten konsultiert.Footnote 3 Doch ist das Interesse der Literaturwissenschaft an Efraim außerhalb der unmittelbaren Andersch-Forschung weit weniger überschaubar, als man dem ersten Eindruck zufolge annehmen könnte.Footnote 4 Seit in den achtziger Jahren die literaturwissenschaftliche Holocaust-Forschung einsetzte, erlangte das Werk vermehrt Beachtung. Nicht zuletzt deshalb ist der Roman auch heute noch von einigem Interesse, denn sein Protagonist ist jüdischer Herkunft. Und nicht nur das, er ist zugleich der homodiegetische Erzähler, nach dessen Nachnamen der Roman auf Anraten Max Frischs schließlich seinen Titel erhielt.Footnote 5 Das war damals gewiss eine ebenso gewagte wie in der deutschen Nachkriegsliteratur bis dahin wohl beispiellose Entscheidung.

George Efraim ist ein jüdischer Emigrant, und ein Teil der Kritik entzündete sich gerade daran. Man könnte die Wahl eines solchen Ich-Erzählers als anmaßend empfunden haben, erst recht, wenn man bedenkt, was viel später über Anderschs Verhalten gegenüber seiner ersten Frau ruchbar geworden ist.Footnote 6 Die literaturkritische Begründung etwa Marcel Reich-Ranickis besagte indes, dass die literarische Darstellung eines jüdischen Emigranten nicht überzeugend sei. „Durfte er das?“ fragt Reich-Ranicki (1970 [1967], 50) nach der Feststellung, „daß Andersch seinen traditionellen Helden diesmal judaisiert hat“. Die Antwortet lautet: „Das hängt immer nur vom Ergebnis ab. Der Romancier darf alles, was er kann. Aber Andersch hat hier etwas versucht, was seine schriftstellerischen Möglichkeiten weit übersteigt“ (ebd.).Footnote 7 Nicht nur die, wie wir gleich sehen werden, fraglos komplizierte Erzählkonzeption selbst, auch die Wahl einer Erzählerfigur mit solch umstrittenen Eigenschaften und Einstellungen dürfte gerade für die Frage nach der Unzuverlässigkeit einschlägig sein.

2 Unfertiges Erzählen: Die Erzählkonzeption

Efraim gehört zu den Werken, über die man das Wesentliche gerade nicht erfährt, wenn man nur die erzählte Geschichte referiert. Mehr noch, man erhielte einen völlig unangemessenen Eindruck. Der Gang der Ereignisse wird lediglich en passant in den Reflexionen des Ich-Erzählers erkennbar, der sich zu Beginn noch ohne Namen in der Form eines (autonomen) inneren Monologs äußert: „Gegen vier Uhr am Morgen regnet es. Ich wache von dem Geräusch auf, das der Regen macht, knipse die Bettlampe an und bringe das Zifferblatt meiner Armbanduhr nahe vor meine kurzsichtigen Augen“ (E, 9). Rasch stabilisiert sich der Eindruck, dass die durch das grammatische Präsens erzeugte narrative Unmittelbarkeit syntaktisch und stilistisch gebrochen wird. Dennoch wird man zunächst den Eindruck haben, die Erzählerrede sei ungeschriebene Gedankenrede, die ihren schrift-, wenn auch nicht immer literatursprachlichenFootnote 8 (und nicht halbwegs authentisch mentalen) Duktus durch eine poetische Lizenz erhält. Dass der innere Monolog hier nicht als schriftlich (im Gegensatz zu seiner faktischen Syntax) aufzufassen ist, lässt sich daran erkennen, dass der Erzähler zu schreiben anfängt, „[z]um erstenmal seit vielen Jahren […] in deutscher Sprache“, den Text im Monolog zitiert und dann das Blatt mit dem Text wegwirft (E, 24). Damit erweist sich – zunächst, muss man sagen – der innere Monolog als (durch eine poetische Lizenz) stilisiertes Gedächtnisprotokoll. (Faktisch ist die Syntax oft durch eine komplexe Hypotaxe geprägt, wodurch der Text mindestens seinen schrift- bzw. literatursprachlichen Charakter erhält.)

Nach und nach schält sich folgende Ereignissequenz heraus: George Efraim, Korrespondent einer britischen Wochenzeitung in Rom, ist am 25. Oktober 1962 nach Berlin gekommen, wo er offiziell an der Frontlinie des Kalten Krieges die politischen Auswirkungen der Kuba-Krise erkunden und inoffiziell nach dem Verbleib der außerehelichen halbjüdischen Tochter seines Chefs Keir Horne recherchieren soll. Wie sich herausstellt, ist Esther, so ihr Name, das Bindeglied zwischen den beiden, denn Efraim hat sie in seiner Jugend selbst gekannt. Efraim ist 1920 in Berlin geboren und in den dreißiger Jahren zu seinem Onkel Basil nach London emigriert. Während die offizielle politische Recherche im Folgenden fast überhaupt keine Rolle spielt (höchstens im Zusammenhang mit seinem Plan, den Journalismus aufzugeben) und auch die Erzählung von der Erledigung des inoffiziellen Auftrags (obwohl einer der Höhepunkte am Schluss) am Gesamttext nicht allzu viele Seiten einnimmt, ist vor allem von seiner Beziehung zur jungen Schauspielerin Anna Krystek die Rede, die er in Berlin auf einer Party kennenlernt. Er durchwandert mit ihr die Stadt und besucht sie später in Neukölln, wo sie bei ihrem Vater wohnt. Er lädt Anna ein, mit ihr nach Rom zu fliegen, doch in Frankfurt kehrt sie um, und er fliegt am 1. November allein weiter. In Rom bleibt er nicht lange, sondern begibt sich am 14. November nach London (E, 287), um seine von ihm getrennt lebende Frau Meg zu besuchen und Keir Horne mit den Ergebnissen seiner Suche nach Esther zu konfrontieren. Am 16. November (E, 466) kehrt er nach Rom zurück und schreibt an seinem bereits in Berlin begonnenen Manuskript weiter. Das dauert mindestens bis zum Oktober 1965, so die letzte diesbezügliche Zeitangabe (E, 464).Footnote 9 In der Endphase entschließt er sich zur Veröffentlichung und flicht seine Gespräche mit Verleger und Lektor in seinen Text ein.

Diese Sequenz von äußeren Ereignissen lässt sich durch eine Reihe von Details ergänzen, etwa durch den Faustschlag Efraims auf der Party, die er als Auslöser für seine Bekanntschaft mit Anna ansieht (E, 215). In London trifft er mit Meg zusammen, die in seinem Gefühlshaushalt noch immer eine große Rolle spielt, und so wird Efraims Erzählung äußerer Ereignisse von seinen Reflexionen und Erinnerungen umspielt, dass es Mühe kostet, den Ablauf der Geschichte zu rekonstruieren und präsent zu halten. Efraims Erzählung ist zudem durch zahlreiche metanarrative Einlassungen gekennzeichnet. Schließlich wird eine weitere Komplizierung dadurch erreicht, dass der innere Monolog dem ersten Eindruck zum Trotz bald als von Efraim – auch noch aufgrund zwischenzeitlich angefertigter Notizen – literarisierte, d. h. geschriebene Rede erkennbar wird. Das hat den Effekt, dass man die zunächst für Unmittelbarkeit gehaltene Eigenschaft des inneren Monologs als vorgetäuscht bezeichnen muss, jedenfalls bis zu dem Punkt, an dem der Ich-Erzähler sich zu der mehrstufigen Textgenese bekennt. Im weiteren Verlauf des zu Beginn geschilderten Tages setzt sich Efraim nach dem Mittagsschlaf an die Schreibmaschine und fängt an zu tippen. „Ich schreibe: Gegen vier Uhr am Morgen regnet es. Ich wache von dem Geräusch auf, das der Regen macht, knipse die Bettlampe an und bringe das Zifferblatt meiner Armbanduhr nahe vor meine kurzsichtigen Augen“ (E, 56 f.).

Wir erinnern uns, es handelt sich exakt um die ersten Sätze des Romans, die Efraim hier – angeblich – zu Papier bringt. „Angeblich“, weil es so nicht stimmt. Tatsächlich hat er, wie er kurz darauf einräumt, etwas anderes geschrieben:

Übrigens gestehe ich gleich, daß ich meinen Bericht, oder wie man dergleichen nennen will, nicht genau in der Form zu schreiben anfing, die ich hier zitiere und in der er nun endgültig vorliegt. Vielmehr benutzte ich bei der ersten Niederschrift die dritte Person des Imperfekts; das heißt, ich verhielt mich so, als schriebe ich über ein fremdes Wesen. (E, 57)Footnote 10

Es folgt dieselbe Passage, in der nur die erwähnten grammatischen Formen ausgetauscht sind. Außerdem wird sein Name eingeführt: „George (früher: Georg) Efraim wachte von dem Geräusch auf, das der Regen machte“ (ebd.). Bis zum Ende dieses ersten von insgesamt sieben Kapiteln reflektiert Efraim sein Schreiben, über das er gar die Verabredung mit Anna vergisst, und benennt die Ereignisse des Tages, die er schildert. Dabei geht er recht pedantisch vor, denn er möchte nicht, wie es ganz am Ende des Kapitels heißt, „den Eindruck erwecken, als hätte ich dieses erste Kapitel, so, wie es hier steht [das ja sowieso nicht! – MA], in einem Zug an jenem Nachmittag und Abend geschrieben […]“ (E, 60).

Man sieht nun deutlich, dass der Gestus des erlebenden Ich, in dem der Roman einsetzt, zurückgenommen wird. Der Erzähler gibt zu erkennen, dass er in seiner Rede durchgängig als erzählendes Ich agiert, auch wenn die Grammatik seiner Rede etwas anderes zu besagen scheint. Zwar wird diese narrative Schichtung an dieser Stelle offenbar, doch greifen die verschiedenen Zeitebenen häufig ineinander, sind miteinander verschränkt, so dass die daraus entstehende narrative Komplexität ständig präsent gehalten wird und berücksichtigt werden muss, wenn man sich über das Gesagte Klarheit verschaffen will. Die aus den verschiedenen Textfassungen und Notizen resultierenden Erzählebenen werden von Efraim immer wieder angesprochen, und er wechselt sie auch nach Belieben.

Nur ein Beispiel: Als Efraim zu Beginn des zweiten Kapitels über den Zufall räsoniert (ein zentrales Leitmotiv, auf das ich noch zu sprechen komme), macht er eine Bemerkung über die „Treffsicherheit mehrerer Schützen und [die] Sorglosigkeit eines Präsidenten in Dallas, Texas“ (E, 62). Das ist eine Anspielung auf die Ermordung John F. Kennedys im Jahr 1963. Bislang hat Efraim aber über den letzten Sonntag im Oktober 1962 berichtet. Wie kann er zu diesem Zeitpunkt wissen, geschweige denn davon erzählen, dass Kennedy ermordet worden sei? Lange stutzig bleiben muss man nicht, die Erklärung liefert Efraim noch auf derselben Seite:

Ich schreibe die Stichworte zu dieser Reflexion, mit der ich, wie ich vermute, mein Buch nur schwerfällig mache, so daß ich sie wahrscheinlich wieder streichen werde (ich habe mich entschlossen, sie doch stehen zu lassen!), im Albergo Byron, in eine Notizkladde, ein dickes, schwarzes Wachstuchheft, wieder an einem Sonntag, doch diesmal am Vormittag. (Ebd.)

Efraim befindet sich nun, zwei Wochen später, am 11. November in Rom, wohin er am 1. November zurückgekehrt ist (E, 63). Auch zu diesem Zeitpunkt kann er noch nichts von dem Mordanschlag wissen. Darum fügt er, pedantisch wie er ist, in Parenthese ein: „(Den Hinweis auf die Ermordung Präsident Kennedys habe ich in diesen Text erst sehr viel später eingefügt […])“ (E, 62).

Es sind drei Dinge, die hier wichtig sind. Zunächst: der Erzähler achtet wenigstens stellenweise penibel auf die Korrektheit des zeitlichen Ablaufs (sowie auf andere Details), wobei seine Pedanterie in einem seltsamen Kontrast zu seinem digressiven, scheinbar unstrukturierten Erzählverhalten steht, aber gleichzeitig mit ein Grund für die Digressionen sind; sodann: wenn Efraim über seine Erzähl- bzw. Schreibsituation (nicht im Sinne der Erzählsituation Stanzels, sondern im Sinne der narration Genettes oder des Erzählgeschehens Schmids) schreibt, überblendet er nicht selten mehr als zwei Zeitebenen miteinander, weshalb man einen zusätzlichen Zeitraum zu dem des erzählten Ereignisses und dem der endgültigen Niederschrift berücksichtigen muss, nämlich den des Notierens; am wichtigsten aber scheint mir, dass durch die an dieser Stelle offenbare Überlappung der verschiedenen Textstadien nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie anderswo nicht offenbar wird (der narrativen Pedanterie sozusagen zum Trotz), d. h. bei jedem Satz ist die Frage zu stellen, wann er geschrieben wurde und ob sich darin nicht eine Erkenntnis oder Sichtweise offenbart, die der Erzähler erst zu einem späteren Zeitpunkt als dem erzählten Ereignis erlangt oder eingenommen hat.

Schließlich gehört zur Erzählkonzeption auch eine These über die Motivation oder den Anlass des Erzählens. Dergleichen muss nicht immer gegeben oder feststellbar sein. In diesem Falle aber könnte es so etwas wie das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung sein, nach Rechenschaftablegen vielleicht, oder auch eine Art Selbsttherapie.Footnote 11 Efraim ist zwar erst 42 Jahre alt, aber er verhält sich wie jemand, der eine Midlife-Crisis erlebt. Er spielt mit dem Gedanken, seinen Beruf als Journalist aufzugeben (E, 19, 29). Efraim hat keine fertige Geschichte im Kopf, die er niederschreiben möchte, sondern ein Bedürfnis zu sortieren. Das passt zu seinem unstrukturierten, scheinbar ziellosen Erzählen sowie dazu, dass er mit dem Schreiben beginnt, ehe seine Geschichte zu Ende ist. Durch die zahlreichen metanarrativen Reflexionen ist der Roman zugleich einer über seine eigene Entstehung.

3 Missverständnisse der Rezeption: Efraims Unzuverlässigkeit

Es lassen sich drei das Buch durchziehende Themenkomplexe bzw. über den gesamten Text verstreute, aber miteinander zusammenhängende Ereignisfolgen bestimmen, deren Wiedergabe durch den Erzähler möglicherweise nicht zuverlässig erfolgt. Zum ersten ist es seine Beziehung zu Meg, deren wahren Charakter er erst am Ende offenbart; zum zweiten gibt es Unklarheiten in Bezug auf seine Schreibintention bzw. -situation (ob er für sich selbst private Notizen anfertigt oder einen Roman schreibt und sich damit an ein Publikum wendet); zum dritten schließlich ist es die Zufallstheorie, von der er häufig spricht und die in einem Spannungsverhältnis zu dem steht, was er über die Judenvernichtung denkt.

3.1 Themenkomplex ‚Efraims Beziehung zu Frauen‘

Für den ersten Themenkomplex lässt sich ohne Mühe ein Indikator feststellen: Efraim macht Andeutungen, die zunächst so aufgefasst werden können, dass er etwas verschweigt – vor dem Leser oder auch vor sich selbst. Er spricht von „privatesten Dingen“, vor denen er sich „drücken wollte“ (E, 114) und deutet somit an, dass er dem Leser wichtige Informationen vorenthält. Zu diesem Themenkomplex gehören außerdem Andeutungen, die Keir Horne, seinen Vorgesetzten, betreffen, obgleich der Zusammenhang zwischen Keir und Meg dem Erstleser erst viel später klar wird. „Vor lauter Animosität gegen Keir fange ich schon damit an, gewisse Farben zu verfälschen, damit alles in ein für ihn ungünstiges Licht gerät“ (E, 73), schreibt Efraim und wirft auf die Keir betreffenden Sachverhalte damit selbst den Schatten einer verfälschenden Darstellung.

Man könnte einige weitere Andeutungen wie die anführen, dass „von einem gewissen Zeitpunkt an […] harmlose Späße zwischen Keir, Meg und mir nicht mehr möglich“ waren (E, 97 f.), oder Efraims Bemerkung über die Zweideutigkeit des Verbs „weitertreiben“ (E, 294), aber schon jetzt lässt sich klarstellen, dass hier kein unzuverlässiges Erzählen vorliegt, nicht einmal ein offen unzuverlässiges im Sinne von Köppe/Kindt (2014), da keine falschen Tatsachen vorgeschützt werden. Anders gesagt, es gibt keine Anomalien, keine konfligierenden Sachverhaltsdarstellungen. Es bleibt lediglich ungesagt, was es mit Meg auf sich hat; und man muss damit rechnen, dass Keir nicht ganz gerecht behandelt wird vom Erzähler. Aber der selbstkritische Hinweis des Erzählers, dass er „gewisse Farben zu verfälschen“ anfange, erhöht seine Glaubwürdigkeit eher, als dass er sie unterminiere.Footnote 12

Das heißt aber nicht, dass Efraim mit Bezug auf andere Sachverhalte nicht doch unzuverlässig ist. Dazu mehr in den folgenden Abschnitten. Man kann hier aber zunächst festhalten, dass das Bild sich nach und nach vervollständigt, bis Efraim am Ende mit der ganzen Wahrheit herausrückt:Footnote 13 Meg ist polygam, auch nach der Eheschließung mit Efraim, und hat ihr Verhältnis mit Keir Horne (der seinen Nachnamen nicht zufällig trägt) ungerührt fortgeführt. Und nicht genug, Efraim ist ihr, um sich selbst noch zusätzlich zu demütigen, nachgeschlichen und hat ihrem Liebesspiel, an Keirs Wohnungstür lauschend, beigewohnt. „Sie haben es immer auf diesem Schaukelstuhl miteinander getrieben. Der Stuhl knarrte“ (E, 463).

Ähnlich verhält es sich mit einer in diesem Themenkomplex zu verortenden Anomalie, die nicht die Unzuverlässigkeit des Erzählers markiert, sondern den prozessualen, suchenden Charakter des Erzählens. Efraim erinnert sich an das Zusammenleben und -arbeiten mit Meg, die als Fotografin in der gemeinsamen Wohnung ein Labor hat: „[…] die Anwesenheit Megs in der Wohnung hat mich nie gestört“ (E, 143), doch erregte ihn zuweilen „der Gedanke, daß Meg unter ihrem Laborkittel nichts oder so gut wie nichts anhatte […] – es konnte also doch geschehen, daß ihre Anwesenheit in der Wohnung mich in der Arbeit störte“ (E, 144). Hier nimmt der reflektierende Erzähler einfach eine voreilige Verallgemeinerung über das Zusammenleben des Ehepaars im Erinnerungsprozess zurück. Die widersprüchliche Formulierung dient damit nicht der Etablierung eines unzuverlässigen, sondern eines reflektierenden Erzählers, der seine Irrtümer, weil es ihm ja um eine authentische Darstellung seines Ich geht, dokumentiert und darum auch im endgültigen Text stehen lässt.

Anders allerdings ist folgender Sachverhalt zu beurteilen, der, wiewohl er meist nur beiläufig erwähnt und auch erst nur vage angedeutet wird, eine symptomatische Bedeutung hat (also einen zentralen Stellenwert besitzt): Efraim begibt sich in den (am Sonntag leeren) römischen Presseclub, um dort zu onanieren, wobei er allerdings bald gestört wird.Footnote 14 Er unterdrückt oder verschleiert diesen Sachverhalt zunächst, und man könnte zu der Meinung gelangen, dass sein Aufenthalt in dem Presseclub ohne außergewöhnliche Ereignisse vorübergeht. Damit hätte Efraim durch Verschweigen etwas Falsches gesagt.

Es ist in theoretischer Hinsicht aufschlussreich, diese Anomalie der zuvor erwähnten gegenüberzustellen und genau zu beschreiben. Die jeweiligen Sachverhalte (Megs sexuelle Attraktion lenkt Efraim von der Arbeit ab vs. Onanieversuch im Presseclub) sind nicht von derselben Art, da nur der Onanieversuch ein singulärer Sachverhalt ist, während der andere Sachverhalt eine Generalisierung mehrerer Situationen darstellt. Auch ihr Stellenwert ist unterschiedlich, denn das Zusammenleben mit Meg liegt schon zehn Jahre zurück und wird nicht so häufig erwähnt wie die Episode im Presseclub, auf die Efraim immer wieder zu sprechen kommt. Ihr Status ist allerdings derselbe: Beide sind rein fiktiv in dem Sinne, dass sie nur in der erzählten Welt bestehen. Auf der Seite der Sachverhaltsdarstellung gibt es ebenfalls Gemeinsamkeiten. Implementation und Auflösung erfolgen auf der diegetisch-narratorialen Ebene, d. h. der Erzähler sorgt selbst für die Anomalie und ihre Rücknahme. Dennoch gibt es einen Unterschied bei der Implementation: Im ersten Fall besteht ein Teil der Anomalie in der offenen Negation, dass Meg ihn bei der Arbeit nicht gestört habe; im zweiten Fall besteht ein Teil der Anomalie darin, dass Efraim zunächst nichts über den Onanieversuch sagt. Ein weiterer Unterschied besteht in der Distribution von Implementation und Auflösung. Im ersten Beispiel fallen Implementation und Auflösung zusammen; im zweiten liegen mehrere Seiten dazwischen. Das scheint mir der Hauptgrund dafür zu sein, dass man nur dem zweiten Fall Unzuverlässigkeit zuschreiben kann. Wesentlich für diesen speziellen Fall ist allerdings, dass die Reichweite der Distribution auch hier nur äußerst eingeschränkt ist: Es geht um ein einziges singuläres Ereignis, das zwar mehrfach erwähnt wird und symptomatisch für Efraims sexuelle Verklemmtheit ist, dessen anomale Darstellung aber nur einen kleinen Teil des Textes umfasst. Implementation und Auflösung sind in einem eng umgrenzten Textabschnitt lokalisiert und machen auch nur einen minimalen Teil der erzählten Geschichte aus.

Analog verhält es sich mit dem zunächst verschwiegenen, aber immerhin angedeuteten Sachverhalt, dass Efraim sich Anna Krystek im Taxi unsittlich genähert habe (E, 236, 239). Während er zunächst als Grund für den ungeplanten Zwischenstopp bei einem Nachtlokal Annas unerwarteten Einfall angab, noch tanzen gehen zu wollen, und ohne weitere Erklärungen von einem „Minuspunkt“ spricht, den er sich im Taxi eingehandelt hat (E, 236), nimmt er den Grund drei Seiten später ausdrücklich zurück. Nun gesteht er, dass er sie im Taxi, ohne um Erlaubnis zu fragen, angefasst habe und dass dies der Grund für Anna gewesen sei, die Taxifahrt nach Neukölln schon in der Uhlandstraße zu unterbrechen (E, 239).

Efraim erweckt hier wie dort eine falsche Vorstellung von den Sachverhalten in der erzählten Welt. Die Erklärung dafür lautet jeweils, dass es ihm schwerfällt, für ihn unangenehme Wahrheiten einzugestehen und Verhaltensweisen offen anzusprechen, die ihm peinlich sind. Daher gehören diese kleinen Episoden zu dem Themenkomplex „Meg und Efraims Beziehungen zu Frauen“, dessen narratives Charakteristikum darin besteht, dass er sich nur im Fortgang des Schreibprozesses dazu überwinden kann, die für ihn unangenehmen Wahrheiten zu benennen. Mit Bezug auf den gesamten Themenkomplex ist Efraim allerdings nicht unzuverlässig, weil er nicht – im Gegensatz zu den beiden erwähnten Randepisoden – durch Verschweigen falsche Tatsachen präsupponiert, sondern die Frage, was ihn von Meg getrennt hat, den Text über bis fast zum Ende einfach offen lässt.

3.2 Themenkomplex ‚Efraims Text‘

i) Intention und Adressat: Warum schreibt Efraim und für wen? – Während der Erzähler im Rahmen des ersten Themenkomplexes hauptsächlich Informationen unterdrückt, gibt es mit Bezug auf den zweiten Themenkomplex, unter den die metanarrativen Einlassungen des Erzählers fallen, widersprüchliche Verlautbarungen des Erzählers zu prüfen. Efraim behauptet einerseits, er schreibe nur für sich selbst, und bekennt sich andererseits dazu, einen für die Öffentlichkeit bestimmten Roman zu verfassen.

Schon als Jugendlicher hatte Efraim literarische Ambitionen. Als er sich seines Bewerbungsgesprächs bei Keir im Rom des Jahres 1944 erinnert (damals wurden deutschsprachige Exilanten für alliierte Radioprogramme gesucht), notiert er, er habe Keir nichts „von meinen literarischen Versuchen“ mitgeteilt (E, 93). Diese Versuche standen also am Anfang, doch hörte er auf damit, als er bald nach seinem Schulabschluss Soldat wurde und für die Briten in den Krieg zog. Danach schrieb er ausschließlich als Journalist auf Englisch, und erst wieder mit seinem Berlinbesuch unternimmt er einen literarischen Schreibversuch auf Deutsch. Dessen Zeuge ist der Leser. Für Efraim trägt das literarische Schreiben offenbar nicht unbedingt eine Vorentscheidung darüber in sich, an wen es gerichtet ist, wohingegen das journalistische Schreiben für ihn immer adressatenbezogen ist. Diese Einstellung kann er zu Beginn seines Schreibversuchs, von dem er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, wohin er ihn führt, nicht ablegen. Ob er nur für sich selbst schreibt, weiß er noch nicht, auch wenn er wegen seiner journalistischen Gewohnheit nicht von einem potentiellen Leser absehen kann (vgl. E, 58).

Anna Krystek hält er für den Auslöser seines Schreibversuchs (vgl. E, 215 u. 245), aber möglicherweise hat sie nur eine Stellvertreterfunktion, denn er lernt sie kennen, als er einen Deutschen schlägt, der unbedacht und lachend die Phrase „bis zur Vergasung“ verwendet, um eine tolle Nacht zu beschreiben.Footnote 15 Es scheint aber noch mehr dahinter zu stecken, denn Keir bemerkt in jenem Telefonat, dass er schon länger „beschissene Literatur“ mache „[s]tatt Nachrichten“ (E, 19). Bereits mit seinem Wechsel nach Rom im Mai 1962 wollte Efraim seinen Beruf aufgeben (E, 64). Auch wenn die erschütternde Erfahrung, das erste Mal wieder in Deutschland zu sein und den Ort seiner Kindheit und seiner ermordeten Eltern zu besuchen,Footnote 16 fraglos dazu beitragen, dass er sein Buch zu schreiben beginnt, ist der Wunsch älter. Wie gesagt, er denkt bereits vorher an einen Berufswechsel, und auch seine journalistischen Texte mutieren schon eine Weile in literarische Richtung.Footnote 17

Insofern ist es nicht unpassend, wenn Efraim sagt,

daß diese Blätter, an denen ich nun seit Berlin sitze und mit denen ich auch literarische Absichten verfolge, – durchaus sollen sie ja ein Buch ergeben, jedenfalls irgend etwas Zusammenhängendes, mit dem ich mich entweder frei oder leer schreibe – […], daß sie mir den Geschmack an jenem einfachen Spaß, den mir der Journalismus bisher bereitet hat, allmählich verderben. Statt mir Spaß zu verschaffen, haben sie mich in etwas gestürzt, was ich als quälendes Vergnügen bezeichnen möchte. (E, 113)

In dieser Richtung gibt es eine Reihe weiterer Textstellen, die zwar nicht explizit Efraims Schreibintention benennen, aber doch darauf schließen lassen, dass es zuallererst Selbstverständigung ist, die ihn zum Schreiben drängt und die eventuell obendrein eine therapeutische Funktion hat. Am 14.11.1962 fliegt Efraim von Rom nach London. Er möchte Keir von seinem Berlinbesuch berichten, seinen Job quittieren und auch Meg besuchen. „Irgendwie hatte ich, als ich den Air Terminal verließ, die Vorstellung, ich müßte mir, – und zwar schreibend! –, über mein Verhältnis zu Meg klar werden“ (E, 117). Das tut er dann aber nicht, sondern schiebt ein „Memorial“ (ebd.) ein, das er erst im Winter in Rom verfasst hat und in dem er von seiner sexuellen „Hörigkeit“ (E, 118) berichtet.

Diese Andeutungen mögen zwar wiederum als Indikatoren für die Unzuverlässigkeit der Erzählerrede gelten, doch lassen sich keine Widersprüche erkennen. Der Erzähler problematisiert seine Rede und behauptet damit nichts Falsches. „In Rom habe ich noch dies und jenes gekritzelt, Reflexionen zumeist (vor denen ich mich eigentlich hüten sollte), bis ich begriff, daß ich mich mit allem, was ich schrieb, vor dem, was eigentlich zu schreiben war, drücken wollte: vor dem Protokoll meiner privatesten Dinge“ (E, 114). Was er sich zum Zeitpunkt seines Erlebens noch nicht eingesteht, fügt Efraim anhand des erwähnten „Memorials“ nachträglich ein und kann entsprechend folgendes Zwischenresümee ziehen: „Als ich den Presseclub verließ, habe ich mir fest vorgenommen, in diesen Aufzeichnungen über meine privatesten Dinge zu schweigen. Ich bedaure es, diesen Entschluß nicht durchhalten zu können“ (E, 120).Footnote 18 Später verleiht er seiner Hoffnung Ausdruck, dass ihm das Schreiben dazu verhelfe, „meine Position auszumachen“ (E, 215).

Diese Überlegungen nimmt der Erzähler später vor allem mit Hilfe des Lektors zurück, nachdem er durch die Vermittlung eines Kollegen Kontakt zu einem Verlag bekommen hat. Aber schon früher fügt er in Parenthese die Erkenntnis ein, „daß meine Schreiberei endgültig ihren privaten Charakter verloren hat. Sie ist für andere bestimmt“ (E, 128). An anderer Stelle wird dieser Gedanke endgültig zur Gewissheit: „Endgültig aus der Traum, ich schriebe nur für mich“ (E, 323).Footnote 19 In beiden Fällen werden diese metanarrativen Feststellungen in Passagen aufgenommen, die von Efraims Spaziergängen in London am 14. und 15.11. erzählen, aber es ist eine „Erkenntnis“, die er erst später verbalisieren kann, denn er hat sie „während der Jahre des Schreibens häufig aus den Augen verloren, aber ich habe sie nur verdrängt, nicht vergessen. Heute weiß ich, daß ich dem Buch nicht entrinnen werde“ (E, 324).Footnote 20

Man sieht, es handelt sich um einen Prozess der Selbstvergewisserung. Als der Kontakt zum Verlag angebahnt wird, nennt er selbst als Motivation für das Gespräch mit Verleger und Lektor die Frage, „die ich in meinem Manuskript immer wieder an mich selber richte: ob ich eigentlich über privaten Aufzeichnungen sitze oder eben doch über jener Sache, die Meg mit so schöner Sicherheit als dein Buch bezeichnet hat“ (E, 391). Es ist der Lektor Dr. Heckmann, der ihn dann dazu auffordert, alle Überlegungen zu streichen, die seinen Text als private Aufzeichnungen charakterisieren. Das nehme dem Erzähler keiner ab (E, 392). Wie selbstverständlich geht Heckmann davon aus, dass die Leser zwischen Autor und Erzähler unterscheiden; doch Efraim kann mit dem Unterschied nichts anfangen. Er beharrt darauf, einen subjektiv authentischen Text verfasst zu haben, aus dem erst der Verlag einen öffentlichen Text macht.Footnote 21

Man wird nach alldem zu dem Schluss kommen, dass der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Selbstverständigung und dem, ein Buch zu schreiben, keiner ist, da dieser Wunsch nach Selbstverständigung Teil des Buches ist und, umgekehrt, das Buch Mittel zur Selbstverständigung. Die beiden Wünsche bedingen sich gegenseitig. Es geht also gar nicht um die Frage, ob Efraim der alleinige Adressat ist oder ob er sich an ein Publikum wendet.

ii) Journalistisches vs. literarisches Schreiben. – Efraims metanarrative Reflexionen betreffen nicht nur die Position des Adressaten oder den Zweck seines Schreibens, sondern auch die Frage, ob oder inwiefern eigentlich wahr ist, was er erzählt. In der Gegenüberstellung von journalistischem und literarischem Schreiben, die Efraim vornimmt, setzt er einer verbreiteten Auffassung gemäß Journalismus mit Tatsachenbericht gleich und Literatur mit Erfindung.Footnote 22 Zugleich charakterisiert er sein literarisches Schreiben als den Tatsachen verpflichtet. Die Anomalie lässt sich in der Frage fassen, wie ein literarisch gemeinter Text den Tatsachen verpflichtet sein kann, wenn sein Autor der Ansicht ist, dass Literatur von Erfundenem handelt. Es ist also zu klären, ob Efraim den Anspruch durchhält und Tatsachen notiert (und, wenn ja, damit seine Auffassung von Literatur widerlegt) oder ob sich dieser Anspruch als unhaltbar erweist.

Als Efraim offenbart, dass sein Text mehrere Überarbeitungsstufen durchlaufen hat, zitiert er eine ältere Version, in der er über sich noch in der dritten Person und im Imperfekt schreibt (vgl. E, 57 f., 172). Da er also nicht spontan schreibt, sondern sein Schreiben reflektiert und Geschriebenes verwirft und ändert, gesteht er sich ein, „daß ich überhaupt ein Buch schreiben will, und nicht nur ein Konvolut persönlicher, nur für mich selbst bestimmter Blätter“ (E, 58). Er ist an dieser Stelle noch nicht sicher, ob er den Text weiterschreiben wird, und erklärt sich seinen adressatenbezogenen Stil mit seiner journalistischen Ader: „daß ich mir nicht vorstellen kann, ich schriebe nur für mich“ (ebd.). Ziele man lediglich auf Selbstverständigung, könne man es beim Nachdenken belassen, fügt er an. Und nun folgt eine fragwürdige Absichtserklärung: Da er (gleich seinem Chef) Literatur eigentlich nicht mag (wohl weil er sie als schlechtes Gegenteil von Nachrichten begreift), hat er die Absicht,

meinem Stück Literatur (wenn es denn schon ein Buch werden soll) die Form einer Nachricht zu verleihen. Vieler Nachrichten sogar, denn ich kann nicht die Schule verleugnen, durch die ich gegangen bin. Ihr Grund-Satz lautet, daß jeder Satz ein Faktum zu enthalten habe, eine Tatsache, oder mindestens eine Sache. (E, 59)

Daran möchte er sich halten, denn seine journalistische Prägung führt auch dazu, dass er sein Erzählverfahren, wie soeben erwähnt, ändert. Folgte er zunächst noch einfachen literarischen Konventionen, denen gemäß ein Roman in der Vergangenheitsform und in der 3. Person verfasst wird, wählt er nun die 1. Person Präsens. Denn „erst nach ein paar Wochen begriff ich, daß die List des Romans sich der Wahrheit des Berichts unterzuordnen hat […]“ (E, 172).Footnote 23 Obgleich Efraim damit seinen (besonders aus der Sicht der 60er Jahre veralteten Konventionen verpflichteten) literarischen Anspruch dem auf – vermeintlich, also aus seiner Sicht des literarischen Laien, unkünstlerische – Authentizität opfert,Footnote 24 zeigt sich durch den miterzählten mehrstufigen Textentstehungsprozess, dass auch diese grammatische Form (1. Person Präsens) keineswegs Authentizität verbürgt, sondern ihrerseits ein literarisches Verfahren ist. Dessen scheint sich Efraim allerdings nicht bewusst zu sein. Man wird Andersch unterstellen dürfen, dass er sich dieses Unterschieds sehr wohl bewusst war und Efraims Authentifizierungsverfahren als literarische Strategie nutzt.

Das heißt aber auch, dass man den Text mit Bezug auf Efraims Aussagen über seine Entstehung bzw. auf die stilistisch angedeutete Unmittelbarkeit bis zu dieser Textstelle für unzuverlässig erzählt halten kann. Es gibt daneben eine ganze Reihe von ähnlichen Anomalien, die sich im selben Sinne als Widersprüche rekonstruieren lassen. Manche löst Efraim sofort auf, manche erst später. Das hat System. Die Erklärung für diese Widersprüche liegt darin, dass es zu Efraims Schreibkonzeption gehört, seinen Text – aus seiner laienhaften Sicht – zu deliterarisieren und seine Fehler stehen zu lassen, um auf diese Weise den suchenden, nicht festgelegten Charakter seiner schriftlich niedergelegten Gedanken zu dokumentieren und damit die Authentizität seiner Überlegungen zu bezeugen. Seine Unzuverlässigkeit mit Bezug auf die Frage nach dem literarischen Charakter seines Texts ergibt sich daraus, dass er keine Vorstellung von der Literarizität seines Schreibens hat. Das ist nicht als axiologische Unzuverlässigkeit zu verstehen, denn es geht nicht um die Frage, ob er einen guten literarischen Text verfasst, sondern darum, dass er überhaupt einen solchen verfasst.

Zwei Beispiele seien angeführt, die dieses Ergebnis stützen. Mit Blick auf die angeblich fehlenden literarischen Qualitäten seines Textes kommt Efraim auf seine Brille zu sprechen, die zu haben für ihn eine wichtige Eigenschaft ist (E, 353). Von einem Schriftsteller verlangt er, dergleichen „präsent zu halten. Ich fürchte, das ist mir nicht gelungen, und es ist sicherlich zwecklos, das Versäumte nachzuholen, indem ich es irgendwo summarisch und isoliert darstelle“ (E, 354). Diese Passage dient zunächst wiederum dem vordergründigen Ziel, seinen Text als nicht-literarisch zu präsentieren. Zugleich aber erfüllt diese Textstelle genau den Zweck, den Efraim ihr abspricht. Er ist ja immer wieder auf seine Brille zu sprechen gekommen und tut es auch hier wieder. Es handelt sich um einen performativen Widerspruch bzw. um einen Fall von „discours-bezogener“ Unzuverlässigkeit (vgl. Kindt 2018).

Der folgende Fall ist analog. Ein frühes Ereignis in der Reihenfolge der Darstellung ist Keirs Anruf in dem Berliner Hotel, in dem Efraim abgestiegen ist. Während Keir darauf wartet, zu Efraim durchgestellt zu werden, und nicht merkt, dass das bereits geschehen ist, singt er „eine Strophe aus dem Lied von Mary Hamilton“ (E, 12). Efraim zitiert die vier Verse.Footnote 25 Er gibt dazu die Erklärung, dass mit der Hochzeit, „wedding“, die auf Mary Hamilton in Glasgow wartet, der Galgen gemeint sei, „weil sie ihr uneheliches Kind in einem schwachen Boot auf dem Meer ausgesetzt hat“ (E, 13). Dann aber fügt er hinzu: „Dabei fällt mir nichts weiter ein, als daß es einen berliner [sic!] Bezirk gibt, der Wedding heißt“ (ebd.). Abgesehen davon, dass hier nicht ganz klar ist, was wir als Leser hier nun von dem glauben sollen, das Efraim weiß oder versteht, lässt sich die Anspielung auf das Volkslied auf der Basis der gesamten Geschichte als Äquivalenz deuten: denn auch Keir hat sein uneheliches Kind sozusagen ausgesetzt, indem er es verleugnet hat, und es damit in einer Situation (im Jahr 1938), die sich kurz darauf als lebensgefährlich herausstellte, sich selbst überlassen. Dass in dem Lied ein literarischer Vorgriff vorliegt, der das zentrale Motiv einführt, teilt uns Efraim nicht mit. Er unterdrückt also eine Information. Ist er diesbezüglich also unzuverlässig?

Zwar gehört es zur Konvention, nicht jedes Motiv mit dem Hinweis zu annotieren, es handele sich hierbei um ein Leitmotiv, selbst wenn Efraim absichtsvoll einen literarischen Text mit Leitmotiven schriebe – daher ist nicht jeder Text, der seine literarische Technik verschleiert, unzuverlässig erzählt. Allerdings deutet nichts darauf hin, dass Efraim seinen Text nicht als literarischer Laie verfasst, obwohl er das, was er notiert, beständig selbst reflektiert. Er schreibt – vermeintlich – spontan und desorganisiert, und auch die Selbstbezüglichkeit drückt gerade dies aus. Das trifft für den Autor aber gerade nicht zu, wie in der Forschung einhellig festgestellt wurde. Andersch hat den Roman akribisch konzipiert. Was Efraim sozusagen zufällig literarisch macht, hat Andersch sorgfältig programmiert. Mit Bezug auf die literarische Technik ist Efraim also unzuverlässig: Nicht nur fingiert er die authentische Anmutung seines Textes (durch den Gestus des inneren Monologs), ohne zu verstehen, dass er ihn damit literarisiert; auch die Literarizität der anderen Verfahren zu begreifen, ist jenseits seines Horizonts. Gerade weil Efraim seinen Text thematisiert, ohne aber seine literarischen Qualitäten zu durchschauen (wie spätestens im Dialog mit dem Lektor deutlich wird), ist der Text mit Bezug auf diesen Sachverhalt unzuverlässig erzählt.

3.3 Themenkomplex ‚Judenvernichtung, jüdische Identität und Weltanschauung‘

Der in der Sekundärliteratur am stärksten berücksichtigte und zugleich umstrittenste Themenkomplex betrifft Efraims jüdische Identität und seine Einstellung vor allem zur Vernichtung der Juden. Etwas vereinfacht gesagt, verläuft die Frontlinie zwischen der einen Position, wonach Efraim das alter ego des Autors sein soll, und der anderen Auffassung, der gemäß Efraims Einstellung sich nicht mit der des Autors deckt. Als Sprachrohr seines Autors mystifiziere Efraim die Judenvernichtung und bagatellisiere sie. Man könnte dementsprechend auch sagen, dass den einen die Efraim-Figur als Anderschs Feigenblatt gilt, das seine, Anderschs, belastete Einstellung zu den Juden und dem Genozid mehr schlecht als recht verhüllt. Demgegenüber erkennen und anerkennen die anderen darin Anderschs Versuch, ein von der bundesrepublikanischen Gesellschaft damals tabuisiertes Thema literarisch gestaltet und in Efraim eine Figur erfunden zu haben, die selbst gar nicht weiß, wie sie damit umgehen soll. Dies trifft auch auf neuere Beiträge zu (vgl. Uecker 2000 und Feuchert 2016), die zwar insofern eine vermittelnde Position einnehmen, als sie Andersch moralisch zu billigende Absichten zugestehen, aber zugleich dazu tendieren, die literarisch-ästhetische Umsetzung im Roman für, zumindest partiell, verunglückt zu halten.

i) Die zentrale Kritik. – Der schärfste Angriff gegen Efraim und seinen Autor stammt von W. G. Sebald. Unter Berufung auf die damals neuen Ergebnisse des Andersch-Biographen Stephan Reinhardt (1990), wonach Andersch während der Kriegsjahre die Scheidung von seiner ersten Frau, die eine jüdische Mutter hatte, vorantrieb, um in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden, und dadurch das sie schützende Band der Ehe auflöste, macht Sebald auf die Parallelen zu den Figuren in Efraim aufmerksam.Footnote 26 Für Sebald ist Keir Horne, der seine Tochter verleugnet, Anderschs eigentliches, aber verstecktes alter ego. Dies sei „in der Textanlage sozusagen um eine Ecke verschoben und dargestellt in einer Weise, die es, so paradox das klingen mag, dem Autor erlaubt, davon abzusehen, daß er mit ihr an das Trauma seines eigenen moralischen Versagens rührt“ (Sebald 1999 [1993], 153). Stattdessen „wählt er sich Efraim zu seinem Stellvertreter. Genauer gesagt, er versetzt sich in ihn hinein und breitet sich rücksichtslos in ihm aus, bis es, wie der Leser allmählich realisiert, einen George Efraim gar nicht mehr gibt, sondern bloß noch einen Autor, der sich an die Stelle des Opfers manövriert hat“ (ebd., 153 f.).

Einen Beleg dafür sieht Sebald in Efraims angeblich sorglosem Umgang mit der Sprache. Er sei gleich „auf der Höhe des zeitgenössischen Jargons“, obgleich die Wiederaneignung dieser Sprache anders hätte verlaufen müssen“ (ebd., 154). Dem scheinen die etlichen sprachreflexiven Passagen in Efraims Text direkt zu widersprechen, in denen sich der Erzähler kritisch mit dem Jargon seiner deutschen Zeitgenossen auseinandersetzt. Doch Sebald findet einen Weg, seine These dagegen zu immunisieren: Es müsse „Andersch doch aufgefallen sein, daß er den richtigen Ton für George Efraim nicht ganz getroffen hat, denn er läßt ihn zwischenhinein – prophylaktisch sozusagen – auf seine Anfälligkeit für die neuen idiomatischen Redewendungen seiner alten Landsleute zu sprechen kommen.“ Das aber seien „rationalisierende Eingriffe“, die nur nachträglich bemänteln sollen, was ohnedies offen zutage liege (ebd., 155).Footnote 27

Man muss Sebalds Position nicht im Detail ausbreiten, um zu erkennen, dass es ihm um ein moralisches Problem geht. Man kann ihm, der vielleicht mehr als Literat denn als Wissenschaftler spricht, einen Literaturbegriff konzedieren, der entgegen dem geltenden Wissenschaftsverständnis gerade nicht zwischen literarischen und moralischen Fragen trennt. In der Tat sind die („verschobenen“) Parallelen zwischen Leben und Werk nicht von der Hand zu weisen. Und dennoch hat sich – in dieser Frage auch bei Autoren, die Andersch gegenüber eher kritisch eingestellt sind – inzwischen mehrheitlich die Position der Andersch-Verteidiger durchgesetzt, wonach ihm diese Parallelen nicht als erneutes moralisches Versagen angekreidet werden, sondern als Versuch, sich seinem eigenen früheren Versagen mit den Mitteln der Literatur zu stellen.Footnote 28 So heißt es bei Markus Joch (2011, 277): „Andersch suchte eine Möglichkeit, sich dem biographischen Makel zu nähern, ohne für die Leser in der Negativfigur Horne erkennbar zu sein.“Footnote 29

Sebald nennt Efraim, wie zitiert, Anderschs „Stellvertreter“. Diese Auffassung teilt er mit der, bis auf einige Ausnahmen, gesamten frühen, namentlich der literaturkritischen Rezeption. Auch Ruth Klüger geht davon aus, wenngleich ihre Kritik so formuliert ist, als sei sie sich der anderen Möglichkeit bewusst: Die „Kritik an Efraims Gedanken setzt allerdings voraus, daß Efraim ein verläßlicher Beobachter ist“ (Klüger 1994 [1985], 21). Als solcher, fährt sie (ebd.) fort, nämlich als „gescheiter, anständiger Jude kann er sich Ansichten leisten, die aus dem Munde eines nichtjüdischen deutschen Zeitgenossen dem Publikum nicht so leicht zumutbar wären.“ Die Efraim-Figur ist laut Klüger ein Mittel zur Legitimation von Ansichten, die aus dem Mund eines Deutschen, gleich ob real oder fiktiv, anstößig wären. In ihren Augen wird eine jüdische Identität mit ihrer Leidensbiographie nicht nur für etwas instrumentalisiert, womit sie gar nichts zu tun hat, sondern für etwas, das ihren spezifischen Interessen unmittelbar widerspricht: „Andersch nimmt die Autorität des Opfers in Anspruch für die Feststellung, daß es keine feststellbare Ursache für Auschwitz gab“ (ebd., 22). Woran sich Klüger stößt, ist Efraims Zufallstheorie: „Der Zufall tritt an die Stelle der Verbrecher, über deren Taten der Erzähler keine Erklärungen wünscht“ (ebd., 21). Klügers Position ist im Wesentlichen durch zwei Charakteristika gekennzeichnet, von denen die Annahme, dass Efraim mit Blick auf seine Äußerungen über den Zufall ganz im Sinne Anderschs (bzw. des Werks) spreche, schon erwähnt wurde. Das andere Charakteristikum besteht darin, dass sie auch die Zufallstheorie selbst in einer ganz bestimmten Weise auffasst. Wie später noch ausgeführt wird, kann darunter mehreres verstanden werden. Aber Klüger (1998, 178) versteht darunter nur eines: das Hinnehmen der Judenvernichtung. „Wenn es aber nur Zufall war, dann erübrigen sich alle Fragen nach den Ursachen, Folgen und Umständen der Judenverfolgung.“

Daher kommt sie zu folgendem Urteil: „Der erfundene Jude entlastet den Leser, der sich nun nicht weiter mit Auschwitz auseinandersetzen muß und dem trotzdem die Genugtuung wird, er habe sich damit auseinandergesetzt“ (Klüger 1994 [1985], 21). Selbst Zeitzeugin und Auschwitz-Überlebende, sieht Klüger in Efraim ein Stück fingierter Zeugenliteratur und misst den Text an diesem Maßstab, einem Maßstab, den sie selbst geeicht hat. Zur moralischen Kritik an Efraims Einstellung, in der sie nur die eines Täters, aber nicht eines Opfers erkennen kann, tritt die Kritik an der mimetischen Qualität, wie sie auch schon Reich-Ranicki vorgetragen hatte. Das Problem der jüdischen Identität ist ihrer Meinung nach in Efraim unangemessen dargestellt.Footnote 30

Die Identifikation Efraims mit dem Autor bzw. von Efraims Einstellungen mit jenen des Autors ist nicht völlig abwegig. Nicht nur die erwähnten Ausführungen zur Verschlüsselung der Namen durch den Erzähler mögen dazu beigetragen haben, sondern auch diverse Eigenschaften Efraims, die er mit Andersch teilt. So gehört zwar Erhard Schütz zu denjenigen, die Efraim nicht mit Andersch identifizieren; er benutzt aber die Parallelen als Begründung für ein eher negatives ästhetisches Urteil, denn die Figur bleibe dem Autor in manchen Dingen zu nahe (z. B. sind in Efraims Kollegen Anderschs Bekannte Gustav René Hocke und Sebastian Haffner zu erkennen), weshalb das, was eigentlich nur gegen die Figur Efraim spricht, doch auch gegen den Roman spreche (vgl. Schütz 1980, 77).Footnote 31 Mit anderen Worten, die Dissoziation von Autor und Erzähler sei in ästhetischer Hinsicht nicht konsequent durchgehalten, die Parallelen von Autor und Erzähler konterkarierten die Eigenständigkeit der Erzählerfigur.

ii) Widerlegung. – Ehe ich zu dem eigentlich interessanten Problem komme, was genau unter Efraims Zufallstheorie zu verstehen ist und welche Funktion sie im Roman hat, möchte ich – auch unter Zuhilfenahme der Sekundärliteratur – die Hypothesen entkräften, Efraim vertrete a) die Auffassungen seines Autors und fungiere b) als eindeutiger Sympathieträger.

Schon Nancy Lauckner (1975) interpretiert Efraim unter der Maßgabe, wie authentisch die Figur ist. Sie teilt die jüdischen Figuren in der deutschen Nachkriegsliteratur in mehrere Typen ein. Efraim gilt ihr als Repräsentant des Rückkehrer-Typus (mit Bezug auf einzelne Sachverhalte wie Sprachbewusstsein/-verhalten, Reaktion auf die Umgebung, Konfrontation mit der Vergangenheit usw.), und sie hebt dabei durchweg die Ambivalenz der Figur hervor. Auch ihre Zwiespältigkeit ist für sie ein Beleg für die Authentizität der Figur (vgl. Lauckner 1975, 181 f.). Sie erkennt einen Bedeutungszusammenhang zwischen Efraims äußerem Verhalten der Rastlosigkeit, seiner ungefestigten inneren Einstellung und seiner Haltung gegenüber der Judenvernichtung: „The frequent changes of time and place parallel Efraim’s constant fluctuation in attitude […]. His ambivalent personality and the principle of alternation in his novel reflect his fruitless quest for a meaning to the destruction of European Jewry“ (ebd., 182).Footnote 32

Nicht zuletzt Irene Heidelberger-Leonard hat vor Klüger auf die Doppelbödigkeit der Efraim-Figur aufmerksam gemacht. Aber auch Schütz (1980, 71) stellt bereits fest:

Efraim ist durch und durch zwiespältig und widersprüchlich angelegt; er schwankt zwischen kühler Nüchternheit und sentimentaler Larmoyanz. Er behauptet von sich, kein Moralist zu sein […], sein Tun ist jedoch moralistisch begründet. Seine Verhaltensweisen und seine Überlegungen dazu dementieren sich fortwährend wechselseitig. Er […] übt beständig Sprachkritik, […] ist aber oft genug bedenkenlos salopp und unpräzise in seinen Formulierungen […].

Schütz fährt fort mit der Angabe von weiteren Ambivalenzen, die die Literaturkritik irritiert haben. Er bietet allerdings noch keine Erklärung für Efraims Widersprüche an, sondern belässt es bei der Festlegung Efraims auf einen widersprüchlichen Charakter: „[Efraim] entzieht sich den Ansprüchen, die hierzulande an einen Juden gestellt werden, entweder als Ankläger oder als Verzeihender – jedenfalls eindeutig – aufzutreten; er hingegen kann weder Haß empfinden, noch Absolution erteilen, schon deshalb, weil er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist“ (ebd., 72). Diese Beobachtungen lassen sich mühelos durch Textbeispiele ergänzen, die diejenigen neutralisieren, die Efraim einen sympathischen Charakter attestieren, der Anderschs Ansichten vertritt. So ist nicht zuletzt Efraims verklemmtes Verhalten Frauen gegenüber auch unter den in 1960er Jahren vorherrschenden Geschlechterbeziehungen alles andere als über jeden Zweifel erhaben. In Rom hält er z. B. Beziehungen zu einer Prostituierten, weil er in ihrem Beisein ungestört an Meg denken kann (E, 351 f.), und lässt sich von Pornographie stimulieren (E, 453). Aber auch Andersch selbst ist im Nachwort zu seinem letzten Erzählwerk Der Vater eines Mörders dem Eindruck entgegen getreten, er habe mit Efraim ein Selbstportrait abgeliefert: „Efraim [ist] durchaus nicht mit mir identisch, sondern ein ganz anderer als ich es bin – darauf muß ich bestehen.“Footnote 33

Schütz (1980, 71) nimmt seine Ausgangsbeobachtung, dass das, „was im Roman mißfällt oder provoziert, […] als Eigenheit der Figur Efraim“ zu verstehen sei, durch seine auf eine ästhetische Wertung abzielende Wendung zurück: Was gegen Efraim spreche, lasse sich wegen der vielen Parallelen zum Autor gegen den Roman wenden (ebd., 77). Trotzdem deutet er eine Richtung an, in der eine Erklärung für Efraims seltsame Äußerungen wie für seinen ambivalenten Charakter liegen könnte: „[…] Efraim schwankt doch höchst unglücklich zwischen der Behauptung des Zufalls und der Suche nach Sinn. Seine ‚Theorie‘ des Zufalls entwickelt er mit derartig hartnäckiger Penetranz, daß sie geradewegs zu dem wird, was sie verneinen soll: Sinn“ (ebd., 72).

Eigenartig ist, dass diejenigen, die besonders hart mit Efraim ins Gericht gehen, diese älteren Positionen so gut wie gar nicht berücksichtigen. Dabei haben sie die Beweislast, denn sie identifizieren entgegen Anderschs anderslautender Selbsteinschätzung a) Efraims Ansichten mit denen Anderschs und legen b) die Figur auf eindeutige Überzeugungen fest, obgleich, wie gezeigt, eine Menge Indizien für Efraims Zwiespältigkeit sprechen. Um die Hypothesen a) und b) zu stützen, hätte man das, was gegen sie spricht, aufnehmen und widerlegen müssen.

iii) Weitere Interpretationen von Efraims Zufallstheorie. – Was für andere Auslöser ihrer Entrüstung war und noch ist, lässt sich auch als Aufforderung zum Weiterdenken verstehen. Efraims Zufallstheorie führt zum Kern des Problems, wie vor allem Heidelberger-Leonard zu erklären versucht hat.Footnote 34 Efraim weiche dem Problem aus, das sich durch die Judenvernichtung, die nicht einmal zwanzig Jahre zurückliegt, und durch den Antisemitismus einem Menschen wie ihm stelle, der ansonsten kaum eine Verbindung zu seinen jüdischen Wurzeln spürt. Sein Judesein wird also durch die Geschichte und seine Mitmenschen, für die vor allem er ein Jude ist, an ihn herangetragen, obgleich es eigentlich für ihn ohne diese Impulse kaum eine Bedeutung hätte. Efraims Zufallstheorie ist für Heidelberger-Leonard (1986, 150) das Mittel, mit dem er das, was an ihn von außen herangetragen wird, abzuwehren versucht: „Seine Zufallsphilosophie leistet ihm sozusagen erste Hilfe; sie schützt ihn lange davor, sich seiner eigenen Zerrissenheit zu stellen.“

Sein spontaner Gewaltausbruch allerdings „entlarvt“ nach Heidelberger-Leonard (1981, 192) Efraims um Haltung bemühtes Selbstbild, das er in seiner Selbstbespiegelung gibt. Auch wenn der Begriff nicht fällt, attestiert sie dem Erzähler Unzuverlässigkeit in Bezug auf seine wahren Gefühle. „Er hasse niemanden. Solche Beteuerungen von Neutralität lassen sich nur als Verdrängungsversuch erklären; im Grunde besagen sie genau das Gegenteil von dem, was sie aussagen, nämlich das Leiden an einer unheilbaren Wunde“ (Heidelberger-Leonard 1986, 164). Auch andere Figuren dienen dazu, Efraims neutralisierende, relativierende Äußerungen zu korrigieren. Dass das ausgerechnet Deutsche sind, mag Befremden auslösen (vgl. Hahn 2011, 374). In beiden Fällen sind es Deutsche, die noch nahe dran sind an den Untaten ihrer Mitbürger und Verwandten, selbst aber offenkundig anders denken. Frau Heiß wohnt im Haus der Familie Efraim, das zu besuchen er sich während seines Berlinaufenthalts überwindet und später durch einen Anwalt restituieren lässt; und Werner Hornbostel, Annas Freund, ist der Sohn eines Nazis. Im Text findet sich ein Hinweis, der sich als Absicherung gegen die Kritik verstehen lässt, dass gerade deutsche Figuren als Garanten der richtigen Normen fungieren: Efraim wundert sich selbst über die guten einsichtigen Deutschen, die er trifft.Footnote 35 Das mag einerseits einmal mehr seine gezwungen positive Haltung demonstrieren (und dient ihm zugleich als Anlass, über den Zufall zu schwadronieren), andererseits aber signalisiert der Autor damit, dass diese „Zufälle“ alles andere als selbstverständlich sind.

Andere Fälle sind nur vordergründig neutrale Beobachtungen, da Andersch seinen Efraim sie mit Hilfe von unbeabsichtigten Andeutungen widerlegen lässt. Während eines Spaziergangs durch Berlin fällt Efraim ein elegantes Paar auf. Ziemlich unvermittelt schreibt er: „Ich denke sonst nicht bei jedem Menschen, den ich in Berlin sehe, darüber nach, ob er ein Mörder sein könnte“ (E, 31). Auch wenn er diesen Gedanken von sich weist, beweist die Tatsache, dass er ihm eigentlich ohne jeden Anlass in den Sinn kommt, genau das Gegenteil. „Ich hasse niemanden“ (ebd.), schließt er seine Ausführungen darüber ab. Er möchte sich mit dem Gedanken an die überall frei herumlaufenden Mörder nicht konfrontieren. Entsprechend verhält er sich bei Frau Heiß. Sein Benehmen könnte man schon für Servilität halten. Er will seine Gesprächspartnerin entlasten, will ihr mit seinem unerwarteten Auftauchen im Haus seiner Familie kein schlechtes Gewissen machen. Es stellt sich aber heraus, dass er gar nicht so unerwartet ist, denn Frau Heiß weiß, in was für einem Haus sie wohnt, das ihrem Mann nach seiner Berufung an die Universität „vom Senat zugewiesen“ wurde (E, 45). „Ich habe immer gewußt, daß nocheinmal [sic!] jemand kommen wird“, sagt sie (E, 44). Efraim macht ihr gegenüber deutlich, dass er keine Ansprüche auf das Haus stellt, zumindest nicht gekommen ist, um sie zu verjagen. Sie solle sich auch nicht schlecht fühlen, nur weil sie in einem Haus wohnt, dessen ehemalige Besitzer vergast wurden. Enteignung habe es immer schon gegeben, meint Efraim (E, 46).Footnote 36 Daraufhin weist ihn Frau Heiß zurecht. Sie nimmt die Salvierung, die ihr Efraim, großzügig oder eben servil, anbietet, nicht an. Ganz ähnlich reagiert später Hornbostel, als Efraim seine Zufallstheorie zum Besten gibt und, wie Hornbostel ihn anredet, „den erhaben Gleichgültigen“ gibt (E, 229). Hornbostel weist darauf hin, dass die Judenvernichtung und jeder einzelne Mord gewollt worden seien. Efraim aber hält Hornbostels Kommentar für eine kindliche Reaktion. Er könne das Unerklärliche nicht akzeptieren.

Das führt nun endlich zu der Frage, inwiefern die Shoah für Efraim unerklärlich – sprich: ein Zufall – ist und was der Roman damit sagen will. Wenn sich, wie erwähnt, in Bezug auf die biographische Frage, wie Anderschs Motive zu bewerten sind, die Kontroverse zu einem Konsens entwickelt hat, so lehnen in der Frage nach der Rechtfertigung von Efraims Ansichten jüngere Interpretationen von Efraim Heidelberger-Leonards Position ab. Zwar erkennen sie – wiederum ohne den Begriff zu nennen – mehr oder weniger an, dass Efraims Position nicht die von Andersch ist und dass man auch als Leser nicht alles kaufen soll, was Efraim anbietet; doch sehen sie darin ein ästhetisches Manko, anstatt der Frage nachzugehen, was damit eigentlich gemeint sein könnte.

Hahn (2011) und Feuchert (2016) nehmen dem Roman die Unzuverlässigkeit seines Erzählers letztlich nicht ab, auch wenn sie sie dem Erzähler zumindest partiell zugestehen. Feuchert meint, dass die Widersprüche letztlich die Glaubwürdigkeit erhöhten,Footnote 37 während Hahn (ebd., 362) die Schwächung des Erzählers, die aus seinen fragwürdigen Äußerungen resultiert, als eine Schwächung „ästhetischer Wahrheit“ von „Anderschs Judenbildern“ begreift. Das ist auch schon die Pointe von Uecker (2000), der zwar mit Heidelberger-Leonard nachdrücklich an der Unzuverlässigkeit Efraims festhält und konzediert, dass seine „Meinungen und Erklärungen mehr über ihn selbst aussagen als über die Welt, in der er lebt“ (ebd., 501), aber – nun gegen Heidelberger-Leonard – bemängelt, dass es ihm nicht vergönnt sei, seine Fehler auch einzusehen. Dadurch werde der jüdische „Erzähler zum Demonstrationsobjekt verdinglicht“ (ebd., 502). Nach Hahn (2011, 374) „beschädigt das das Eingedenken“. Zwar sieht auch Hahn die moralische Ambivalenz, hält dies aber für einen Grund dafür, dass die Figur „inkonsistent“ sei; die „Infragestellung des Erzählers“, die er (ebd., 375) dem Autor attestiert, fasst er als moralisch fragwürdigen Angriff auf die jüdische Identität auf.

iv) Efraims Zufallstheorie: Erste Textstellen. – Zählt man die Passagen, in denen sich Efraim zum Zufall äußert – mal in nur wenigen Sätzen, mal über mehrere Seiten hinweg –, so finden sich über dreißig. Der zentrale Stellenwert dieses Motivs bzw. seine Bedeutsamkeit ist unstrittig, ganz im Gegensatz zu seiner Bedeutung bzw. Funktion.

Eingeführt wird das Motiv in dem Telefonat mit Keir, von dem Efraim am Anfang seiner Aufzeichnungen berichtet. Er macht sich zum Anwalt des Zufalls, womit er sich in einen Gegensatz zu Keir bringt, den er zuvor als schicksals- und vernunftgläubig charakterisiert hat:

Ich hingegen glaube weder an das Schicksal noch an die Vernunft. Es gibt nichts als ein großes Durcheinander. Dinge geschehen oder geschehen nicht, Menschen kommen und gehen, tun dies oder jenes, worauf irgend etwas oder nichts geschieht. Immer ist alles möglich oder unmöglich. Es gibt keine Gesetze und keine Freiheit. (E, 17)

Wie man sieht, geht es hier nicht nur um einen einzigen Sachverhalt, sondern um eine ganze Reihe von miteinander zusammenhängenden Sachverhalten, die in der Summe Efraims Weltanschauung ausmachen. Insbesondere aus seinen folgenden Ausführungen geht hervor, dass er eine naturalistische Auffassung von der Welt und vom Menschsein hat. Auch wenn der Ausdruck „Zufall“ hier noch nicht fällt, drückt sich in seinen Worten genau das aus, was er an anderer Stelle seine „Zufalls-Theorie“ nennt (E, 189). Zwei generelle Sachverhalte, an die Efraim glaubt, lassen sich zunächst festhalten: 1. Der Lauf der Welt folgt keinem Plan; 2. Der einzelne Mensch hat keinen Einfluss auf den Gang der Dinge, weil er selbst Einflüssen unterliegt, über die er keine Kontrolle hat.

Bestätigung findet diese Interpretation von Efraims rudimentären Andeutungen in der Episode, in der Efraim an den Tatort eines Doppelselbstmords zweier Schülerinnen durch Gas gelangt.Footnote 38 Die Kinder seien zufällig gestorben, meint er. Ereignisse, die außerhalb der Gewalt der Mädchen lagen, hätten ihre Entscheidung beeinflusst. Hätten andere Lichtverhältnisse in der Zeit vor ihrer Entscheidung geherrscht, wäre es vielleicht nicht zu der Tat gekommen. Kleinste Änderungen von Umweltbedingungen hätten in den Gehirnen die Bereitschaft ausgelöst, den Gashahn aufzudrehen.Footnote 39 „Alles ist Zufall“, folgert er (E, 36).

Die zentralen Sachverhalte, um die es hier geht, sind nicht nur genereller Art; im Unterschied zu den bislang erörterten Fällen in den vorangegangenen Abschn. 3.1 und 3.2 handelt es sich nicht um Sachverhalte, die allein der Fiktion bzw. der erzählten Romanwelt vorbehalten sind, sondern sie sind zugleich auch Gegenstand von Hypothesen über unsere Welt. Das erweitert das Spektrum möglicher Anomalien, die sich nun nicht mehr nur aus intratextuellen, sondern auch aus transtextuellen Komponenten zusammensetzen können.Footnote 40

Entscheidend für die Kritik am Roman ist Efraims Verknüpfung seiner Zufallstheorie mit Auschwitz. Als er seinem Elternhaus einen Besuch abstattet und die gegenwärtigen Bewohner kennenlernt, relativiert er – wie bereits dargestellt – indirekt die Judenvernichtung, indem er zunächst nur den Aspekt der Enteignung erwähnt und dieses Ereignis als historisch normal bezeichnet (E, 46). Den Bericht vom Ende des Besuchs beschließt eine Reflexion, die nicht als Bestandteil der Erinnerung an die Visite im Elternhaus ausgewiesen ist. Auch er selbst hätte vergast werden können, überlegt Efraim: „Natürlich wäre ich das Opfer eines reinen Zufalls geworden. Es ist ein purer Zufall, daß vor zwanzig Jahren jüdische Familien ausgerottet wurden […]“ (E, 49). Es hätten auch andere Familien ausgerottet werden können, und – das ist nicht unwichtig – dies könne im Prinzip jederzeit wieder geschehen: „Ebensogut wie Frau Heiß und ihre Töchter sich in einer halben Stunde zum Mittagessen setzen, könnten sie auch zu ihrer Ermordung abgeholt werden, wenn es der Zufall so wollte“ (E, 50).Footnote 41

Für sich betrachtet, klingen diese Äußerungen Efraims befremdlich. Dabei folgt diese Ansicht aus seinem naturalistischen Weltbild, dem gemäß alle menschlichen Handlungen von natürlichen Faktoren bestimmt sind. Wie der Doppelselbstmord sich für Efraim aus den Umweltbedingungen ergibt, so müssten sich auch die Untaten von Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern und -aktionen aus den natürlichen Bedingungen erklären lassen. Zufall wäre demnach eine Chiffre für Efraims naturalistisches Weltbild. So zufällig wie der Selbstmord der Mädchen ist für Efraim demnach auch der Massenmord an den Juden.

Die zu erklärende Anomalie besteht also darin, dass Efraim eine zwar simple, aber nicht völlig abwegige Theorie über die Welt hat und dass aus dieser allgemeinen Theorie mit Bezug auf eine Eigenschaft der Geschichte dieser Welt ein Satz zu folgen scheint, der für die meisten unannehmbar ist. Die widerstreitenden Behauptungen, aus denen sich die Anomalie zusammensetzt, beziehen sich nicht nur auf die internen Verhältnisse der erzählten Welt, sondern auch auf unsere Welt. Was Efraim behauptet, rührt an unsere Überzeugungen. Er widerspricht nicht sich selbst (jedenfalls nicht an dieser Stelle), sondern uns.

Nun sieht es zunächst so aus, als könnte man mit Hilfe einer einfachen logischen Folgerung den Fall abschließen: Da aus etwas Wahrem nichts Falsches folgen kann, widerlegt die unwahre Konsequenz die Wahrheit der gesamten Theorie. Efraim wäre mit Bezug auf die Zufallstheorie unzuverlässig. Leider ist es nicht so einfach, weil der Satz von der Zufälligkeit der Judenvernichtung nicht unbedingt falsch ist, sondern nur inakzeptabel. Überdies gibt es Textstellen, denen zufolge sich Efraim gegen jegliche Erklärungsversuche der Judenvernichtung wendet. Für ihn hat Auschwitz noch eine andere Dimension, die nicht „soziologisch, historisch, medizinisch“ erklärt werden kann (E, 257).Footnote 42 Solche Erklärungsversuche schreibt er seinen „linken Kollegen“ zu, deren „Rationalismus“ ihn „bestürzt“ (ebd.). „Jedoch gibt es keine Erklärung für Auschwitz“ (E, 229), heißt es auch an früherer Stelle schon, und zwar ziemlich genau in der Romanmitte. Es folgen Zeugenaussagen aus dem Auschwitz- bzw. Treblinka-Prozess, Zitate, die unkommentiert in den Text montiert sind. Sie berichten von grauenvollen Morden, die offensichtlich aus Spaß bzw. Mordlust begangen wurden (E, 229 f.).Footnote 43

Es scheint also ein Missverständnis zu sein, wenn man Efraim unterstellt, er naturalisiere den Völkermord an den Juden. „Wer mir Auschwitz erklären möchte, der ist mir verdächtig“ (E, 230), sagt Efraim und erteilt allen Erklärungsversuchen einmal mehr eine Absage. Doch gerade gegen diese Position Efraims macht Klüger (s. o. 3.c.i) ihre Kritik geltend. Efraim wende sich gegen rationale Erklärungen und mystifiziere damit die Shoah. Dies führe dazu, jegliche Auseinandersetzung mit den schrecklichen historischen Tatsachen abzubrechen. Die Absage an Erklärungen sei letztlich gleichzusetzen mit dem Verzicht auf Verantwortung bzw. dem Verzicht, die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Das mag im Allgemeinen zutreffen. Aber ist es auch das, was mit Efraims Äußerungen gemeint ist? Es gibt eine Reihe von verwandten Textstellen, die eine andere Deutung von Efraims Weigerung nahelegen. Es ist keineswegs zwingend, dass – im Gesamtkontext des Romans – Efraims Weigerung, Auschwitz zu erklären, Denkfaulheit oder gar stillschweigendes Anerkennen bedeutet. Man muss unterscheiden: zwischen dem, was Efraim bewegt und sagt, und dem, was der Roman – etwa auch unter Zuhilfenahme anderer Figuren – damit sagen will.

Dass Efraim Erklärungen ablehnt, hat andere Gründe. Es hängt damit zusammen, was er unter Erklärungen versteht. Offenbar erhalten für Efraim die Dinge durch Erklärungen einen Sinn. Durch Erklärungen werden Dinge fassbar, auch die Judenvernichtung. Mit der Absage an Erklärungen ist die Abwehr des Gedankens verbunden, das Unfassliche des Massenmords an den Juden fassbar zu machen. Es ist gerade seine Empörung, die aus Efraims Verweigerung einer Erklärung spricht, denn durch Erklärung wird etwas zurecht gestutzt, das jedes (moralische) Maß sprengt. Was heute Konsens ist, bildete sich damals erst langsam heraus: die Überzeugung, dass die fabrikmäßige Ausrottung eines Volks innerhalb kürzester Zeit bis auf weiteres historisch einmalig ist. Verortet man den Roman in der Zeit seiner Entstehung und berücksichtigt den damaligen Debattenstand, dann dürfte es nicht vermessen sein, die Behauptung zu wagen, dass er daran beteiligt war, in Deutschland überhaupt erst ein allgemeines Bewusstsein für die alles übersteigende Monstrosität des Holocaust zu schaffen – und zwar gerade dadurch, dass Efraim Erklärungen als Relativierungen auffasst.

Efraims Ablehnung von Erklärungen ist gerade kein Teil seiner Zufallstheorie. Mehr noch, sie ist sogar mit ihr inkompatibel. Wäre die Zufallstheorie wahr, könnte man ja die Judenvernichtung auf der Basis der natürlichen Bedingungen erklären – analog zu Efraims absurdem Erklärungsversuch des Doppelselbstmords. Es ist gerade der Widerstreit zwischen subjektiven und objektiven Faktoren, der in Efraim tobt und der mit seiner Persönlichkeit tief verwoben ist. Efraims Vergangenheit ist dadurch gekennzeichnet, Subjektivität zu dezimieren. Das bewahrt ihn davor, sich mit dem Leid genauer auseinanderzusetzen. Seine Wendung vom journalistischen zum literarischen Schreiben geht indes mit der Anerkennung seiner Subjektivität einher.Footnote 44

Efraim sieht nicht, dass seine Zufallstheorie selbst als Erklärung dienen kann. Erklärung ist für ihn offenbar etwas, das auf ein Ziel gerichtet ist. Wogegen er sich wendet, sind Ideologien, deren Erklärungen teleologisch funktionieren und allem, was geschieht, den Sinn abzugewinnen versuchen, die Welt dem ideologischen Ziel einen Schritt näher zu bringen. Seine Zufallstheorie ist hingegen reduktiv, weil sie den subjektiven Faktor – den Willen – ausklammert. Einen Willen zu haben ist etwas, womit er sich bis zuletzt schwertut.

v) Textstellen gegen die Zufallstheorie. – So irritierend Efraims zitierte Ansichten sind, sie sind weder sein letztes Wort noch bleiben sie im Roman unwidersprochen. Trägt man all das, was gegen Efraims eigene Relativierung (vor allem im Dialog mit Frau Heiß) spricht, zusammen, kann man zeigen, dass nicht Efraims Zufallstheorie durch den Roman als ganzen vertreten und gerechtfertigt wird, sondern deren Widerlegung – zumindest im Zusammenhang mit der Frage nach der Beurteilung der Judenvernichtung. Efraim ist mit Bezug auf diesen Teilaspekt des Themenkomplexes ein unzuverlässiger Erzähler, da einige seiner Behauptungen über die Judenvernichtung angemessen bzw. glaubwürdig sind und andere – wie die zitierten – nicht im Einklang damit stehen. Für diese letzteren lassen sich aber diegetische Erklärungen finden, die zeigen, warum er sich relativierend äußert.

Ein Grund für die Schwierigkeit ist, dass die Zufallstheorie nicht in allen Belangen falsch ist. Wichtig bei der Interpretation ist der Umstand, dass Efraim seinen Glauben an den Zufall ausdrücklich als Folge der Shoah entwickelte. Den Glauben an Sinn oder Schicksal hat er verloren, „als ich erfuhr, wie meine Eltern umgekommen sind“ (E, 89, vgl. auch E, 262). Gerade diese Erkenntnis – ihr Übermittler war ausgerechnet Keir, den er im Krieg kennenlernte und der es ihm ermöglichte, vom Front- in den Pressedienst zu wechseln – raubte ihm den Glauben an Schicksal und Sinn. Seitdem lehnt er sinnstiftende Erklärungen ab. Den Massenmord an den Juden führt er selbst also als Begründung für seine Überzeugung an, dass die Welt ein vom Zufall regiertes Chaos sei, und wendet die Tatsache der massenhaften Vergasungen explizit gegen jegliche Sinnsuche (E, 179 f.).

Der Verzicht auf Sinn und die damit verbundene Anerkennung der Herrschaft des Zufalls und des Chaos ist im Übrigen keine Vorstellung, die er besonders mag. „Ich möchte keine Unordnung. […] Die Welt muß doch noch etwas anderes sein als ein aus Zufällen zusammengesetztes Chaos“ (E, 119), sagt er mit Bezug auf seine ihn belastende Bindung an Meg. Er fühlt sich ausgeliefert und spürt in sich den Drang, die Überzeugung der Zufälligkeit des Daseins zu überwinden. An anderer Stelle spricht er auch über sein „Gefühl der Trauer darüber, daß ich an nichts weiter glauben kann als an den Zufall und das Chaos“ (E, 258).

Die Zufallstheorie ist also nicht einmal für Efraim positiv besetzt. Sie ist für ihn eine leidvolle Konsequenz aus der Erfahrung einer nie dagewesenen Grausamkeit. Mag die Zufallstheorie auch dazu dienen, die Leiderfahrung zu minimieren, so führt sie doch gerade nicht dazu, alle Unterschiede zu nivellieren. Als Efraim erfährt, dass Annas Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen ist, fragt er sich kurz, „ob sich das Ende von Frau Krystek mit dem Tod meiner Mutter vergleichen ließe“ (E, 343). Doch weist er diese Vorstellung umgehend zurück, denn „wir haben Frau Krystek nicht getötet, wie man Ungeziefer ausrottet“ (ebd.). Dieser Unterschied ist ihm nicht gleichgültig. Im Selbstgespräch verhält er sich anders als im Dialog mit deutschen Zeitgenossen wie Frau Heiß und Hornbostel. Allein mit sich selbst muss er nicht sich in derselben Weise entgegenkommen, wie er seinen Gesprächspartnern entgegenkommen zu müssen meint, um sie von ihrem schlechten Gewissen zu entlasten. Hier stößt seine Strategie, das jüdische Leid herunterzuspielen, offenkundig an ihre Grenzen. „Es ist ein Unterschied zwischen Zyklon B und einer Bombe, die vom Himmel fällt.“ (E, 344) – Vielleicht kann man sogar sagen, dass die Gleichgültigkeit, die er zuweilen vorschützt, sich auf ihn selbst bezieht, nicht aber auf das, was den Juden als Juden angetan wurde.

Efraim ist also selbst doch gar nicht restlos von seiner Zufallstheorie überzeugt. Einmal tritt er hinaus auf seinen Hotelbalkon in Rom und beobachtet Bauarbeiter, die einen „Travertin-Balken“ für eine Fenstereinfassung einbauen. „Ich begreife, daß ich einen Vorgang betrachte, der gegen meine Zufalls-Theorie spricht. Diese Männer sind nicht zufällig, sondern seit tausend Jahren römische Maurer“ (E, 189). Auf diesen Steinbalken kommt Efraim noch mehrmals zurück. Zwar halten sich seine Reflexionen darüber quantitativ gesehen in Grenzen; trotzdem ist darin ein Schlüssel zu Efraims Gedankengebäude und damit zum Roman zu sehen. Auch der Verleger hebt dieses Motiv und seine Bedeutung hervor: „Die Arbeit ist für Sie dem Zufall entzogen“ (E, 395). Einem konkreten Ding wird durch Arbeit eine bestimmte Funktion zugewiesen – darin ist der Einwand gegen die Allgemeingültigkeit des Zufalls zu sehen. „Erst jetzt, da sie gelegt worden sind, werden Travertin-Balken dem Zufall überantwortet“ (E, 190). Nun sind sie den Zufällen der Welt überlassen. Das Haus, in dem der Travertin verbaut ist, kann zerstört werden und der Balken unversehrt bleiben, verkauft werden usw. „Wie ein unzerstörbares Ornament zieht sich die Arbeit durch das Chaos“ (ebd.). Das Handwerk des Bauens ist dem Schreiben analog, wie der Verleger feststellt, und die schöpferische Arbeit der Sinnersatz: „Häuser bauen, Schuhe machen, Bücher schreiben – das ist das einzige, dem Sie Notwendigkeit zuerkennen“ (E, 395). Das heißt aber gerade nicht, dass er der Kunst „Ewigkeitswert“ beimäße (E, 191). Es ist vielleicht mehr das Tun, in dem er den Sinn sieht, als das fertige Resultat.

Efraim bezeichnet Anna als „die Initialzündung zu meinem Buch“ (E, 215). Nachträglich verleiht er also einem Zufall einen Sinn. Gleichzeitig ist er sich der Willkürlichkeit dieser Festlegung bewusst. Darüber wird aber ein Umstand der Zufälligkeit entzogen: nämlich der Umstand, dass er überhaupt ein Buch zu schreiben anfängt. „Irgendein anderes Ereignis hätte es irgendwann einmal ausgelöst“ (ebd.). Was auch immer der zufällige Auslöser gewesen wäre – dass ein Buch aus ihm heraus will, ist für Efraim kein Zufall.

Von zentraler Bedeutung ist die bereits erwähnte Erleuchtung, die Efraim auf dem Londoner Russell Square erfährt. Sie besteht darin, dass die Zufallstheorie das eine ist, aber dass sie nicht handlungsleitend für ihn ist. Auch wenn er letztlich nicht wissen kann, ob sie wahr oder falsch ist – er weiß nun, dass er sein Buch schreiben wird, dass er sich durch die Tätigkeit des Schreibens der Theorie, die in Handlungsunfähigkeit mündet, entzieht. „Jedenfalls werde ich mein Paar Schuhe machen“, sagt Efraim (E, 323) und meint damit, dass die Antwort auf die Frage einerlei ist, ob seine Existenz nur zufällig sei, Hauptsache, er tut etwas, ringt sich zu etwas durch, bekennt sich zu sich selbst, wovon das Buch – und darin die Erzählung von dieser Erfahrung auf dem Russell Square – eben Zeugnis ablegt.

Doch dieser am Ende des 4. Kapitels gefasste Entschluss wird noch einmal ausgebremst. Es folgt eine Unterbrechung. Das (überwiegend im Präteritum erzählte) 5. Kapitel über die Berliner Ereignisse mit Anna wird eingeschoben. Darin wird ein weiteres zentrales Erlebnis festgehalten, nämlich die Begegnung mit dem Grabstein von Luise Zoufal, dessen Inschrift ein Zitat aus dem 16. Psalm ist und zugleich das zweite Motto des Romans abgibt: „Das Los ist mir gefallen aufs Lieblichste“ (E, 7, 333). Der Name weckt natürlich Assoziationen mit dem für Efraim zentralen Wort. Aber der Name spricht noch eine andere Sprache, nämlich tschechisch. Er ist – für tschechische Familiennamen nicht ungewöhnlich – von einem Partizip abgeleitet, in diesem Fall vom Verb „zoufat“: verzweifeln. In ihrem Namen werden die falsche Oberflächenbedeutung ‚Zufall‘ – Efraims behelfsmäßige Welterklärung und Selbstschutzformel – und die eigentliche Bedeutung ‚Verzweiflung‘ – Efraims Gemütszustand, der ihm selbst nicht bewusst ist – zusammengebunden.

Und auch in anderer Hinsicht passt Luise Zoufal zur Thematik des Romans. Sie gehörte zu den vertriebenen böhmischen Protestanten, die in Preußen Asyl erhielten. Wie Efraim war sie Angehörige einer Minderheit, und wie er hatte sie Gelegenheit zu emigrieren. (Zugleich steht sie in Opposition zu ihm, weil es nur wenigen Juden zu entkommen gelang.)

Zwischen Anna und Efraim gibt es einen Dissens hinsichtlich der Bedeutung des Sinnspruchs. Efraim muss lachen, als er die Inschrift liest, „verständnisinnig und spöttisch“ (E, 333). Efraim erklärt, dass sie schicksalsgläubig gewesen sei und „daß es ihr Schicksal war, lieblich zu leben“ (ebd.). Anna, seine Begleiterin, hingegen meint, dass der Sinnspruch besage, Luise Zoufal habe ihr Schicksal freudig akzeptiert. Zwar lässt sie sich von der zweiten Bedeutung von „Los“ (das, was man zieht) irritieren, doch hält sie fest: „Sie hat gewußt, daß es [das Los, das Schicksal, das Leben] ein Zufall war, aber gleichzeitig hat sie den Zufall als ihr Schicksal hingenommen“ (E, 334).

Efraim kommentiert: „In Berlin hat mein großes systematisches Gedankengebäude über den Zufall und das Chaos zweimal einen Stoß erlitten“ (ebd.). Er meint die Unterhaltung mit Ludmilla am Vortag, in dem sie ihm von der Willensfreiheit des Menschen gesprochen hat (E, 414), und nun Annas Überlegung. Was für ihn immer ein Gegensatz war, Schicksal und Zufall, mochte ein und dasselbe sein.

Recht deutlich wird die Erklärung, dass der Zufall für ihn eine Ausrede ist, an folgender Stelle. Als er sich dem Haus von Keir nähert, schimpft er: „Irgendein idiotischer Zufall hat bewirkt, daß ich dieses Haus besser kenne als alle anderen Häuser auf der Welt“ (E, 401). Wie sich bald zeigt, hat er wie besessen seiner Frau Meg nachgestellt und dabei das Haus so gut kennen gelernt. Das war kein Zufall, sondern Resultat der Willensmenschen Keir und Meg, die ihre Interessen durchsetzen und sich nichts gefallen lassen.

Eine weitere Fehleinschätzung ist auch seine Ansicht, dass „der Zufall […] mir ein Stück Privateigentum geworfen“ habe (E, 458). Gemeint ist die Restituierung seines Elternhauses, die er wohl selbst betrieben hat – und nicht nur der Anwalt seines Onkels, wie er zunächst schreibt (E, 51). Efraim berichtet von Verhandlungen mit einem Immobilienmakler, die er selbst führt (E, 188). Und dann schiebt er zu Beginn des 6. Kapitels, als er seine Erzählung von seinen Londoner Erlebnissen fortführt, die Information ein, dass er den Anwalt später „von Rom aus gebeten“ habe, „die Restitution meines Elternhauses endgültig in die Hand zu nehmen“ (E, 382). Auch hier haben wir es wieder damit zu tun, dass Efraim erst an einer späten Textstelle einen Sachverhalt gesteht, von dem man vorher annehmen musste, dass er nicht besteht. Gab sich Efraim zunächst noch als passiver Mensch, dem alles gleichgültig ist, zeigt sich mehr und mehr, dass er aktiver ist, als es zunächst den Anschein hatte. Der Hintergrund für die Rückgabe des Hauses ist darin zu sehen, dass Efraim sich dadurch die für die Arbeit an seinem Buch nötige finanzielle Unabhängigkeit verschafft.

Schließlich endet das Buch mit der von Efraim selbst so bezeichneten „Marotte“, also der Zufallstheorie, die er offenbar – nun am Ende seines Buches angelangt – als widerlegt betrachtet: „[…] wenn alles auf Zufall beruhte, […] dann wäre es nicht nötig gewesen, mich so zu demaskieren, wie ich mich in der Tat demaskiert habe“ (E, 468 f.). Seine Arbeit am Buch ist das, was dem Zufall entzogen ist. Mit seinem damit verbundenen Eingeständnis seiner sexuellen Nöte und Abhängigkeiten verfasst er aber nicht einfach nur ein weiteres Buch, das neben vielen anderen in einem Regal stehen wird, sondern er befreit sich damit auch von einer Bürde. Das Buch macht einen Unterschied: vor allem für Efraim selbst. Mit seiner Fertigstellung fühlt er sich anders. Es ist also nicht egal, es zu schreiben. Es ist mithin selbst das beste Beispiel für einen zähen Willen, der sich in der dreijährigen Entstehungszeit gegen allerlei Selbstzweifel und den Zufall behauptet.

vi) Verbleibende strittige Textstellen. – Im Lichte dieser Ausführungen lassen sich auch die verbleibenden Textstellen zum Zufall interpretieren, denen nicht immer eine direkte Widerlegung folgt. Zum Teil bleibt es dem Leser überlassen, die entsprechenden Schlussfolgerungen selbst zu ziehen. So gehört zu Efraims Zufallstheorie auch die Kontingenzerfahrung nationaler Identität: „Wenn ich bedenke, wie absurd es ist, daß ich Deutscher war und danach Engländer wurde, während ich immer noch Jude bin, kommt es mir vor, als könnte ich ebenso gut Russe oder Massai-Neger oder ein Wolf oder ein Auto sein“ (E, 179). Weil die Zugehörigkeit zu einer Gruppe für ihn kontingent ist, kann er auch keine Gruppen wie die Deutschen oder die Juden als solche lieben (E, 184). Und doch macht er eine Ausnahme: „Ich liebe die Juden, weil sie verfolgt wurden“ (ebd.), also nicht als solche, sondern aufgrund ihrer besonderen Leidensgeschichte. An anderer Stelle gibt er überdies noch einen anderen Aspekt an, der für ihn sein persönliches Judesein ausmacht: die Tradition Spinozas, den ihm sein Londoner Onkel Basil nähergebracht hat (E, 262). Sowohl die überindividuelle Erfahrung des historischen Leids als auch die individuelle Prägung durch seinen Onkel und einen Philosophen machen Efraim zu einem Juden und widerlegen die Kontingenzerfahrung, die aus seiner Zufallstheorie folgt.

Es gibt weitere Textstellen, die vordergründig Efraims Sympathien für den Zufall ausdrücken. Efraim ist ein begeisterter Leser von Samuel Beckett. In einer Buchhandlung findet er das gerade neu auf Englisch erschienene Wie es ist, zitiert daraus und kommentiert: „[S]olche Litaneien der Gleichgültigkeit aus einer Welt des Chaos und des Zufalls sagen mir außerordentlich zu“ (E, 317). Indes spricht Efraim anschließend von einem „leichten Gefühl des Unbehagens“ (ebd.), das er „dennoch empfand“. Dies deutet einen Zwiespalt an. Das Verhältnis Anderschs zu Beckett war durchaus ambivalent. Zwar hat er als Rundfunkredakteur ihn gefördert, andererseits hat er sich auch gerade in Verbindung mit Efraim kritisch zum Nouveau Roman geäußert und in Abgrenzung davon an der Konzeption des psychologischen Romans festgehalten (s. u. 4.b).Footnote 45 Vor diesem Hintergrund ist Efraims Begeisterung für Beckett ein weiteres Beispiel dafür, dass Andersch seine Figur mit Ansichten ausstattet, die er nicht teilt. Andersch bekennt sich gerade zur Einzigartigkeit des menschlichen Innenlebens und stellt diese Auffassung indirekt derjenigen gegenüber, die er zuvor Efraim mit seiner naturalistischen Zufallstheorie in den Mund gelegt hat:

Auf ganz andere Weise als die Psychologie als Wissenschaft – die ich hoch schätze – hat der Roman seit Jahrhunderten dieses innere Leben sichtbar gemacht, und die sogenannte Krise des Romans besteht in nicht anderem als in der Frage, ob dem Menschen noch psychische Realität zugestanden wird oder nicht. In der Tat wäre es mit dem Roman, mit der Erinnerung in Erzählung, in dem Augenblick zu Ende, in dem man die Menschen endgültig in eine Art von Ameisen verwandelt hätte. (Andersch 1987 [1974], 117 f.)Footnote 46

Gegen diese Auffassung scheint Efraim sich abermals zu wenden, als er sich Gedanken über Keirs verkorkstes Leben macht (E, 441 f.). Keir, so lautet Efraims Überlegung, habe ihn nach Berlin geschickt, damit er von seiner Schuld erfahre, die Keir selbst, längst kenne. Ein Gespräch darüber blockt Keir allerdings konsequent ab. Efraim versteht Keir nicht, wenn er, auf sein eigenes naturalistisches Weltverständnis anspielend, meint, „eine vorübergehende charakterliche Indisposition“ habe Keir möglicherweise daran gehindert, „sich Esthers anzunehmen“ (E, 442). Umgekehrt: Keir scheint, so jedenfalls Efraim, an seine Schuld zu glauben, und das heißt eben, scheint sich 1938, in der Vorgeschichte des Romans, anders entschieden zu haben, als nötig und richtig gewesen wäre.

Am Ende seines Aufenthaltes in London wartet Efraim auf Meg. Man kann auch sagen, dass er auf den Zufall wartet. Wenn sie früher als geplant zurückkommt, ist für ihn das ein Zeichen, dass sie ihn will. Sie kommt nicht, und er kehrt nach Rom zurück. Es ist, zu diesem Zeitpunkt, bezeichnend für ihn, dass er selbst nichts unternimmt, als nur zu warten. Er wartet auf den Zufall, auf „irgendeine zufällige Veränderung ihres Terminkalenders“ (E, 454). Anstatt selbst eine Entscheidung herbeizuführen, überlässt er sie Meg und interpretiert sie als Zufall. Als die fremde Entscheidung ausbleibt, weicht er von seinem Weg nicht ab. Auch das ist eine Entscheidung, aber Efraim reflektiert das nicht mehr.

vii) Konsequenzen. – Das bloße Zusammentragen der Textstellen, in denen sich Efraim über den Zufall und verwandte Begriffe äußert, führt zu dem Eindruck, dass seine Einstellung insgesamt unausgewogen ist.Footnote 47 Das liegt vor allem daran, dass seine wiederholten Äußerungen über die Zufälligkeit der Welt und die Konsequenzen, die er daraus zieht, in einem Spannungsverhältnis zu anderen Äußerungen stehen, die zum einen zeigen, dass er nicht in jeder Hinsicht seiner Theorie folgt, und die zum anderen seine eher negative Bewertung der Zufallstheorie offenbaren. Diese Unausgewogenheit – man kann auch von Anomalien sprechen – gilt es zu erklären. Zwei grundlegende Möglichkeiten lassen sich unterscheiden: Entweder diese Anomalien besagen (1), dass die im Rahmen des Werks (aber nicht im Geiste Efraims) für zutreffend befundene Zufallstheorie dazu dient, Efraims moralische Unvollkommenheit zu demonstrieren (das ist ungefähr die Überzeugung der Kritiker), oder sie besagen (2), dass Efraims Handeln und Ansichten (wie etwa über die Judenvernichtung) die Unzulänglichkeit seiner Theorie beweisen. An der Formulierung lässt sich sehen, dass hier eine axiologische Komponente im Spiel ist. Die Zufallstheorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie insofern amoralisch ist, als sie den Moralaspekt ausblendet. Das legen die Kritiker des Romans diesem als Unzulänglichkeit seiner Konzeption aus. Nach meiner Lesart ist dies gerade die Pointe des Romans. Efraims Ausblendung des moralischen Aspekts macht ihn auch axiologisch unzuverlässig. Es gehört zur Konzeption des Romans, dass Efraim Dinge sagt, die der Leser nicht hinnehmen, sondern in Frage stellen soll – und denen im Übrigen, wie gezeigt, auch Efraim selbst widerspricht. Und schließlich ist die Theorie, dass der menschliche Wille durch die natürlichen Umgebungsbedingungen determiniert sei, auch nach Anderschs Auffassung falsch, weil der Mensch für ihn prinzipiell die Freiheit hat, sich jeweils anders zu entscheiden.

Man muss aber nicht die Überzeugungen des Autors ins Feld führen. Man kann auch auf der Basis des Textes dafür Argumente finden. Variante 1) hat das Problem, dass, träfe sie zu, man erklären können müsste, warum sich Efraim auch negativ über die Zufallstheorie äußert und warum er ihr zuwider handelt (also schreibt, sich von seinen sexuellen Abhängigkeiten lösen möchte und so manches ihn eben nicht gleichgültig lässt, wie es die Zufallstheorie in konsequentester Auslegung verlangte). Genau dieses Defizit gleicht Variante 2) aus. Was nach 1) unerklärt bleibt, wird in 2) selbst zur Erklärung. An Efraims Beispiel zeigt sich, dass es Möglichkeiten gibt, die trostlose Zufälligkeit der Welt zu überwinden bzw. nicht an ihr zu Grunde zu gehen. Seine Theorie ist zu einfach für eine komplexe Welt. Gerade so etwas Schreckliches wie die Shoah zeigt, dass daraus, dass so etwas wieder geschehen könnte, nicht folgt, dass alles gleich oder einerlei ist. Aus der Kontingenz der Shoah folgt nicht, dass sie nicht einmalig ist. Ihre historische Einmaligkeit leugnet Efraim nicht. Aber er schließt eben auch nicht aus, dass künftig etwas geschehen kann, dass sie in Sachen Grausamkeit noch übertrifft (s. u. 4.a). Efraim hält an den Unterschieden fest, wie an seinem Vergleich seiner vergasten Mutter mit Annas bei einem Bombenangriff umgekommener Mutter deutlich wird. Die Annahme der Zufallstheorie zieht Gleichgültigkeit und Unterschiedslosigkeit nach sich. Aber dieser Konsequenz verweigert sich der Roman und damit auch Efraim, der ihn ja schreibt. Dagegen spricht auch Anderschs eigenes Credo, wie es z. B. in Die Kirschen der Freiheit niedergelegt ist.

Als Ergebnis lässt sich mithin festhalten, dass Efraim mit Bezug auf den Geltungs- oder Wirkungsbereich seiner Zufallstheorie unzuverlässig ist. Dieses Ergebnis findet Bestätigung in einer Interpretation, die sich die vielen Parallelen zwischen Anderschs Werk und der Philosophie Sören Kierkegaards zunutze macht. Danach ist in der Figur Efraim der Widerstreit zwischen (zufälliger) ästhetischer Existenz und ethischer Existenz personifiziert. „Der Ethiker leugnet den Zufall nicht, aber indem er ihn als den ihm gemäßen Lebensumstand übernimmt, bewahrt er in dieser Wahl seine Freiheit“ (Raabe 1999, 147). Nach Raabe „dauert die ästhetische Existenz [Efraims] noch an“ (ebd., 177), da auf Efraims Selbsterkenntnis noch keine Handlung folge. Dies könne man an seinem unsteten Lebenswandel ablesen. Auch der Begriff der Maske finde sich bei Kierkegaard, der die ästhetische Existenz mit einem Maskenspiel vergleicht. Im Unterschied dazu „demaskiert“ sich Efraim in seinem Schreibprozess und „benutzt hier dasselbe Wort wie Kierkegaards Ethiker“ (ebd., 84).

Die eigentümliche Problematik dieses Themenkomplexes, die die Interpretation des gesamten Romans so schwierig wie interessant macht, besteht darin, dass die Anomalien, die Efraims Rede aufweist, mehrere Ebenen miteinander verbinden. Efraim äußert sich selbst, wie in den vorangegangenen Abschnitten en détail gezeigt, unausgewogen, seine Sachverhaltsdarstellung ist uneinheitlich. Was er für wahr hält (alles geschehe zufällig, und der Wille des Einzelnen mache keinen Unterschied), steht nicht im Einklang mit anderen seiner Überzeugungen (dass ihm eben doch nicht alles gleichgültig ist, dass es einen Unterschied zwischen Massenvergasungen gibt und Bombenwerfen, um einen Aggressor zu bekämpfen). Wägt man die verschiedenen Äußerungen Efraims gegeneinander ab, so spricht vieles dafür, dass er sich zunehmend von seiner Zufallstheorie distanziert. Letzte Gewissheit darüber, welche der Überzeugungen Efraims als falsch anzusehen sind, erreicht man schließlich mit Hilfe der Überzeugungen, die der Autor zu diesen Fragen hatte. Sie bestätigen die vorliegende Analyse, der zufolge die Zufallstheorie im Rahmen des Werks als unwahr aufzufassen ist.

3.4 Ergebnisse

Die ausführliche Darstellung hat eine kurze Zusammenfassung des bis jetzt Erreichten verdient. Es lassen sich drei Themenkomplexe identifizieren, die der Erzähler immer wieder anspricht: Liebe, Schreiben, Holocaust. Seine beiden Aufträge – der offizielle (politische Lage) und der private (Recherche nach Esther) –, mit denen die Handlung einsetzt, lassen sich diesen Themenkomplexen zuordnen. Die Suche nach Esther ist eng verknüpft mit dem Holocaust, der offizielle Auftrag nur der äußere Anlass dafür. Eine entsprechend geringe Rolle spielt er daher in seiner Geschichte, auch wenn die Kuba-Krise keineswegs zufällig den Hintergrund des Romans bildet (s. u. Abschn. 4.1). Viel wichtiger für Efraim selbst sind die Erlebnisse mit Anna Krystek in Berlin und mit Meg in London, die zum Themenkomplex ‚Liebe‘ gehören, und seine Schreiberfahrungen während der folgenden drei Jahre in Rom.

Betrachtet man die genannten Themenkomplexe, die im Text auf vielfältige Weise miteinander verwoben sind, zum Zwecke der Analyse getrennt, so lässt sich sehen, dass die Unzuverlässigkeit der Erzählerrede auf jeweils recht verschiedene Art und Weise realisiert ist. Im ersten Fall ist der Erzähler nur in Bezug auf einzelne Situationen, die sich dem Themenkomplex ‚Liebe‘ zuordnen lassen, unzuverlässig. So erweckt er kurzzeitig den falschen Eindruck, seine Taxifahrt mit Anna Krystek sei ohne Zwischenfälle abgelaufen, bis er zugibt, dass er sie ungefragt angefasst hat und auf ihren Widerstand gestoßen ist; ebenso gibt er zunächst einen unauffälligen Bericht seines Aufenthalts im römischen Presseklub, bis er gesteht, dass er dort onanieren wollte und dabei gestört wurde. In beiden Fällen verschweigt Efraim Sachverhalte, die – das wird durch Wiederholungen bald deutlich – für ihn von großer Bedeutsamkeit sind. Durch dieses Verschweigen gibt Efraim passagenweise ein Bild der Welt, das unzutreffend ist. Charakteristisch ist, dass er es selbst korrigiert und darauf verzichtet, Fehler und Korrekturen im Überarbeitungsprozess aus seinem Manuskript herauszunehmen.

Stellt man nun diese beiden Episoden zum gesamten Themenkomplex in Beziehung, so ergibt sich, dass ihre Erzählweise mit dem Verfahren der Unzuverlässigkeit ihn nicht dominiert. So symptomatisch und mithin zentral das Teilthema ‚Onanie‘ für Efraims psychische Kontur ist (er ist sexuell gehemmt, lässt sich mehr von Bildreizen als von der Wirklichkeit stimulieren, hat eher ein instrumentelles Verhältnis zu Frauen, ist bis zur Fixierung monogam, kommt mit Megs Polygamie nicht zurecht), so marginal ist die Erzählweise im Vergleich zur Erzählweise der sonstigen Sachverhalte, die zu diesem Themenkomplex gehören. Mit Bezug auf den gesamten Themenkomplex (Anna als Antidot zu Meg, Megs Verhältnisse mit Keir und Filmleuten usw.) lässt sich sagen, dass Efraim zwar bis zum Schluss auch zentrale Sachverhalte zurückhält, aber – und das ist der entscheidende Unterschied – in diesen Fällen durch das Unterdrücken von Information keine falschen Tatsachen behauptet, sondern sogar mehr und mehr Andeutungen auf Megs ständiges Fremdgehen in seinen Text aufnimmt. Die Erzählweise der beiden genannten Episoden hat daher keine besondere Bedeutung bzw. eigene Funktion. Die diesen Themenkomplex zusammenhaltende Funktion besteht darin, dass sich Efraim nach und nach für ihn bittere oder demütigende Ereignisse vor Augen hält und schreibend eingesteht.

Der zweite Themenkomplex besteht im Wesentlichen aus Efraims Reflexionen über sein Schreiben. Die Frage, die sich ihm selbst stellt, ist die nach dem Zweck seines Schreibens und, damit verbunden, nach dem Adressaten. Schreibt er nur für sich selbst? Oder für ein Publikum? Wen und was möchte er mit seinem Schreiben erreichen? Wenn man überhaupt Efraims diesbezügliche Äußerungen als Anomalien rekonstruieren kann, dann nur folgendermaßen: Efraim hält seine Aufzeichnungen für privat; andererseits bestimmt er sie zur Veröffentlichung. Doch handelt es sich bei seinen Antworten auf diese Fragen nicht um eine falsche Darstellung von Sachverhalten. Seine diesbezüglichen Aussagen, die seine Haltung zum Charakter seiner Aufzeichnungen ausdrücken, sind direkt an der Etablierung dieser Sachverhalte beteiligt. Die in Rede stehenden Sachverhalte existieren in der erzählten Welt nicht unabhängig von Efraim, weil seine Intentionen ein Teil dieser Sachverhalte sind. Wenn er an einer Stelle a zum Zeitpunkt t1 der Überzeugung X ist, dass seine Aufzeichnungen privat und nur für ihn selbst bestimmt sind, und an einer Stelle b (zu einem anderen Zeitpunkt t2) vom Gegenteil Y überzeugt ist, dann heißt das nicht (ohne weiteres), dass er an a fälschlicherweise X zum Ausdruck gebracht hat, sondern nur, dass er X später laut Textstelle b geändert hat. Dass er diese Änderung seiner Überzeugung selbst nicht als solche thematisiert oder die X widersprechende Überzeugung Y allein, sprechen nicht dagegen. Es spräche nur etwas dagegen, wenn es darüber hinaus einen Anlass zur Annahme gäbe, er habe laut a die Überzeugung X zum Ausdruck gebracht, obwohl er schon zu diesem Zeitpunkt t1 der ihr widersprechenden Überzeugung Y gewesen ist.

Anders verhält es sich mit Efraims Darstellung der Umstände der Textentstehung und weiterer Eigenschaften seines Textes. Der wichtigste Konflikt der Sachverhaltsdarstellung innerhalb dieses Themenkomplexes besteht darin, dass Efraim anfangs durch die Wahl seiner stilistischen Mittel vorgibt, seinen Text spontan zu verfassen, obwohl die Genese des Textes in mehreren Schritten erfolgt und der zu lesende Text Ergebnis eines komplexen Überarbeitungsprozesses ist. Nicht zutreffend sind außerdem seine Äußerungen über die literarischen Eigenschaften seines Textes. Er stellt sie in Abrede und versucht, alles zu vermeiden, was seinen Text literarisch machen könnte. Das gelingt ihm nicht, aber er hält doch daran fest.

Daher ist, wie schon zuvor, auch mit Bezug auf diesen zweiten Themenkomplex die Unzuverlässigkeit eine Art Epiphänomen, das einer anderen Funktion untergeordnet ist. Es geht um Literatur als einzig adäquates Mittel zum Ausdruck subjektiver Authentizität. Literatur leistet etwas, was journalistisches Schreiben gerade nicht vermag. Das beweist Efraims Text, aber nicht Efraim.

Im Rahmen des dritten Themenkomplexes erhält die Unzuverlässigkeit Efraims eine dominante Funktion. Seine Auffassung von der Welt wird von der Überzeugung beherrscht, dass alles, was sich ereignet, auf Zufall beruhe, und dass der Mensch dagegen nichts ausrichten könne. Efraims Erlebnisse zeigen indes, dass diese seine Auffassung von der Welt nicht die richtige ist. Der Mensch hat Einwirkungsmöglichkeiten und kann z. B. ein Leben retten. Aber Efraim schreibt bis fast zuletzt gegen diese Option an. Erst durch die Vollendung seines Buchs und der damit verbundenen Anerkennung seines Werks (im Sinne eines Ergebnisses seiner Tätigkeit oder Arbeit) gelangt er zu der Einsicht, dass das Schreiben ihn zu einer anderen Lebensauffassung gebracht hat und dass dies gegen die Allmacht des Zufalls spricht. Zu erkennen, dass die Zufallstheorie, die kein rein fiktiver Sachverhalt ist, sondern die erzählte Welt mit der realen verbindet, unzutreffend ist, ist der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte Efraims. Die Erklärung, warum er die Zufallstheorie lange Zeit für wahr hält, liefert Efraim selbst. Als er von Keir während des Krieges erfährt, was die Deutschen mit den Juden machen, verabschiedet er sich von dem Glauben an eine Bestimmung des Menschen und daran, dass es im Leben einen Sinn gebe. Die Sinnlosigkeit des Daseins ist für ihn identisch mit seiner Zufälligkeit. Der Zufall ist seine Ausrede, um sich mit dem, was ihm widerfährt, abfinden zu können. Der Glaube an den Zufall entbindet ihn davon, selbst Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und die Initiative für Veränderungen zu ergreifen. Mit dieser Überzeugung lebt Efraim zwanzig Jahre, bis die Begegnung mit Berlin, seiner Vergangenheit, Esthers unaufgeklärtem Schicksal, Anna Krystek und dem Grabstein der Luise Zoufal einen Bewusstwerdungsprozess in ihm auslöst, an dessen Ende die Annahme seines individuellen Geschicks steht.

Efraims Unzuverlässigkeit in dieser Frage besteht also in einer falschen, weil einseitigen Überzeugung. Die ständige Wiederholung dient der Provokation und Gegenrede sowie dazu, einen Spannungsbogen aufzubauen. Die Zurückweisung der Zufallstheorie, zu der Efraim erst ganz am Ende gelangt, ist das Ergebnis des Bewusstwerdungsprozesses, den Efraims Text zum Ausdruck bringt.

Blickt man abschließend auf die Realisierung unzuverlässigen Erzählens in Efraim, so ist es in Bezug auf den letzten Themenkomplex ein wesentliches Erzählverfahren, das den gesamten Text durchzieht. Die Schwierigkeit, das Verfahren als solches zu erkennen, besteht darin, dass die Anomalien, die es konstituieren, nicht auf die Fiktion beschränkt sind. Die Zufallstheorie ist keine rein fiktive Theorie, sondern eine, die auch in der Realität eine gewisse Plausibilität hat. Der für Unzuverlässigkeit notwendige Konflikt besteht nicht zwischen rein fiktiven Sachverhalten, sondern zwischen genereller Sachverhaltsaussage (alles ist Zufall), die auch in unserer Welt wahr sein könnte, und einzelnen Überlegungen Efraims, die dazu in Beziehung stehen, sowie der Widerrede einzelner Figuren, mit denen Efraim über den Zufall spricht. Daher ist es hilfreich, die Überzeugungen des Autors zu befragen, um zu einem Urteil darüber zu kommen, was mit Blick auf Efraims Zufallstheorie in der erzählten Welt der Fall ist.

4 Zwei weitere Kontexte: Zur Interpretation

In der ausführlichen Darstellung des letzten Unterkapitels wurde ersichtlich, inwiefern Efraim ein unzuverlässiger Erzähler ist. Dabei wurden nicht nur textinterne, diegetische Erklärungen gefunden (die Zufallstheorie als unvollkommenes Instrument, mit der Grausamkeit der Shoah subjektiv fertig zu werden), sondern auch eine offensichtliche textexterne Erklärung, die sich aus der Auffassung des Autors ergibt. Für Andersch war die Selbstermächtigung über das eigene Schicksal eine zentrale, ja existentielle Erfahrung. Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht nur Efraims über weite Strecken des Textes vertretene Einstellung als falsch erkennen, sondern auch seine schrittweise Loslösung davon gegen Ende der erzählten Geschichte beobachten.

Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich zwei Kontexte vertiefen, die die interpretative Durchdringung des Textes vorantreiben: einen textimmanenten und einen texttranszendenten. Der textimmanente Kontext bezieht sich auf ein spezifisches Motiv des Textes, und zwar den äußeren Anlass von Efraims Berlin-Reise; der texttranszendente Kontext ist der der Literaturgeschichte.Footnote 48

4.1 Die Weltlage im Hintergrund: Der drohende Atomkrieg

Eine Voraussetzung für die Geschichte, die im Roman entwickelt wird, ist die Ankunft des Protagonisten in seiner Geburtsstadt Berlin. Auf der persönlichen Ebene des Romans ist damit die Konfrontation Efraims mit seiner verdrängten Vergangenheit verknüpft. Auch der inoffizielle Auftrag, mit dem er nach Berlin geschickt wird, steht damit in enger Verbindung. Sein Chef Keir Horne möchte mit seiner Hilfe – vermeintlich – den Verbleib seiner leiblichen Tochter recherchieren, in Wahrheit aber so etwas wie Abbitte leisten für den Verrat, den er an ihr begangen hat, indem er den Juden Efraim entdecken lässt, dass seine Tochter dem Holocaust vermutlich nicht entkommen ist. Ruft man sich in Erinnerung, weshalb Efraim außerdem nach Berlin kommt, so ist noch der offizielle Auftrag zu nennen, dessentwegen er sich in Berlin aufhält: die Auswirkungen der Kuba-Krise an einem der anderen der frostigen Brennpunkte des Kalten Krieges zu beobachten. Auch dieser Auftrag steht in gewisser Weise mit der persönlichen Ebene in Verbindung. Hier ist er als Journalist gefragt, aber Efraim kann seinem Beruf nicht mehr viel abgewinnen. Dadurch wird diese Thematik im Rahmen der Romanbedeutung sozusagen entsemantisiert. Sie ist nur ein Vorwand, und zwar in doppelter Hinsicht: Sie ist Vorwand für die Entsendung nach Berlin, und sie zeigt Efraims Desinteresse an seiner beruflichen Tätigkeit. Somit scheint auch das literarische Motiv nur in dieser negativen Bedeutung zu bestehen, ein äußerlicher Anlass, um jemanden wie Efraim überhaupt mit einem halbwegs überzeugenden Grund nach Berlin zu versetzen und um einen Teil seiner privaten Lebenskrise zu motivieren. So gesehen, ist die Wahl der Kuba-Krise willkürlich. Es hätte jeder beliebige politische Anlass ausgereicht. Gerade in jener Zeit hätte es genug andere Anlässe gegeben, die als Ausgangslage hätten fungieren können: vom Bau der Berliner Mauer im Jahr vor der zentralen Handlung (Ende Oktober 1962) bis zur Berliner Rede John F. Kennedys im Jahr danach.

Die Wahl des Zeitraums und damit des Motivs ist jedoch nicht willkürlich. Das Motiv der Kuba-Krise erschöpft sich keineswegs in der beschriebenen negativen Funktion. Es ist stattdessen ganz wesentlich mit der zentralen Thematik des Romans verbunden, ohne dass es allerdings Efraim selbst auffällt: mit seiner Zufallstheorie und seinen Aussagen über den Holocaust. Vor dem Hintergrund der Kuba-Krise erhalten seine Ausführungen eine gesonderte Bedeutung.

Als Efraim am 25. Oktober 1962 in Berlin eintrifft, steuert die Kuba-Krise, deren Beginn man auf den 16. Oktober datiert, als der „ExComm“ genannte US-amerikanische Krisenstab erstmals zusammentrat, bereits auf ihren Höhepunkt zu.Footnote 49 Kennedy hatte eine als „Quarantäne“ bezeichnete Blockade der Insel angekündigt, die am 24. Oktober in Kraft trat. Obgleich Chruschtschow dies nicht akzeptierte, da eine Seeblockade ein kriegerischer Akt ist, drehten sowjetische Frachter ab. Am nächsten Tag jedoch wurde der sowjetische UN-Botschafter, der vor dem Sicherheitsrat die Stationierung sowjetischer Atomraketen auf Kuba leugnete, von seinem US-amerikanischen Kollegen vorgeführt, der großformatige Aufnahmen präsentieren ließ, die der Öffentlichkeit das Gegenteil bewiesen, „maßgeschneidert für die Kameras der Fernsehanstalten. Es war und ist eine in den Annalen der internationalen Diplomatie einmalige Demütigung“ (Greiner 2010, 83).Footnote 50

Danach häuften sich bei den Kontrahenten die Pannen, und am 27. Oktober drohte die Situation endgültig außer Kontrolle zu geraten, als ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug über Kuba von den sowjetischen Streitkräften abgeschossen wurde und der Pilot starb. Am selben Tag kommt es auch in Efraims Welt zu einem dramatischen Höhepunkt. Während der Party schlägt er einen der Besucher, der sich unbedacht des Ausdrucks „bis zur Vergasung“ bedient, um ein positives Erlebnis zu charakterisieren. Es handelt sich dabei um eines der zentralen Ereignisse des Romans, das nicht nur in seiner Symbolik schlagend ist, sondern auch als Auslöser für weitere Ereignisse fungiert, die eine eminente Bedeutung für Efraim haben, etwa die Bekanntschaft mit Anna Krystek.

Am nächsten Tag, dem Tag der Beilegung der Kuba-Krise, entschließt sich Efraim zum Aufschreiben dessen, was ihn bewegt. Damit beginnt sich der innere Knoten zu lösen, der sich in ihm immer stärker zugezogen hat. Die zeitliche Parallelisierung mit der Kuba-Krise ist demnach das eine; das andere ist, dass Efraims vermeintliche Relativierung des Holocaust im Kontext der Kuba-Krise besser zu verstehen ist. Mit dem drohenden Einsatz von Nuklearwaffen stand, rein quantitativ gesehen, eine noch größere Katastrophe bevor als der Zweite Weltkrieg inklusive der Ermordung der europäischen Juden und zahlreicher anderer Menschen. Andersch wählte die Kuba-Krise als Hintergrund für Efraims Vergangenheitsbewältigung, um anzudeuten, dass weitere Menschheitskatastrophen nicht nur theoretisch möglich waren. Dieser Hintergrund lässt darüber hinaus Efraims Zufallstheorie in einem noch schärferen Licht erscheinen, da er sie zusätzlich widerlegt. Die Shoah war ebenso wenig ein Zufall wie der Einsatz von Nuklearwaffen einer gewesen wäre, wenn er denn stattgefunden hätte, weil es Akteure gab, die ihn zuzulassen bereit waren und sich aktiv daran beteiligten, die Krise zu eskalieren. Durch das Motiv der Kuba-Krise wird nicht die historische Einmaligkeit des Holocaust als solchen relativiert, sondern auf die Wiederholbarkeit von Katastrophen kapitalen Ausmaßes hingewiesen. Mit diesem Motiv verliert der Holocaust im Rahmen des Romans den Charakter des Zufälligen, den ihm Efraim unzuverlässigerweise zuschreibt.

4.2 Die Literaturgeschichte: Max Frisch und Robert Neumann

Es ist natürlich nur ein geographischer Zufall, dass Andersch ebenso wie Max Frisch und Robert Neumann im Tessin wohnte. Er war sogar der erste von ihnen, der sich dort ansiedelte. Kein Zufall aber ist, dass beide, Frisch und Neumann, einen gewissen Einfluss auf Efraim nahmen. Es gibt sehr deutliche Hinweise, dass Frischs erste Nachkriegsromane für die Erzählkonzeption bedeutsam sind; Neumann, mit dem Andersch zunächst Probleme hatte (s. o. Kap. II.3.4), könnte in biographischer Hinsicht bei der Figurenkonzeption eine Rolle gespielt haben. Mit George Efraim teilt er die Eigenschaft, als Jude in die Emigration nach Großbritannien getrieben worden zu sein. Neumann gehörte wie Jean Améry zu denjenigen, die den Roman gegen die teilweise ätzende Kritik in Schutz nahmen. Anlässlich Reich-Ranickis Kritik hob Neumann in einem Leserbrief an die Zeit (1967) hervor, dass es ein Verdienst Anderschs sei, einen jüdischen Emigranten als Protagonisten gewählt zu haben, um auf diese Weise an etwas für Deutsche Unangenehmes zu erinnern in einer Zeit, als sonst kaum jemand sich um das jüdische Leid kümmerte, auch nicht „Anderschs Mitgrüpplinge“, also seine Kollegen aus der Gruppe 47, Neumanns Lieblingsfeinde (neben Hans Habe):

Was hat er [Reich-Ranicki] dagegen, daß Andersch von jüdischen Emigranten spricht? Wer sonst spricht von jüdischen Emigranten? Man hat hierzulande Anderschs Efraim wie Reich-Ranicki wie mir selbst das Exil, das Leben im Galut, im Elend der Fremde, vergeben und vergessen und will taktvollerweise gar nicht erst noch einmal daran erinnert sein.

Auch Anderschs Mitgrüpplinge haben bisher kaum mehr getan als Schmollmündchen zu ziehen gegenüber dem Dritten Reich. Da schien mir dieser ernsthafte Versuch eines Gaurisankars aus Sandstein, einen Juden darzustellen, eines ebenso ernsthaften Lobs wert – auch wenn er sehr viel eindeutiger mißlungen wäre. (Neumann 1967, 30)

Neumann hält Efraim für das Beste, was Andersch bis dahin geschrieben hat. Auf seine sonstigen Qualitäten geht er nicht weiter ein, charakterisiert ihn allerdings als „Produkt mehrjähriger Bemühung“ (ebd.) und untermalt damit die mehrmals im Leserbrief erwähnte (künstlerische) Ernsthaftigkeit, mit der Andersch seiner Meinung nach zu Werke ging.

Was, umgekehrt, Andersch von Neumann in literarischer Hinsicht hielt, lässt sich nicht sagen. Das Plebejische von Neumanns Erzählinstanzen dürfte ihn nicht sehr angesprochen haben, aber ihre Unzuverlässigkeit kann ihm nicht verborgen geblieben sein. Dafür hat er sich explizit zu Max Frischs Erzählen geäußert und auch das Spezifikum benannt, das es ihm angetan hat. Er bezeichnet es als zweifelndes Erzählen: Frischs „Qualität liegt nicht darin, daß er die Tagebuch- und die Ich-Form benutzt, sondern darin, daß er zweifelnd erzählt. Er versteht es unnachahmlich, seine Leser in den Prozeß seiner Erfindung einzubeziehen“ (Andersch/Bienek 1962, 120). Dies trifft auch auf Efraim zu, ein Roman, der ebenso gut wie Frischs Romane „seine Leser in den Prozeß seiner Erfindung“ einbezieht. Ganz entschieden reflektiert Efraim ständig sein Schreiben und lässt die Leser auf diese Weise an der Genese des Romans teilhaben.

Diese Eigenschaft ist allerdings zu unterscheiden von der der Fehlbarkeit des Erzählers und von der der Unzuverlässigkeit. Doch ist dies in der Komponente des Zweifelns offenbar mitgemeint, wie aus einer weiteren Äußerung Anderschs hervorgeht: „Er fordert sie [die Leser] auf, alles zu bezweifeln, was er sagt“ (Andersch/Bienek 1962, 121). Auf diese Weise schafft er die modernetypische Distanz zwischen Erzählen und Erzähltem. Wenn man gezwungen ist, „alles zu bezweifeln“, was ein Erzähler äußert, so ist das nichts anderes als eine Umschreibung des unzuverlässigen Erzählens.

Frisch, der das Manuskript des Efraim vor der Veröffentlichung gründlich las und ausführlich kommentierte, erkennt diese Konzeption des Romans und charakterisiert ihn in seiner eigenen Terminologie: Es handele sich „um einen illusionistischen Roman […], nicht um einen Spiel-Roman“ (Andersch/Frisch 2014, 78). Ein „Spiel-Roman“ ist für Frisch inzwischen, nach Mein Name sei Gantenbein, einer, der die Fiktion in Frage stellt; ein „illusionistischer Roman“ hingegen einer, der die in der Fiktion präsentierte Realität nicht grundsätzlich in Frage stellt. In Frage gestellt wird in Efraim die Sichtweise des erzählenden Protagonisten auf diese Realität, eben durch seine uneingestandene Fehlbarkeit bzw. Unzuverlässigkeit.

Es ist bedeutsam, dass Andersch mit Frisch am Erzählen festhält. Frisch habe sich der Mode verweigert, „auf das Erzählen zu verzichten“ (Andersch/Bienek 1962, 121). Gerade in Abgrenzung zu dem von Andersch ansonsten sehr bewunderten Samuel Beckett hebt er positiv hervor, dass Frisch das Erzählen und die Figurenpsychologie nicht aufgegeben habe. Am Erzählen festzuhalten, ist gleichbedeutend mit einer der Bedingungen für das unzuverlässige Erzählen, wie es in der vorliegenden Abhandlung konzipiert ist: mit der Mimesis-Präsumtion. Die Preisgabe der mimetischen Komponente ist das, was Andersch an Beckett, aber auch am Nouveau Roman kritisiert. In einem Brief vom 25. Februar 1963 an den Philosophen Wilhelm Schapp lehnt er Robbe-Grillets Romankonzeption brüsk ab: „Die ganze Theorie ist meiner Meinung nach Schwachsinn“ (zit. nach Williams 1994, 127 f.). Andersch schreibt Robbe-Grillet die Ansicht zu, „Handlung und Held, Thema und Sujet, seien gänzlich überflüssig, die Zeit des eigentlichen Erzählens sei vorbei“ (ebd.), und distanziert sich davon ebenso wie von der Konzeption Becketts in einem Brief an Max Frisch vom 25. Februar 1964, als er in Berlin bereits an Efraim schreibt: „Ich glaube, es gibt wohl keinen grösseren Beckett-Verehrer als mich, aber ich werde niemals einen Versuch machen, mich der ganzen Richtung formal zu nähern“ (Andersch/Frisch 2014, 53).

Dies ist insofern ein wichtiger Hinweis, als Beckett einer von Efraims Lieblingsautoren ist. Dies wirft die Frage auf, wie dies zu verstehen ist, wenn Andersch sich Becketts literarischen Ansatz gerade nicht zu eigen machen will. Frisch findet laut seinem Efraim-Kommentar die Kombination von Efraim mit Beckett unpassend: „Was Efraim da über Beckett schreibt, ist natürlich ausgezeichnet, aber ich bin nicht sicher, ob Efraim da gefragt worden ist über sein Verhältnis zu Beckett; Efraim kommt mir da etwas beschenkt vor“ (Andersch/Frisch 2014, 73). Da er um Anderschs Hochschätzung von Beckett weiß, erscheint ihm die Vorliebe für Beckett von Efraim, der sich selbst als „konservativ“ bezeichnet, „was die schöne Literatur betrifft“ (E, 316), wie ein Bruch.

Doch Beckett gilt Efraim nicht als literarisches Vorbild, sondern er erkennt in ihm eine verwandte Geisteshaltung, mit der er sich identifiziert. Aus Efraim spricht hier nicht der versierte moderne Literat, sondern ein eher naiver Leser, der sich hauptsächlich von dem Was eines literarischen Textes ansprechen lässt, seinem Inhalt also, und nicht von seinem Wie, von der Art und Weise, wie er gemacht ist. Efraims eigener moderner Roman ist im Rahmen der Fiktion darum das Ergebnis einer intuitiven Herangehensweise, während der reale Autor sehr überlegt, konstruierend und kompositorisch anspruchsvoll vorgegangen ist.

Mit Anderschs Efraim-Roman liegt ein Roman vor, dessen Autor sich nicht nur explizit auf Frischs Erzählkonzeption beruft, sondern der auch tatsächlich in wesentlicher Hinsicht die Vorgaben dieser Konzeption aufgreift und umsetzt. Dies ist ein Grund mehr, den späteren Andersch weniger im Kontext der Gruppe 47 zu sehen als in der Tradition eben Frischs. Einmal mehr zeigt sich jedoch auch, dass die zeitgenössische Rezeption sich mehr an kritischen Oberflächenphänomenen rieb und die tiefere Bedeutung dieser Phänomene nur selten erfasste. Diese Erfahrung animierte nicht dazu, diese Art des Erzählens weiterzuverfolgen. Der mangelnde Erfolg versagte ihm außerdem die Breitenwirkung, die für eine weitere Popularisierung des Verfahrens nötig ist.