1 Zwischen Liebes- und Familienroman: Zur Einführung

1.1 Einordnung

Im Jahr 1956 erschien Gabriele Wohmanns Erzählung Ein unwiderstehlicher Mann in der Zeitschrift Akzente. Sie hatte den Text Walter Höllerer geschickt, und er wurde auf Anhieb angenommen. Auf diese erste Veröffentlichung meldeten sich bei ihr gleich drei Verlage mit dem Angebot, sie in ihre Programme zu nehmen: Piper, Luchterhand und Walter (auf Vermittlung von Alfred Andersch).Footnote 1 Wohmann hielt den Kontakt zu allen dreien. Ihr erster Roman Jetzt und nie erschien schließlich 1958 bei Luchterhand, weil dessen damaliger Lektor Heinz Schöffler am zügigsten arbeitete und der jungen Autorin am meisten Selbständigkeit zugestand, wohingegen Piper als erstes Werk der Debütantin lieber einen Band mit Erzählungen publizieren wollte. Mit Otto F. Walter wiederum hatte sie noch an dem Manuskript gearbeitet, auf dessen Anraten sie eine Kontrastfigur zur Hauptfigur in den Roman integrierte. Die Zusammenarbeit mit Walter kann ihr nicht negativ in Erinnerung geblieben sein, auch wenn sie die Einstellung hatte, nicht „erst einmal schön geduldig zusammen mit Lektoren das Schreiben zu lernen.“Footnote 2 Nach der Publikation des Bandes mit Erzählungen bei Piper und zwei weiteren Kurzprosabänden erschien ihr zweiter Roman Abschied für länger 1965 im schweizerischen Walter Verlag.

In den Gesamtdarstellungen ihres literarischen Werks fehlt er nicht, ihm wird aber auch keine herausragende Bedeutung zugeschrieben wie manch späterem ihrer Romane. Der Roman wurde beschrieben als „eine verhaltene Liebesgeschichte, in der das Wort Liebe nicht vorkommt“ (Wagener 1986, 41). Das ist eine ziemlich unscharfe Charakterisierung, deren empirischer Anteil überdies falsch ist. Das Wort „Liebe“ findet sich, mit einem Fragezeichen versehen, im Text (A, 104). In der Tat ist eine wichtige Frage, die es zu klären gilt, die nach den inneren Einstellungen der Erzählerin. Sie bleiben merkwürdig unterspezifiziert und werden doch laufend implizit thematisiert.

Die namenlose Ich-Erzählerin zieht in die Stadt ihres Geliebten, eines irgendwie liebenswerten, aber wohl recht trockenen Organisationsberaters bzw. Consulters, wie man heute sagen würde, der voll und ganz in seiner Arbeit aufzugehen scheint. Er ist viel unterwegs zu Betrieben, die er berät, und manchmal begleitet die Erzählerin ihn, damit sie wenigstens einige Abende und Nächte mit ihm zusammen verbringen kann. Am Ende scheitert die Beziehung, nicht nur, aber doch vor allem deshalb, weil die Liebe ziemlich einseitig von der Frau ausgeht. Das Besondere an dem Roman ist die eigentümliche Zusammensetzung von Erzählmitteln, die nicht nur eine komplizierte Struktur, sondern auch einen außergewöhnlichen Tonfall erzeugen. Das ist für eine formgeschichtliche Untersuchung immer interessant, und im vorliegenden Zusammenhang ganz besonders passend, da das Erzählverfahren der Unzuverlässigkeit dazu gehört.

Aber die Unzuverlässigkeit steht nicht in der Weise im Vordergrund wie etwa in Walters eigenem Roman Herr Tourel. Die Erzählweise von Abschied für länger ist zunächst dadurch charakterisiert, dass es einen durchgängigen Monolog gibt, dessen textuelle Kohärenz durch eine zwar nicht immer ungebrochene, aber doch vorherrschend einigermaßen gewahrte Thema-Rhema-Struktur erzeugt wird; der aber als ganzer in seiner narrativen Kohärenz beeinträchtigt ist. Worin diese Beeinträchtigung genau besteht, wird im nächsten Abschnitt über die Erzählkonzeption erörtert. Die markantesten Verfahren zum Aufbruch der narrativen Kohärenz sind Prolepsen und die Rede von Figuren, deren Beziehung zur Erzählerin sich erst später (halbwegs) klärt, sowie das Andeuten bzw. Vorenthalten von Einschätzungen der erzählten Situationen bzw. Sachverhalte.

Unzuverlässig erzählt ist der Roman aber nicht deshalb; genauer gesagt, nicht diese Verfahren sind es, mit denen die Unzuverlässigkeit umgesetzt wird. Und er ist auch nicht unzuverlässig erzählt, weil die Erzählerin in dem, was sie sagt und schildert, zwischen den einzelnen zentralen Themen (ihrer Familie, ihrem Geliebten Strass, ihrer toten Schwester Ruthie) sozusagen hin und her springt, ohne zwischen diesen Themen eine explizite Verbindung herzustellen. Die betroffenen Sachverhalte mögen teilweise unklar sein. Aber es ist nicht so, dass die Erzählerin ständig etwas anderes zu verstehen geben will oder gibt als das, was sie zu verstehen gibt. Ihre Unzuverlässigkeit betrifft im Wesentlichen einen einzigen Sachverhalt. Dieser ist allerdings kein marginaler Sachverhalt, so dass sich die Zuschreibung der Unzuverlässigkeit dem Verdacht aussetzte, ästhetisch bedeutungslos zu sein – der betroffene Sachverhalt ist, ganz im Gegenteil, von zentraler Bedeutung für den Roman und seine Erzählerin. Er ist auch nicht isoliert im Romangeschehen, sondern mit anderen Sachverhalten verknüpft. Durch die vielen Verbindungen zu anderen Elementen des Romans ist er strukturbildend, und dieser Umstand ist es, dass seine unzuverlässige Darstellung auf den Text als ganzen ausgreift und nicht auf die Passage am Romanende beschränkt bleibt, in der er geschildert wird. Wenn ein Text wie Walters Herr Tourel als ganzer unzuverlässig ist, weil sein Erzähler sich ständig etwas vormacht oder lügt und daher viele Sachverhalte davon betroffen sind, ist Wohmanns Text als ganzer unzuverlässig erzählt, obwohl nur ein Sachverhalt davon betroffen ist, aber eben weil dieser Sachverhalt mit vielen anderen vernetzt ist.

1.2 Fragen an den Text

Wie in den anderen Detailanalysen auch lege ich im vorliegenden Kapitel viel Wert darauf, zunächst die Erzählkonzeption herauszuarbeiten, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die literarische Umsetzung beschaffen ist. Danach ist die Darstellung der im Roman realisierten Unzuverlässigkeit an der Reihe, bevor das Kapitel mit einer Interpretation der damit zusammenhängenden Aspekte des Romans abschließt.

Erzählt wird die Geschichte einer ziemlich trostlosen nicht-ehelichen Liebesbeziehung aus der Sicht der beteiligten Frau, die sich expliziter Bewertungen weitgehend enthält. Durch die Art der Darstellung stellen sich einige Fragen. Um was für eine Beziehung handelt es sich? Wie verhalten sich die Figuren? Und welche Motivationen lenken ihr Verhalten? Was leistet das unzuverlässige Erzählen im Hinblick auf die Beantwortung dieser Fragen?

In der Rezeption des Romans spielt zusätzlich zu der Beziehung der Erzählerin zum Mann auch ihre Beziehung zu ihrer Familie eine große Rolle. Der Roman beginnt mit dem Abschied von der Familie und endet mit der Rückkehr zu ihr. Die beiden Teile, aus denen der Roman besteht, überbrücken den Sommer des Jahres, in dem die Handlung stattfindet, und diesen Sommer verbringt sie auch bei ihrer Familie. Zwischendurch ist auch immer wieder von der Familie die Rede, so dass die Berücksichtigung dieses Faktors berechtigt ist. Es ist also auch zu fragen, welche Rolle die Familie im Hinblick auf die scheiternde Beziehung zwischen dem Mann und der Frau spielt.

Gerade das Fehlen von Bewertungen zieht die Frage nach sich, ob die Erzählung tatsächlich neutral ist oder ob darin eine Werthaltung vermittelt wird, die zu erkennen die Aufgabe des Lesers ist.

2 Kohärenzbrüche: Die Erzählkonzeption

Die Lektüre einiger Zusammenfassungen der Romanhandlung zeigt rasch, dass diese Zusammenfassungen etwas leisten, dessen sich der Roman selbst verweigert: Sie füllen die Lücken, die der Roman lässt. Um die Erzählkonzeption zu charakterisieren, sollte man jedoch nicht gleich zum Ziel – d. h. zur Rekonstruktion der Handlung – hasten, sondern diese Lücken erst einmal benennen. Das trifft auf diesen Roman in viel stärkerem Maße zu als auf andere, weil hier Erzählverfahren greifen, die ansonsten eher nicht in Verbindung mit den Verfahren des unzuverlässigen Erzählens stehen – sondern mit jenen des Nouveau Roman. Heraus kommt eine sehr eigentümliche Mischung.

2.1 Heterogene Erzählverfahren

Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, die mit römischen Ziffern betitelt sind. Das erste Kapitel beansprucht knapp zwei Drittel des Gesamtumfangs. Es handelt sich um eine durchgehend homodiegetische Erzählung. Der narrative Standpunkt der Erzählerin ist jedoch ungewiss. Am Anfang ist es anscheinend der des erlebenden Ich, der sich in erlebter Rede vermittelt:

Mein Bruder stand da, er bewegte seine kalten Füße nicht. Mein Vater trug einen Pullover unter dem Rock. Diesmal war ich es, die wegfuhr, Ruthie, die Bahnhofsstimmung der beiden da unten galt diesmal nicht dir.

Am Gleis gegenüber zog ein Mann mit Overall und Schildmütze Schrauben an. Sein Gehilfe stand bloß so da, das Arbeitsgerät in der Hand. Er schaute herüber. Willst du denn rückwärts fahren, fragte mein Vater. (A, 7)

Deiktische Ausdrücke wie „da“, „diesmal“, „gegenüber“ usw. markieren die Situation des erlebenden Ich. Das Ich, das hier noch gänzlich unbestimmt ist, wird von Bruder und Vater am Bahnhof verabschiedet. Es sitzt bereits im Waggon und blickt auf die beiden herab, die auf dem Bahnsteig stehen. Die Szene könnte in einer kühleren Jahreszeit zu verorten sein. Ein wenig seltsam wirkt, dass das Ich über die kalten Füße des Bruders Bescheid weiß. Ansonsten wird insbesondere im zweiten Absatz das wiedergeben, was die Erzählinstanz als erlebendes Ich sieht und hört. Das Präsentische wird jedoch aufgehoben durch das Erzähltempus, und es gibt ein Detail, das an dieser Stelle noch Rätsel aufgibt: die Adressatin namens Ruthie, an die sich die Rede richtet. Durch die Anrede wird das Präsentische ebenfalls reduziert, und der Monolog erhält ein dialogisches, reflektierendes Moment.

Mit dem an das Zitat anschließenden Satz offenbart sich das Geschlecht der Erzählerin. Außerdem wird der Romantitel aufgegriffen und die kalte Jahreszeit bestätigt: „Meine Mutter hatte mich beim Packen mit einem Sommerkleid ertappt. So lang bleibst du weg, fragte sie“ (A, 7). Die Erzählerin rekapituliert in knappen Sätzen, was sich kurz vorher zuhause abgespielt hat. Es handelt sich, narratologisch gesprochen, um eine Analepse, aus der hervorgeht, dass im Haushalt noch zwei Tanten leben und dass Ruthie die Schwester der Erzählerin ist, die auch schon nicht mehr zu diesem Haushalt gehört. „Du hast dir einen leichteren Abgang verschafft, Ruthie-Schwester“ (A, 7). Die Tanten bedauern die Abreise ihrer Nichte, und die zweite Hälfte des Absatzes markiert mit einer Prolepse nun sehr deutlich die Abkehr von der präsentischen Perspektive des erlebenden Ich:

Tante Gusta hatte meine Hand nicht loslassen wollen, wie sechs Monate später beim Abschied in der Anstalt. Ich wußte noch nichts von der Anstalt, ihrem Garten, ihren Besuchszeiten, vom besonders heißen Sommer dieses Jahres, vom Fehlen der Bäume und ihrer Schatten auf den geometrisch streng verlaufenden Kieswegen der Anstalt, und riß meine Hand aus ihrer. (A, 7)

Danach kehrt die Erzählung zu den Gleisarbeitern und dem Bahnsteig zurück, jedoch nur für kurze Zeit, denn im Kern wiederholt sich die beschriebene Struktur aus Informationen, die nicht die gegenwärtige Situation am Bahnhof betreffen, sondern offenbar den Morgen zuhause und die nähere Zukunft, wobei auch schon der Name fällt, der, wie sich zeigen wird, für die Erzählerin von zentraler Bedeutung ist: Strass.

Damit wäre ein erstes strukturbildendes Charakteristikum der Erzählweise herausgearbeitet: Die Perspektive des erlebenden Ich wird immer wieder aufgebrochen durch Prolepsen, die klar machen, dass die origo der Rede nicht die der Erzählinstanz als Figur ist, sondern dass die Erzählinstanz, wiewohl sie sich vorwiegend als erlebendes Ich präsentiert, schon mehr erlebt – in dem Sinne, dass es über die Gegenwart hinaus Kenntnisse über die narrative Zukunft erlangt – hat, als die situative Rede zunächst den Anschein erweckt. Während die Erinnerungen an die Vergangenheit (der Abschied zuhause) durchaus im erlebenden Ich ihre Berechtigung haben, fallen die Prolepsen heraus. Der Zeitraum des Erzählens (bzw. der Erzählstandpunkt) muss also später liegen. Auch die Prolepsen sind vom Standpunkt des erzählenden Ich Erinnerungen. Wir haben es mit einer retrospektiven Erzählung zu tun, die sich allerdings sehr stark der Perspektive des erlebenden Ich bedient und das Retrospektive mehr en passant in die Erzählung aufnimmt, anstatt über die wahre Situation des Erzählens bzw. des erzählenden Ich Auskunft zu geben. Das erzählende Ich bleibt bis auf weiteres unbestimmt. Auf seine vom erlebenden Ich getrennte Realisierung kann aber durch die Prolepsen geschlossen werden. Kurz gesagt, fallen Handlungs- und Wahrnehmungsgegenwart einerseits und Erzählgegenwart andererseits auseinander, wobei jedoch die Handlungsgegenwart auf eine Weise dargestellt wird, dass es scheint, als fielen die Handlungs-/Wahrnehmungsgegenwart und die Erzählgegenwart zusammen.

Ein zweites Merkmal sind Sätze, die ebenfalls, aber auf andere Weise die narrative Kohärenz einschränken. Noch am Bahnhof fragt die Erzählerin ihren Bruder etwas, aber eine Antwort erhält sie wohl nicht. Stattdessen heißt es: „Er machte den Mund auf, aber er mußte anscheinend nicht gähnen. Meine Mutter war mit den Betten fertig, erst jetzt zeigte der Ischiasanfall seine wahre Stärke. Tante Gusta wollte Tante Leonie den Mop entreißen“ (A, 8). Zu einer Kommunikation zwischen Bruder und Schwester kommt es nicht, jedenfalls sagt sie nichts von irgendwelchen Antworten, sondern notiert nur ihre Fragen. Möglicherweise erinnert die Erzählerin sich an eine Szene am Morgen, ehe sie die elterliche Wohnung verließ. Dass sie etwas erzählt, als habe sie es beobachtet, ohne dass sie es beobachten kann, lässt sich wenig später feststellen. Sie fährt los und winkt, ihr Blick fällt dann auf die Gleisarbeiter, und „im selben Augenblick waren Vater und Manfred nicht mehr zu sehen“ (A, 9). Die Erzählerin setzt sich im Abteil ans Fenster, und erzählt weiter davon, was ihr Vater und ihr Bruder machen, als würde sie ihnen weiter nach sehen. Sie beschreibt den „kleinen Vater mit den kleinen Schritten neben dem nur widerspenstig sich vorwärtsbewegenden, um zwei Köpfe höheren“ Bruder (A, 9). Und sie weiß sogar, wie es ihnen geht: „Sie fühlten sich etwas verloren, aber auch ruhiger, nun, da die Trennung vollzogen war“ (A, 10).

Offensichtlich aber verhält es sich so, dass sie Vater und Bruder gar nicht mehr sieht, sondern nur beschreibt, was in ihrer Vorstellung ist, ohne dies aber als Vorstellung auszuweisen. Im Gegenteil, sie teilt mit, was sie sieht – vor ihrem inneren Auge, wie man wohl ergänzen muss, möchte man nicht die Idee einer kohärenten Erzählsituation preisgeben: „Ich sah nur diese zwei, meinen Vater und Manfred. Sie machten einen Umweg, so gut gefällt ihnen der Spaziergang. Manfred hat angefangen zu reden“ (A, 10).

Um die Kohärenz des Textes sowie der erzählten Welt zu wahren, muss man also zusätzliche Annahmen machen, die helfen, die Brüche, die der Text etwa durch das Auslassen von Informationen über die Art der intentionalen Einstellung (Erinnerung, Phantasie, innere oder äußere Wahrnehmung) der Erzählerin aufweist, auszugleichen. Das zweite strukturbildende Charakteristikum der Erzählweise ist also dieses Auslassen der Benennung der intentionalen Einstellung, wobei die verschiedenen intentionalen Gehalte des sich darstellenden Bewusstseins der Erzählerin raumzeitlich so disparat sind, dass sie nicht alle zugleich Gehalt derselben Einstellung sein, nicht in derselben Einstellung zugleich gedacht werden können. Das heißt, dass die Art der jeweiligen intentionalen Einstellung zwar ebenso wenig benannt wird wie der Wechsel der Einstellungen und dass man dennoch aufgrund der disparaten Gehalte auf unterschiedliche Arten und den Wechsel von intentionalen Einstellungen der Erzählerin schließen muss – vorausgesetzt, wie gesagt, man setzt sich zum Ziel, die narrative Kohärenz (und das heißt hier nichts anderes als einen raumzeitlich und psychologisch schlüssigen Zusammenhang) zu wahren.

2.2 Die Etablierung der Thematik

Bald erfährt man mehr über die Umstände der Erzählerin. Sie hat noch einen zweiten Bruder namens Reinhard, der aber bereits eine eigene Familie hat. Und sie war mit einem Rudolf verlobt. Nach 33 Jahren in derselben Stadt möchte sie zu ihrem Geliebten Strass, der in einem Ort im Süden lebt, „ungefähr sechshundert Kilometer weg“ (A, 11), wo sie eine Stelle in einer Filmproduktionsfirma antreten wird.Footnote 3 „Das novafilm-Angebot habe ich blindlings angenommen, wie man eine vorübergehende Beschäftigung annimmt. Und selbst wenn ich insgeheim plante, danach mein Leben mit der Familie nicht wieder aufzunehmen – schön“ (A, 11). Die Aussagen der Erzählerin, die sich auf sie selbst beziehen, sind auffällig vage. „Zu ihm fuhr ich, zu Strass, nicht weg von der Familie, diese Auslegung trifft es nicht – aber warum werde ich schon wieder laut“ (A, 12).

Ist der Nachsatz, den kein Fragezeichen abschließt, ein Hinweis auf die Erzählsituation? Er könnte auch andeuten, dass sich ihr Unbewusstes meldet und sie hier einen wunden Punkt hat. Zumindest dient er als Überleitung zu (einer Erinnerung an) Rudolf, der ihr beim gemeinsamen Musizieren den Vorwurf macht, unbeherrscht zu sein (A, 12). Auch Ruthie spricht sie weiter an. Ruthie fiel vom Baum (A, 11), erlitt einen Schädelbruch, und verstarb mit etwas zeitlichem Abstand an einer Infektion (A, 19). Und die Erzählerin, Ruthies kleinere Schwester mit ausgeprägtem Charme (A, 17) und vom sanften Vater als „jähzorniges Schätzchen“ (A, 13) bezeichnet,Footnote 4 spricht „von unserer Wette und meiner Schuld an deinem Sturz“ (A, 16), woraufhin sie aber auch sagt: „es ist auch übertrieben, dies Gerede von Schuld“ (A, 17). Nach und nach vervollständigt sich das Bild ihrer Situation, aber immer vor dem Hintergrund einer im beschriebenen Sinne fragmentierten Erzählrede, die zwischen den einzelnen Gegenständen (Familie, Strass, Wahrnehmungsgegenwart im Zugabteil, Zukunft) springt. Dabei erfährt man auch etwas mehr über Strass, der im Rechnungswesen beschäftigt ist und einen kleinen Sohn hat. Er hat eine seltsame Art zu tanzen, „als mache er sich darüber lustig, er macht sich aber nicht darüber lustig, er schätzt Tanzen“ (A, 12), und er hat empfindliche Füße (A, 13).

Mit Strass wird sie Zeit in einem Hotel verbringen, wie aus den – von der zeitlichen Perspektive der Handlungsgegenwart aus gesehen, Zukünftiges andeutenden – minimalen Prolepsen hervorgeht (A 8, 15). Er ist der Grund ihres Umzugs. Offensichtlich aber hat er Familie, und es ist ungewiss, wie sich die Beziehung zwischen ihnen nach dem Umzug entwickelt und mit welchen Hoffnungen sie in die Stadt im Süden mit neoklassizistischen Gebäuden (Stuttgart vielleicht, weil von Schwaben und später auch von einer Großstadt die Rede ist [A, 71]) zieht.

Doch man erfährt nur punktuell etwas über ihn, so etwa, dass er „Schwarzfärberei“ (A, 11) nicht mag und auch keine „Übertreibungen“ (A, 16). Nach und nach setzt sich ein Bild von ihm zusammen, dem die Erzählerin, als sie zusammen nach ihrem Umzug in einem Lokal sitzen, noch folgende Konturen gibt:

Strass, Strass, Strass, der etwas schwerfällige, ziemlich erschöpfte Mann Anfang Vierzig, dieser immer freundliche, immer zu leise sprechende Statistiker aus Passion, er erzählte mir, neuerdings wähle er in der Kantine immer die Diabetiker-Diät, die sei etwas teurer, aber wesentlich sorgfältiger zubereitet, er hob seinen forstmeistergrünen Pullover und zeigte mir sein zerknittertes Hemd, das zu eng war. (A, 35)

Mit der Kommunikation zwischen ihnen scheint etwas nicht zu stimmen, denn als sie ihm von Ruthies Sturz erzählt, hat er „wohl nicht richtig zugehört“ und „ist vielleicht sogar eingeschlafen“ (A, 16).Footnote 5 Dieser Eindruck wird sich später bestätigen. Hier ließe er sich noch entschuldigen, weil Strass überarbeitet ist. Auch die Kommunikation mit der Familie wird andeutungsweise charakterisiert. Der Frage nach der Schuld an Ruthies Sturz wird nicht nachgegangen. „Deine Zukunft geht vor, sagten die Eltern“ (A, 17). Auch über die Ursachen ihres Todes oder über das Temperament der Erzählerin wird in der Familie nicht geredet. „Wir waren so, von jeher. Kein hartes Wort, überhaupt kein Wort mehr“ (A, 19).

Schließlich gibt es schon auf den ersten Seiten ein auffälliges Motiv zu registrieren, das zunächst unscheinbar an verschiedenen Figuren exemplifiziert wird. Wie sich ebenfalls später zeigen wird, ist es von zentraler Bedeutung für die Geschichte und verfügt über ein hohes symbolisches Potential. Auf dem Bahnsteig fällt der Blick der Erzählerin auf Manfreds freiliegenden Hals (A, 8), und als sie, im Zugabteil sitzend, ihren Bruder in Begleitung des Vaters auf dem Heimweg imaginiert, stellt sie sich vor, dass er Halsschmerzen vorschützt, um sich zuhause ins Bett legen zu können (A, 11). Ihre eigenen cholerischen Anfälle als kleines Mädchen erklärt sich die Mutter mit einer Fehlfunktion der Schilddrüse und hat „ihre freundlichen Finger mit zartem Druck auf meinem Hals, über meinem Kehlkopf“ (A, 14). Hier kündigt sich das Halsmotiv bereits an, das im Bewusstsein der Erzählerin allgegenwärtig ist. Bedeutsamkeit erlangt es aber, weil Strass davon betroffen ist, der noch nicht zu diesem Zeitpunkt, aber danach Bekanntschaft mit einem Hals-Nasen-Ohrenarzt machen wird, „obwohl er damals [also in der Zeit der Bahnfahrt] bereits Beschwerden hatte, aber zögerte, eine Heilung ist allerdings nur durch frühzeitige Behandlung zu erreichen“ (A, 18).

In dem Nachsatz, der syntaktisch abfällt, wird ein Wissen geäußert, das als Andeutung verstanden werden kann. In der Folge ist immer wieder von Strass’ Beschwerden die Rede, die im Sinne einer Klimax angeordnet sind und einen Handlungshöhepunkt erahnen lassen, auf den die Erzählung allmählich zustrebt. Trotzdem ist die Etablierung der Thematik erst definitiv als solche zu erkennen, wenn man bereits weiß, worauf es hinausläuft im Roman. Ohne dieses Wissen vollzieht sich diese Etablierung fast unbemerkt und lediglich als Möglichkeit. So wird neben den Halsproblemen von Strass immer wieder auch ein sich verändernder Fleck an seiner Hand erwähnt. Dieser wird später allerdings nicht zum Problem und könnte in diesem Stadium der Erzählung genauso gut als Hinweis darauf verstanden werden, dass Strass hypochondrisch veranlagt ist.

Das symbolische Potential von Strass’ Halsbeschwerden ist darin zu sehen, dass sie die scheiternde Kommunikation des Liebespaars versinnbildlichen und auf diese Weise die von der Erzählerin zwar dargestellte oder angedeutete, aber nicht explizit thematisierte und schon gar nicht reflektierte Situation dadurch zu etablieren helfen, dass sie das, was die Erzählerin nicht anzusprechen vermag (wobei offen bleibt, ob es ihr unbewusst ist und sie es verdrängt oder ob es ihr bewusst ist und sie es einfach nur nicht ausspricht, weil sie sich etwas anderes nicht eingestehen kann), in immer kürzeren Abständen symbolisch präsent hält.

Hier sind wir nun aber schon weit in die Interpretation des Romans vorgedrungen, deren Ziel die Erfassung der allgemeinen Idee ist, die den fragmentierten Diskurs der Erzählerin zusammenhält. Ehe man dazu kommt, muss man sich zunächst auf den speziellen Duktus der Erzählrede einlassen und die versprengt dargebotenen Einzelheiten zusammensetzen. Da der Zusammenhang immer wieder durch solche offensichtlich als Andeutungen auf Späteres gemeinten Sätze und Halbsätze aufgebrochen wird, gibt es eine Vielzahl disparater Informationen, die schwer zu behalten und zu verarbeiten sind. Dennoch vermittelt sich auf den ersten Seiten bereits die beschriebene Thematik insofern wenigstens zur Hälfte, als bereits hier schon die Unfähigkeit der Erzählerin zum Ausdruck kommt, mit ihrer Umwelt in einen zufriedenstellenden, fruchtbaren Dialog zu treten. Dies geschieht zunächst noch erheblich diffuser, als es die in diesem Abschnitt vorgelegte Analyse darstellen kann, die das Erzählte bereits in eine Ordnung bringt und auf den inhaltlichen Fluchtpunkt ausrichtet.

2.3 Die Verkettung der Episoden und die Sukzession der Ereignisse

Mit der Ankunft in der fremden Stadt ist die erste Episode mittels Ortsveränderung abgeschlossen. Die weiteren Episoden setzen sich aus den Ereignissen zusammen, die chronologisch der Zugfahrt folgen. Sie bilden das orientierende Zentrum der Erzählrede, um das sich Rück- und Vorgriffe, die (wie schon herausgearbeitet) beide als Erinnerungen des erzählenden Ich präsentiert werden, gruppieren, ergänzt um Andeutungen in Form von Assoziationen und Vorstellungen der Erzählerin, die sich erst nach und nach einordnen lassen. Es ist weitgehend möglich, die ungefähre Chronologie der Ereignisse zu rekonstruieren, aber der Text macht es einem aus den genannten Gründen nicht immer leicht. An vorderster Stelle stehen die nicht immer als solche sofort erkennbare nicht-lineare Darstellung in der Erzählrede und der ebenfalls nicht immer als solcher erkennbare kognitive Modus (Beobachtung, Vorstellung/Projektion, Erinnerung).

In den Handlungsabschnitten, die auf die Bahnreise folgen, setzt sich auch die beschriebene Erzählweise fort. Zwar hat Strass nun bald seinen Auftritt als handelnde Figur, aber man kann nicht sagen, dass die Erzählung davon in den Vordergrund tritt. Stattdessen wird Strass häufig weiterhin in Abschnitten der Erzählrede thematisiert, die von der laufenden Handlung abweichen. Diese besteht darin, dass die Erzählerin bei ihrer Ankunft von Kobler, dem Regisseur der Produktionsfirma, abgeholt und in eine Pension gefahren wird, deren Kosten von der Firma übernommen werden. Von Strass, der an diesem Tag Überstunden macht, ist nicht die Rede. Es ist ein Sonntag im Januar (A, 23, 30). Die Erzählerin versucht vergeblich, Strass zu erreichen, und geht früh zu Bett. Es wird deutlich, dass ihr ihre neue Stelle nichts bedeutet und sie nur Strass im Sinn hat.Footnote 6

Am Abend des nächsten Tages sehen sie sich für eine knappe Stunde in einem Lokal. Sie würde lieber in seiner Firma arbeiten, doch das lehnt er ab (A, 36). Signifikant ist, dass daran weder eine Diskussion über den Grund seiner Ablehnung anschließt noch eine Reflexion der Erzählerin, die Strass’ Ablehnung aus der Rückschau bewertet, wie man es erwarten könnte. Mehrmals noch weist Strass sie zurück und hält sie auf Distanz.

Bereits nach der Erwähnung des zweiten Morgens geht die Erzählung ins Iterative über, was einer Raffung der erzählten Zeit gleichkommt. Wieviel Zeit vergeht, lässt sich an dieser Stelle nicht sagen. Insgesamt werden bis zum Ende des ersten Teils keine zwei Monate vergangen sein. Strass trifft sie in den nächsten Tagen offenbar nicht mehr, und es geht ihr nicht gut, wie aus vereinzelten Bemerkungen hervorgeht. Stattdessen wechselt sie Briefe mit ihrem Vater und geht ihrer Arbeit nach, die darin besteht, mit ihrer Kollegin Ulla Metz junge Frauen für einen Film „über ihre Lebensumstände, Erfahrungen, Pläne“ zu interviewen (A, 45).

Dieser Teil der Erzählung wird abgelöst von der ersten gemeinsamen Fahrt mit Strass, die sie in einen Ort führt, den die Erzählerin als „Kreisstadt“ bezeichnet (A, 47–67).Footnote 7 Hier beziehen sie ein Zimmer im Hotel „Wachtturm“, das sie bereits in den Prolepsen erwähnt hat. Strass ist zur Beratung verschiedener Betriebe für eine Woche abgeordnet, so dass die Erzählerin die meiste Zeit allein verbringt und im Stadtpark und auf dem Friedhof spazieren geht. Selbst an den Abenden arbeitet Strass im Hotelzimmer weiter. Seine Beschäftigung beschäftigt auch sie, so dass sie referiert, was er in den Betrieben erlebt (A, 54, 62–65). Trotzdem ermahnt sie sich gewissermaßen zur Empfindung von Glück. „Auch gab ich mir Mühe, die Gegenwart diesmal dadurch überhaupt zu erleben, daß ich sie genoß […]“ (A, 61).Footnote 8 Gewöhnlich neige sie dazu, in der Vergangenheit zu leben. Wenn sie mit Strass Zeit verbringt, ist er zumeist müde und erschöpft wie an dem bereits proleptisch erzählten Fall deutlich wird, als er ihrer sie tief bewegenden Schilderung vom Sturz ihrer Schwester nicht folgen kann (A, 57). Immerhin, sie erwähnt am Ende dieses Abschnitts auch „unsere kleinen Biergelage“ auf dem Zimmer, so dass der Ausflug für sie auch seine positiven Seiten hat.

Dennoch, gleich als sie wieder zurück sind, möchte sie ihre Situation verändern und kündigen. Sie unterlässt es aber, Strass’ wegen. „Er kam an diesem Abend in die Pension, das war nett von ihm“ (A, 70). Wie er es geschafft hat, von seiner Familie loszukommen, möchte er nicht sagen. Aber schon am nächsten Tag fährt er ohne die Erzählerin wieder weg, wenn auch nur für wenige Tage. Die (als solche nicht bezeichnete) Drohung der Erzählerin, aus der Stadt wegzugehen, führt zu nichts. Daraufhin öffnet sie sich ihren Arbeitskollegen, die dies sehr begrüßen. Ungefähr drei Wochen später (A, 82) fährt sie erneut mit Strass weg, eine eintägige Dienstreise, die sie aufgrund zweier miteinander verbrachter Stunden, den Ereignissen vorgreifend, als „tröstlichen Ausflug mit Strass zum Schloß Eisern Hand“ bezeichnet (A, 76). Einige dieser späteren Erlebnisse flicht sie in die Schilderung eines Interviews für den Film ein, das zeitlich vor der neuerlichen Reise liegt. Ausführlich wird dann von demselben Ausflug im Anschluss berichtet, offensichtlich einem weiteren Schlüsselerlebnis (A, 85–96).

Wiederum ist es so, dass die gemeinsame Zeit kaum geschildert wird, sondern vor allem die Zeit des Wartens – im Wechsel mit Vorstellungen von Strass’ Tätigkeit, in denen diesmal eine Mitarbeiterin des Betriebs, dessen Buchhaltung Strass überprüfen soll, – Fräulein Maltan – die Hauptrolle spielt. Auch Strass’ Halsbeschwerden rücken in dieser Passage immer wieder in den Vordergrund. Wer aufmerksam gelesen hat, der hat den Namen des Fräuleins noch in Erinnerung. Die Erzählerin hat ihn am Anfang erwähnt, als sie mutmaßt, dass Strass womöglich an sie und ihre veraltete Fakturiermaschine dachte, während sie ihm etwas von Ruthies Sturz mitteilen wollte (A, 19). Wie schon in den anderen Städten verbringt sie die Zeit des Wartens in einer Kirche. Diesmal hat sie sich eine Flasche Korn gekauft (A, 88), trinkt in der Kirche daraus und übergibt sich schließlich in ein Taufbecken (A, 91 f.). Danach kommt sie zu spät an den mit Strass vereinbarten Treffpunkt, dem Spätrenaissance-Portal der St.-Michaelis-Kirche (A, 93). Sie fahren zurück, und sie nimmt ihre Arbeit wieder auf, trifft sich auch mindestens einmal mit Strass (A, 98). Es vergeht unbestimmte Zeit. Tatsächlich sind seit dem Anfangsereignis – der Bahnfahrt – nicht viele Wochen vergangen. Es ist Februar (A, 114, 121), wie man aufgrund zweier späterer Zeitangaben feststellen kann. Die Erzählerin baut wieder Andeutungen ein, wonach sie ihre Situation verändern will. Darauf scheint Strass aber nicht einzugehen. Stattdessen steht wieder eine Dienstreise auf dem Plan, diesmal für zwei Wochen, die er allein antritt (A, 98).

Der erste Teil des Romans endet mit der alternierenden Schilderung einer Feier mit ihren Arbeitskollegen und ihrer Vorstellung von Strass’ Dienstreise, die ihn unter anderem wohl auch wieder zu Fräulein Maltan führt, zumindest gemäß dem, was die Erzählerin sagt. Die Feier, die die Kollegen für sie veranstalten, hat einen Anlass, den man als Pointe des ersten Teils verstehen kann. Mit dabei ist Herr Fillsack, ein Gerichtsassessor. Er eröffnet der Erzählerin, was die anderen bereits wissen und weswegen sie diese Feier überhaupt initiiert haben: Strass wurde vor Gericht von seiner Ehefrau geschieden. Der Erzählerin gegenüber hat er sich darüber ausgeschwiegen, wie sie nebenbei bemerkt.

Im zweiten Teil ist, erzähltechnisch gesehen, kein Wechsel der Erzählkonzeption zu beobachten. Was die Kapitelgrenze motiviert, ist ein Zeitsprung. Man erfährt im Nachhinein, dass die Erzählerin im März mit Strass, der sich – genauso wie sie selbst jetzt auch – immer noch über seine Scheidung ausschweigt, eine längere Reise nach England verabredet, wo er eine Fortbildung absolvieren möchte (A, 121). Nach dem Sommer bei ihrer Familie mit anschließendem Urlaub am Meer und Besuchen des Heims, in dem Tante Gusta neuerdings untergebracht ist (A, 128–132), begibt sie sich im Oktober mit Strass für vier Wochen nach London (vgl. A, 176), genauer, in eine Vorstadt im Norden. Untergebracht sind sie in dem Eigenheim von David Carper, einem Lehrer, und Monica Maltan-Carper. Monica ist im April übergesiedelt, nachdem sie sich im Februar verlobt hatte (A, 121). Strass’ Fortbildung verdankt sich dem Kontakt zu ihr. Sie haben ihn noch vor ihrer Übersiedlung gemeinsam geplant.

Die eigentliche Handlungsgegenwart beginnt gleich am Anfang des neuen Kapitels mit einer Gesprächssituation zwischen David und der Erzählerin. Beide warten auf ihre jeweiligen Partner. Allzu viel ist aber nicht über die Situation zu erfahren, denn wie im ersten Teil weicht die Erzählerin von der Handlungsgegenwart immer wieder ab und geht auf weiter zurückliegende Ereignisse ein. Anders als im ersten Kapitel aber gibt es keine zwischengeschalteten Einwürfe mehr, die, vom Zeitpunkt der Handlungsgegenwart aus gesehen, als Prolepsen bezeichnet werden können. Diese Einwürfe bestehen jetzt aus jenen bereits erwähnten Erinnerungen an den Sommer und ihre Familie oder aus Bemerkungen über die aktuelle Umgebung, also das Reihenhaus und die Lebensumstände.Footnote 9

Eine widerspruchsfreie Chronologie der Ereignisse lässt sich aus der Erzählung nun aber nicht mehr rekonstruieren. Die Tage vergehen, so könnte man daraus schließen, ohne Unterschied, und in ihrer Erinnerung daran verschleifen sich die einzelnen Tage. Irgendwann trifft Strass ein (A, 138), ohne dass Monica anwesend ist, daraufhin trifft Monica ein und Strass wenig später, ohne dass ein Zeitsprung erwähnt wurde (A, 145). Dann wieder ist die Erzählerin allein, macht einen Ausflug, wo sie anscheinend zufällig von ferne Monica und Strass erblickt, und kommt wieder nach Hause. Sie stellt sich vor, was Strass und Monica machen, bis sie ebenfalls zuhause eintreffen. Dass sie zuvor die beiden zusammen gesehen hat, bestätigt sich, denn Strass erzählt ihr, dass Monica ihn „bis Highbeech geschleppt“ habe (A, 160), um ihn wegen der wahrscheinlicher werdenden Halsoperation zu trösten. Dieser Abschnitt wird von der Schilderung einer Reise nach Manchester abgelöst (A, 160–167). Die Bekannten, bei denen sie dort zu Besuch sind, erwarten von Strass, dass er der Erzählerin von seiner Scheidung erzählt. Als er es ihr dann tatsächlich mitteilt, folgt daraus jedoch nichts (A, 165), schon gar nicht eine Verlobung oder dergleichen, obwohl sie bereits mehrfach den Wunsch geäußert hat, dass er sie heiraten möge (A, 56, 73, 160). Sie gehen gerade spazieren, und es folgt eine unscheinbare, isolierte Formulierung, die allerdings in Verbindung mit anderen steht: Ihr „ging etwas, das noch längst kein Plan war, im Kopf herum“ (A, 166). Wie gewohnt, baut sie wieder Passagen über seine Arbeit in ihre Rede ein, die ihre Gespräche wiedergeben, aber etwas hat sich geändert, denn „es ging mir alles im Kopf herum und ich war kaum mehr fähig, der leisen Stimme neben mir zuzuhören, die versuchte, mir auf meine uninteressierte Frage: Wie arbeitet denn dieser Buchungsautomat? zu antworten“ (A, 166). Dass sie nicht ganz bei Strass ist, wenn er sich einmal Zeit für sie nimmt, ist bemerkenswert, denn normalerweise ist er es ja, der mit seinen Gedanken woanders ist.

Unterbrochen wird die Unterhaltung von einer Erinnerung, der zufolge die Erzählerin bei ihren Gastgebern ein Lexikon auf dem Schreibtisch erblickt hat, aufgeschlagen auf der Seite mit dem Lemma „Metastasis“ (A, 166). Die Anzeichen einer unheilbaren Krankheit verdichten sich. Aber die Erzählerin verknüpft diese Anzeichen nicht zu einer Erkenntnis. Entweder will sie sie nicht wahrhaben oder nicht aussprechen. Wieder zurück in London, klagt Strass einmal mehr über Halsbeschwerden. „Aber so krank doch nicht, sagte ich, auch nicht für immer krank?“ (A, 172). Wenig später sitzen sie in einem Pub beim Bier, „das abendliche Fest der Alkoholstunden fast zeremoniell, mit gemessenem Überschwang“ (A, 172). Strass’ Antwort auf die Frage der Erzählerin wird auch notiert, so lakonisch wie je: „Doch, sagte Strass, so krank, doch, doch, wir tranken jeder zwei wohltuende halbe Pinten“ (A, 172). Später fahren sie nach Hause zu den Carpers, und Strass legt sich früh ins Bett. Nachdem sich die Erzählerin zu ihm gesellt hat, schlafen sie „vermummt ein, Whiskygeschmack im Mund, dicht nebeneinander“ (A, 176). Auf ärztlichen Rat bricht er seine Fortbildung ab. „Von nun an nahmen wir den Rest dieses Aufenthalts mehr touristisch“ (A, 176). Möglicherweise hat ihn der Arzt schon aufgegeben.

Als er anderntags vom Arzt kommt, schlägt ihm die Erzählerin vor, ans Meer zu fahren. Aber Strass ist das zu anstrengend. Er macht ihr einen anderen Vorschlag, ohne ihn näher zu erklären. Worin er besteht, ist nicht ganz klar. Sie gehen und fahren durch London, möglicherweise eine Kneipentour. Strass’ Krankheit ist währenddessen ein Thema zumindest der Erzählrede, in der es unvermittelt heißt: „Die Krankheit führt, sich selbst überlassen, binnen kurzem zum Tod. Strass sagte nichts, ich sagte nichts“ (A, 179). Doch kurz darauf wird deutlich, dass es auch in der erzählten Situation zumindest den Versuch gibt, die Krankheit zu thematisieren: „Vielleicht irrt sich dieser Arzt, sagte ich. Worin, fragte Strass. In der Kehlkopfsache. Warum sollte er sich irren, sagte Strass“ (A, 180). Wie schon im zuvor zitierten Dialogversuch stellt Strass klar, wie es sich verhält, und die Erzählerin hat dem nichts entgegenzusetzen.

Da sich der Aufenthalt sowieso seinem Ende nähert, hält Strass noch einmal einen Vortrag in Monicas Firma und wird anschließend vom Hauptabteilungsleiter zum Abschied nach Hause eingeladen, ehe es fast übergangslos zur letzten Episode mit Strass kommt, die von einem Ausflug der Erzählerin mit Strass nach Windsor handelt. Als Strass in der Firma eintrifft, gibt es wieder eine Andeutung, die als Hinweis auf Strass’ prekären Gesundheitszustand verstanden werden kann: „Sie begrüßten Strass, als habe er wirklich schon am Grund der Themse gelegen“ (A, 180).

Andererseits ist es höchst auffällig, dass er den Vortrag zusagt, obwohl er sonst kaum und, wenn doch, dann nur sehr leise und unter Anstrengung sprechen kann. Das könnte bedeuten, dass er für seinen Beruf immer Zeit hat und nur vor privaten Gesprächen zurückweicht. Es könnte aber auch bedeuten, dass die Erzählerin die Reaktion der Leute fehlinterpretiert. Sie sind nicht traurig, weil sie Strass’ bevorstehenden Tod fürchten, sondern weil er abreist, immerhin ist er ein allseits beliebter Kollege, wie die Erzählerin – nicht gerade betont, aber – immer wieder beiläufig erwähnt (A, 39, 54).

Der Vortrag findet am 23. Oktober statt (A, 180), die Abreise ist für Ende Oktober vorgesehen (A, 176). Die letzte Episode mit Strass liegt also vermutlich in der letzten Oktoberwoche. Sie ist die vorletzte Episode des Romans. Die Erzählerin versucht in Windsor vergeblich, Strass ins Wasser zu schubsen – eine Art Fanal der Handlung, das so unerwartet am Ende steht, weil die Handlung sonst von geradezu zermürbender Alltäglichkeit geprägt ist.

Danach reist sie mit der Bahn zu ihrer Familie zurück. Was aus Strass wird oder geworden ist, lässt sich nicht sagen. Der Erzählerin zufolge ist er nicht gestorben. „Er macht vielleicht irgendwo weiter, mit wem, was weiß ich“ (A, 185). Entweder sie will nicht an seinen bevorstehenden Tod denken, oder es war alles doch nicht ganz so schlimm, wie befürchtet. (Für die letztere Möglichkeit spricht jedoch nichts Entlastendes.) Der Zeitpunkt ihrer Rückreise liegt nicht unmittelbar im Anschluss an den Aufenthalt in London. Es ist ein Monat vergangen. Was sie in dieser Zeit getan hat, wird nicht erzählt. Es ist der 28. November, der zwanzigste Todestag von Ruthie. Ihre Familie würdigt die Ankunft der Erzählerin gerade an diesem Tag. Niemand will hören, dass sie an Ruthies Tod Schuld zu haben glaubt, ihre Familie nicht, Strass nicht: „Ich war schuld dran, sagte ich zu Strass in sämtlichen Zimmern. Er hat es nicht hören wollen, nett wie er ist und zu müde für alle Bekenntnisse“ (A, 186). Mit den Zimmern sind vielleicht die verschiedenen Hotelzimmer gemeint, in denen sie vergeblich versucht hat, sich Strass mitzuteilen.

3 Unzuverlässigkeit: Ein einzelner, aber zentraler Sachverhalt

3.1 Ein (in der Fiktion) empirischer Sachverhalt

Der Sachverhalt, um den es bei der Frage nach der Unzuverlässigkeit der Erzählerin geht, ist nicht, dass sie Strass schubst. Dass das in der erzählten Welt der Fall ist, steht außer Frage. Auch wenn sie diesen Sachverhalt noch deutlicher hätte versprachlichen können, gibt sie doch nichts anderes zu verstehen, als dass sie ihn ins Wasser zu stoßen versucht. Der Text gibt keinen Anlass, daran zu zweifeln. Sie sind bei Eton am Fluss und stehen am Ufer.

Jetzt konnte ich es ganz gut aus Spaß tun, ich konnte es jetzt ganz gut wegen der Schnaken tun, Strass leicht anstoßen, meinen Strass, verurteilt, bestrahlbar durch Betatron, operierbar, unheilbar, freundlich behandelt von allen und als nett, auch leicht sonderbar befunden, Strass ein Verlust, für manche, Strass von Schloß Eisern Hand, vom Ausflug nach irgendwohin, vom Bier irgendwo, von irgendeinem Abschied, […] Strass aus Zimmer neun im Hotel Wachtturm, den ich mit Kampffischgeschichten aufheiterte, jetzt, ich sage: sie kämpfen nicht, sind aber die teuren malaiischen. Strass lacht, jetzt, er ist schon heiser, hat schon ein bißchen zu leiden, und, jetzt, ein bißchen zu schwer: er ist zu schwer für leichte Schubser vom Windsor Ufer in die Themse. (A, 183)

Dass es sich hier nicht um eine bloße Vorstellung, einen Wunschtraum handelt, wird unmittelbar im Anschluss deutlich, wenn sie Strass’ Reaktion zitiert: „Überrascht sah Strass mich an. Ich wäre fast ins Wasser gefallen, sagte er“ (ebd.). Strass überlebt also den Anschlag, ohne sich auch nur nasse Füße zu holen. Überrascht fragt er noch, warum sie ihn gestoßen habe, worauf sie wiederholt, es „aus Spaß, vielleicht“ getan zu haben (ebd.). Daraufhin bricht die Episode ab.

Die Passage enthält mehrere Andeutungen, die sich auf andere Passagen des Romans beziehen. Die „Kampffischgeschichten“, mit denen sie Strass auch zum Zeitpunkt des Anschlags ablenkt, beziehen sich darauf, dass ihr geistig etwas zurückgebliebener Bruder Manfred Kampffische hält. Sie dienen ihr zur Belustigung von Strass. Darauf spielt sie bereits ganz am Anfang an, als sie während des Abschieds auf dem Bahnhof erwähnt, noch nichts „von den Sätzen zwischen Strass und mir über die Kampffische meines Bruders“ zu wissen (A, 8). Später, als sie ihm von ihrem Malheur beim Taufstein in der Kirche erzählt, hat Strass den Gesichtsausdruck „von Neugierde und unterdrücktem Lachreiz“, den er auch aufsetzt, wenn er ihren „Geschichten über Manfreds Kampffische zuhört“ (A, 93). Die Kampffische des Bruders sind eines der wenigen probaten Mittel der Erzählerin, Strass’ Aufmerksamkeit zu binden. Sie setzt es hier möglicherweise zielgerichtet ein.

Eine andere Anspielung sind die Schnaken, die hier als möglicher Anlass für den Mordanschlag auf Strass genannt werden. Damit greift sie ihr letztes Gesprächsthema vor den Kampffischen auf, das dem Anschlag vorausgeht (A, 182). Es hat aber noch mehr mit diesem Stichwort auf sich. Mehrmals im Text deutet die Erzählerin an, dass sie mit Strass streitet, nur um ihn zum Reden zu bewegen (vgl. A, 57, 77, 80): „Und um zu reden, stritt ich allein über die Benennung von Mücken, Fliegen und Schnacken [sic!]“ (A, 145).Footnote 10 Sie versucht es mit weiteren Themen, schließlich auch mit dem Hinweis, dass es ihrer Familie ohne sie schlecht gehe. Aber Strass reagiert nicht, wobei offenbleibt, ob er wegen seiner Halsbeschwerden nicht darauf eingeht oder ob das nur ein vorgeschobener Grund ist, um nicht mit der Erzählerin reden zu müssen. Jedenfalls scheint es eine Frustrationserfahrung der Erzählerin zu sein.

Somit kann man feststellen, dass der falsch dargestellte Sachverhalt nicht das Ereignis selbst betrifft, sondern die Motivation, die sie als Grund für den Mord angibt. Aus „Spaß“ hat sie Strass nicht gestoßen. Auch nicht wegen der Schnaken, wenngleich sich in der damit verbundenen Anspielung möglicherweise ein Grund verbirgt. Der Sachverhalt, den die Erzählerin durch ihre Aussagen für bestehend erklärt, besteht nicht. Die Frage lautet nun, welcher Sachverhalt denn sonst besteht. Anders gefragt: Welche Motivation führt die Erzählerin dazu, Strass in die Themse zu schubsen? Zwei Erklärungsansätze kann man diskutieren:

  1. i)

    Sie leistet Sterbehilfe und möchte Strass’ Leid abkürzen;

  2. ii)

    Sie möchte sich für die erfahrenen Frustrationen, die Lieblosigkeit und Unverbindlichkeit von Strass rächen.

In den ersten Interpretationsansätzen, die im Rahmen literaturkritischer Rezensionen des Romans formuliert wurden, dominiert die erste These, freilich ohne dies weiter zu begründen.Footnote 11 So spricht Hans Albert Walter in der FAZ davon, dass Strass’ Erkrankung „sie zu dem Versuch [verleitet], sein Leben abzukürzen.“Footnote 12 Hans Wagener (1986, 41) sieht in ihrem „Versuch der Leidensabkürzung“ sogar einen Ausdruck ihrer Liebe.Footnote 13

Für die Mitleidsthese (i) mag sprechen, dass die Erzählerin in der zitierten Passage, die in dem Schubser kulminiert, Strass’ Krankheit erwähnt. Diese textuelle Kontiguität könnte ein Indiz dafür sein, dass der Gedanke an die Krankheit und die Handlung auch kausal miteinander verbunden sind und die Krankheit bzw. ihre Einstellung dazu der Anstoß für ihre Handlung ist.Footnote 14 Auch in anderen Passagen sind diese beiden Sachverhalte mittels Kontiguität miteinander verknüpft (vgl. A, 180), so dass sich dieser Eindruck einer Motivation der Leidensverkürzung aufbauen könnte. So wie sich am Ende des Romans die Absicht der Erzählerin immer stärker verdichtet, so sehr nehmen auch die Symptome der Krankheit zu, die die Erzählerin erwähnt. Durch diese Engführung – hier ist die Metapher aus der Musik passend – nähert sich die Handlung nicht nur ihrem Höhepunkt, sondern wird eben auch eine kausale Verbindung der beiden Motive (Tötungsplan und Krankheit) evoziert.

Allerdings ist der Gedanke an die Krankheit nicht alles, wovon die Erzählerin am Ende spricht. So erwähnt sie neben den Schnaken auch den Song mit dem Refrain „So go away“, den sie mit Strass gesungen hat, als sie sich kennenlernten (A, 39, 177), und anderes mehr. Das spricht nicht gegen die These (i). Vor dem Hintergrund des gesamten Romans, d. h. dessen, was über die erzählte Welt bekannt ist, spricht jedoch auch nichts für die die These (i).Footnote 15 Kein Element der erzählten Welt lässt sich aktiv ins Feld führen als Begründung für die These (i). Es gibt, soweit ich sehe, keine naheliegende Möglichkeit, das Mitleid der Erzählerin als Beweggrund mit Hilfe literarischer Motive oder ihrer psychischen Disposition zu begründen.

Anders die Rachethese (ii). Für sie gibt es – das sollte aus Abschn. 2.3. deutlich geworden sein – eine ganze Reihe von Hinweisen, die sich direkt aus der Beschaffenheit der erzählten Welt bzw. aus den Eigenschaften der Figur der Erzählerin ergeben. Die gesamte Geschichte, die sie erzählt, ist letztlich eine Aneinanderreihung von frustrierenden Erlebnissen. Sie wird von Strass permanent auf Abstand gehalten und ist viel allein, was in der Darstellung untergeht, weil sie sich in ihren Unterhaltungen seinen Interessen anpasst und dies nicht von sich aus als negativ beschreibt. Zudem sieht sie voraus, dass sie Strass nicht oft wird sehen können. Trotzdem kommt sie offenbar nicht gut mit der Situation zurecht, artikuliert dies aber nur an wenigen Stellen, unklar und defensiv. Sobald Strass weg ist, reagiert sie mit körperlichen Beschwerden (s. u. Abschn. 3.2). Diese Passagen lassen sich interpretieren als unterdrückte Gefühle, von denen es nicht unplausibel anzunehmen ist, dass sie sich am Ende zu Aggressionen verdichten. „Der Tötungsversuch ist die Reaktion auf die maßlose Enttäuschung, die die junge Frau erlebt“ (Lenzen 1980, 190).

Die diegetische Erklärung für die unzutreffende Sachverhaltsdarstellung der Erzählung ist demnach in ihrer Motivation zu suchen, die sie sich offensichtlich nicht einzugestehen in der Lage ist. Zu dieser Erklärung gehört auch eine Antwort auf die Frage, warum sie sich ihre wahren Gefühle nicht eingesteht. Eine Antwort könnte in dem späteren Satz zu finden sein, der schon als Hinweis auf Strass’ Weiterleben zitiert wurde. „Ich würde gern mit Strass weitermachen. Ich bewiese gern, daß mein Stoß nur Spaß und wegen der Schnaken war“ (A, 185). Sie hält an ihrer Version fest, was zeigt, dass sie über Strass noch nicht hinweggekommen ist und noch nicht ihrerseits Distanz gewonnen hat. Es ist ihre eigene Konfliktunfähigkeit, die sie daran hindert, mit Strass abzuschließen.Footnote 16

3.2 Zur Funktion des unzuverlässig erzählten Sachverhalts

In der Einleitung dieses Kapitels hieß es, dass der Sachverhalt, der als einziger in Abschied für länger durch unzuverlässiges Erzählen dargeboten wird, auf den ganzen Roman ausgreift. Das erfolgt zum einen mittels Andeutungen, die erst vor dem Hintergrund dieses Ereignisses im Nachhinein verständlich werden; zum andern steht dieses Ereignis mit einem früheren in enger Verbindung, das die Erzählerin beschäftigt: mit dem Sturz von Ruthie, über den sie nicht hinwegkommt.

In der hier vorgeschlagenen Terminologie geht es nun um den Bezugsbereich der Unzuverlässigkeit. Da es nur eine einzige Textstelle gibt, der als klarer Verstoß gegen die Wahrheitsverpflichtung zu deuten ist, ist es nötig zu zeigen, dass dieser Verstoß kein marginaler ist, sondern Bedeutung für den gesamten Roman oder einen überwiegenden Teil hat. Festzuhalten ist zunächst, dass die Textstelle den narrativen Höhepunkt betrifft. Die schleppend verlaufende Handlung kulminiert am Ende in einem, wenn auch lächerlich scheiternden, außergewöhnlichen Gewaltakt. Insbesondere für jemanden wie die Erzählerin ist es ein nicht alltäglicher Akt. Schon allein damit – mit dem Einsatz des Verfahrens an einem entscheidenden plot-Punkt – ist seine eminente Bedeutung für den Roman zu begründen und „triggert“ eine Interpretation, macht also eine Interpretation nötig.

Der Bezugsbereich der mit der Unzuverlässigkeit verborgenen Wahrheit über ihren Gemütszustand ist jedoch stärker ausgedehnt. Frühere Passagen erscheinen aufgrund dieser Wendung in einem neuen Licht. Sie dienen, wie eben in diesem Licht der letzten Wendung sichtbar wird, der Vorbereitung der Handlung bzw. der Widerlegung dessen, was die Erzählerin über ihre Motivation dieser Handlung zu sagen hat. Die Passagen zeigen, dass der Stoß eben nicht spontan erfolgt, sondern Resultat eines längeren Prozesses ist, auch wenn dieser ihr nicht vollkommen bewusst war.

Im vorigen Abschnitt wurde bereits erwähnt, dass die Erzählerin während eines Spaziergangs in der Nähe von Manchester nicht bei der Sache, nicht bei Strass ist, sondern ihren eigenen Gedanken nachhängt. Kurz zuvor hat Strass ihr gebeichtet, dass er nicht mehr verheiratet ist, nachdem er sie gefragt hatte, ob sie darüber verärgert sei, dass er sie nicht heirate, was sie bejaht hatte (A, 165). Wie gesagt, führt dieser Wortwechsel zu nichts. Die Erzählerin ändert sofort das Thema und kommt auf ihre Familie zu sprechen, nur um dann festzustellen, dass es nicht wahr sei, dass „ich in Dunham Park an euch dachte“ (A, 165). Sie dachte also an etwas anderes, und zwar: „ich sagte mir, er will mir ja nichts verschweigen, er hat einen bestimmten Grund, den vielleicht Monica kennt“ (A, 165). Dieser Satz ist nicht leicht mit dem vorhergehenden Gespräch zu vereinbaren, denn er hat ihr gegenüber die Scheidung nicht länger verschwiegen. Entweder hat die Beichte gar nicht stattgefunden und sie hat sich sein Bekenntnis nur eingebildet, oder das, was er nun verschweigt, bezieht sich auf etwas anderes, etwa die Schwere seiner Krankheit. Vermutlich trifft es letzteres. Mit Monica spricht er offenbar über seine Krankheit, nicht mit der Erzählerin. Auch eine spätere Passage spricht für diese Deutung: Als sie wieder zurück in London sind, imaginiert die Erzählerin einen Dialog zwischen Strass und Monica während des Essens in der Kantine: „Reden Sie doch richtig mit ihr darüber, sagt Monica zu Strass“ (A, 170), und: „er hat es immer noch nicht erledigt, was sie miteinander ausgemacht haben und was geklärt werden soll zwischen Strass und mir“ (A, 170).

Doch zurück zu der entscheidenden Passage des Einstellungswechsels der Erzählerin. Sie wiederholt mehrmals, dass sie „es“ sich sagte – also dass er einen bestimmten Grund für sein Schweigen habe, „aber das andere ging mir im Kopf herum, das viersilbige Wort“ (A, 165). Dieses Wort ist wahrscheinlich „Metastasis“, das sie im aufgeschlagenen Lexikon gesehen hat, bevor sie in den Park gefahren sind – wovon sie aber später erzählt (A, 166). Dazwischen, sie gehen noch im Park spazieren, findet sich die bereits zitierte Formulierung, wonach sie Strass nicht mehr zuhören kann: „mir ging etwas, das noch längst kein Plan war, im Kopf herum. […] es ging mir alles im Kopf herum und ich war kaum mehr fähig, der leisen Stimme neben mir zuzuhören“ (A, 166).

Innerhalb eines Absatzes benutzt sie mehrmals dieselbe Formulierung, dass ihr etwas im Kopf herumgehe. Es ist das „viersilbige Wort“, aber es ist auch „etwas, das noch längst kein Plan war“. Wenn das viersilbige Wort tatsächlich „Metastasis“ ist, so ist das letztere wohl etwas anderes. Die inzwischen naheliegende These ist, dass es sich um den Gedanken an den Tod von Strass handelt, den sie selbst herbeizuführen gedenkt. Denn von einem Plan oder einer Absicht ist nicht nur an dieser Stelle die Rede.

Die Erzählerin ist am Sonntag in Strass’ Stadt angekommen und nimmt sich gleich am Montag frei, um bloß nicht den Rückruf von Strass in ihrer Pension zu versäumen. „Über den ersten Tag möchte ich nicht reden“ (A, 34), sagt sie zu Beginn des Absatzes, in dem sie gleich von der telefonischen Verabredung mit Strass für eine knappe Stunde an demselben Abend berichtet. Der Tag allein war wohl nicht so schön, soll das heißen. Der nächste Absatz fängt analog an: „Ich rede gern von diesem Abend“ (A, 35), den sie mit Strass in einem Lokal verbringt; dies ein offensichtlich positives Erlebnis. Als sie sich trennen, führt das sogleich zu körperlichen Symptomen: „Kaum war er weg, spürte ich wieder Magen und Schultergelenk. Ich schweige mich aus über den Abend“ (A, 38). Noch immer ist von demselben Abend die Rede. Aber dieser Widerspruch ist keiner, der als Anomalie im Sinne des unzuverlässigen Erzählens gelten kann. Es ist klar, dass sie im ersten Fall lediglich den Teil des Abends meint, den sie mit Strass verbringt, und im zweiten den restlichen Abend, den sie allein verbringen muss. Der Widerspruch lässt sich also auflösen, indem man den Abend, um den es geht, in zwei Hälften teilt, den Teil des Abends mit Strass und den Teil danach ohne ihn. Die missverständliche bzw. verkürzte Formulierung zeigt nicht, dass sie mit sich im Unreinen wäre, sondern ihre totale Abhängigkeit von Strass.Footnote 17

Im Anschluss erzählt sie davon, wie sie Strass kennengelernt hat, und von seiner allgemeinen Beliebtheit. „Er kommt mit allen aus, mit den einfachen, […] mit den cleveren […] – sie würden Strass nichts Böses wollen. Niemand will das. Vielleicht niemand außer mir, manchmal. [Absatz] Ich wollte es nicht tun. [Absatz] Ich denke hierüber nicht allzuviel nach“ (A, 40).

Dieser Textstelle kann man entnehmen, dass sie von Zeit zu Zeit Aggressionen gegenüber Strass hegt. Wer wollte ihr das verübeln!? Im Lichte des Endes der Geschichte erhält diese Passage aber plötzlich eine konkrete Bedeutung. Besonders der durch Absätze hervorgehobene Satz „Ich wollte es nicht tun“ lässt sich als Vorausdeutung auffassen. Auch ohne zu wissen, wie die Geschichte ausgeht, lässt sich erschließen, dass sie in der Zwischenzeit etwas getan hat, vermutlich etwas, das mit Strass zu tun hat und das ihm oder ihrer Beziehung Schaden zufügt. Offen bleibt, ob sie es tatsächlich nicht tun wollte oder ob sie sich das, nachdem es passiert ist, nachträglich einredet. Ungewiss ist auch, ob hier wie bei den folgenden Wiederholungen dieser Phrase nur das erzählende oder auch das erlebende Ich spricht. Ist diese Phrase nur dem erzählenden Ich zuzuschreiben, das dies retrospektiv – vielleicht bereuend, vielleicht sich rechtfertigend – feststellt, dann bricht ihre Einstellung der Erzählgegenwart in die Handlungsgegenwart ein, in der sich diese Frage, ob sie es tun soll oder nicht, noch gar nicht stellt. Ist demgegenüber diese Phrase auch dem erlebenden Ich zuzuschreiben, dann stellt das Ich sich diese Frage bereits in der Handlungsgegenwart und gibt immerhin zu verstehen, dass ihr dieser Gedanke schon recht früh gekommen ist. – Für die letztere These spricht die Formulierung davor: „Vielleicht niemand außer mir [will Strass Böses], manchmal“. Das ist zumindest an dieser Stelle ein vergleichsweise klarer Hinweis darauf, dass ihre Einstellung Strass gegenüber nicht so konstant duldsam ist, wie sie im Allgemeinen zu verstehen gibt.

Da sie vor allem von ihrem duldsamen Verhalten erzählt und ihre Einstellung weitgehend außer Acht lässt, erzählt sie, streng genommen, nichts Falsches über ihre Einstellung. Aber dadurch, dass sie ihre Einstellung, die offensichtlich nicht immer mit ihrem Verhalten konform ist, unterbelichtet lässt, gibt sie tendenziell zu verstehen, dass ihre Einstellung nicht im Widerspruch zu ihrem Verhalten steht. Das heißt dann, dass sie tendenziell durch Unterlassung doch etwas Falsches zu verstehen gibt. Verknüpft man also die, wie ich gleich noch belegen werde, hochrekurrenten Phrasen, die sich auf den Mordplan beziehen, mit ihren Aussagen, die in unmittelbarer Nachbarschaft mit diesem Ereignis stehen, dann zeigt sich, dass ihre Unzuverlässigkeit, die sich konkret nur auf ihre Einstellung in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu ihrer Tat bezieht, auch auf ihre frühere Einstellung bezogen werden kann. Das „Ich wollte es nicht tun“ hat nicht nur behauptenden, sondern beschwörenden oder beschwichtigenden Charakter, der dazu führt, die Behauptung in Zweifel zu ziehen.

Schon wenige Seiten später folgt eine Variante, die die spätere Formulierung vorweg nimmt. Unvermittelt liest man die wiederum eigens abgesetzte Mitteilung (an sich selbst wohl): „Nein, ich hatte keinen Plan“ (A, 42). Einen Zusammenhang gibt es nicht. Vorher ist von einem Essen mit den Filmleuten die Rede, über das sie, wie sie erzählt, nicht mit Strass redet, hinterher von den Briefen, die sie mit ihrem Vater wechselt.Footnote 18

Während des Aufenthalts mit Strass in der Kreisstadt spaziert sie über den örtlichen Friedhof und sinniert über ein vernachlässigtes Grab mit einem Familiennamen, der auch in Tante Gustas Familienzweig vorkommt. Ihre Tante wird in diesem Jahr noch ins Heim gebracht und dort bald sterben, und die Erzählerin sieht voraus, dass Tante Gustas Grab bald ähnlich verkommen aussehen wird, weil sich genauso niemand darum kümmern wird wie um das Grab, vor dem sie in der Handlungsgegenwart steht. Unvermittelt folgt auf den Absatz: „Ich wollte es nicht“ (A, 61), ehe sie in einem weiteren Absatz wieder auf Strass und den Stadtpark zu sprechen kommt.

Auch später noch wiederholt sie die Sätze, dass sie es nicht habe tun wollen (A, 105) bzw. dass sie keinen Plan gehabt habe (A, 93, 112, 144). Diese Formulierung greift sie an der weiter oben zitierten Stelle auf und modifiziert sie insofern, als ihr etwas „im Kopf herum“ geht, „das noch längst kein Plan war“ (A, 166). Dass sich in ihrer Einstellung etwas verschoben hat, bestätigt sich, denn: „So etwas wie einen Plan, daß es den gab, könnte sein, Ruthie, mehr nicht, aber ich hatte keine Lust, ihn auszuführen, glaub mir das“ (A, 176). Dies äußert sie, als sie davon berichtet, dass sie mit Strass bei David und Monica im Bett liegt. Je näher das Ende rückt, desto stärker konkretisiert sich ihr Plan. Nicht an die baldige Rückreise denkt sie,

sondern das andere ging mir im Kopf herum, Ruthie, ich hatte es in mir, Strass sang leise mit vergnügtem Gesicht So go away, so go away, immer nur den Refrain, mitten im Foyles. Mir aber ging der Plan nicht aus dem Kopf, noch hatte ich keinen bestimmten Tag für die Ausführung, aber das Vorhaben selber wurde deutlich, ich sah Strass in seinem Regenmantel, der Schal wäre etwas hochgeschoben im Nacken. Selbstverständlich wäre Strass in Straßenkleidung. An eine Vollstreckung in Zimmern habe ich nie gedacht. Ich habe gedacht, am Wasser wäre es wohl richtig. (A, 176 f.)Footnote 19

Von nun an ist alles, was sie tut, darauf ausgerichtet, Strass ans Wasser zu bekommen und dort eine geeignete Stelle für ihren Plan zu finden. Ihr Wunsch, einen gemeinsamen Ausflug ans Meer zu machen, bezieht sich genau darauf, und als er ablehnt und eine Alternative vorschlägt, besteht sie darauf, trotzdem irgendwo ans Wasser zu gehen. Aber in London an der Themse findet sie keinen passenden Ort. „Auf dem Balkon der Mayflower konnte ich mich nicht entschließen, es störte auch die Rampe“ (A, 179). Außerdem herrscht gerade Ebbe. Auch weiter flussaufwärts ergibt sich keine Gelegenheit (A, 179 f.). Schon sind sie auf dem Rückweg, und die Erzählerin denkt in Zeitnot „an Verkehrsunfälle oder an einen Untergrundschacht“ (A, 180).

Die letzte Episode in Windsor wird dann mit folgendem Satz eingeleitet: „Ich konnte mich nicht leicht von Strass trennen, Ruthie, falls du das denkst“ (A, 182). Sie gehen an den Ufern der Themse entlang, auf der einen Seite hin, auf der anderen zurück, aber sie kann sich noch nicht dazu durchringen, bis sie am Ufer stehen. „Ich nehme an, jetzt wollte ich es tun, das ist möglich“ (A, 182). Und dann tut sie es.

Sie setzt also einen Plan, den sie lange vor sich selbst leugnet, in die Tat um, und man kann auch angeben, ab wann der Plan in ihr reift. Die eingestreuten Absätze, in denen sie abstreitet, einen Plan gehabt zu haben oder es nicht habe tun wollen, sind auch irreführend. Sie mögen auf den Zeitpunkt des erlebenden Ich zutreffen, aber nicht, wenn man sie auf die erzählte Welt als ganze (d. h. als temporal abgeschlossene) bezieht. In narrativer Hinsicht sind diese Absätze Vorausdeutungen, in psychologischer Hinsicht könnte man sie als Hinweis auf ihre verborgenen Aggressionen – den Tötungswunsch – verstehen.

Es dürfte durch die zahlreichen Wiederholungen der Leugnung eines Plans oder einer Absicht deutlich geworden sein, dass der Bezugsbereich des verleugneten Sachverhalts den Roman und die erzählte Geschichte stark durchdringt. Diese Durchdringung wird durch einen weiteren Umstand noch intensiver, der mit dem Tötungsversuch verbunden ist: durch den Tod ihrer Schwester Ruthie, an dem die Erzählerin schuld zu sein glaubt. Sie hat mit ihrer Schwester wohl um einen Hund aus Zelluloid gewettet, dass sie nicht auf eine Platane in der Nähe ihres Elternhauses klettert (A, 16, 19).Footnote 20 Doch hat Ruthie genau das getan. Dass die Erzählerin deswegen Schuldgefühle hegt, ist verständlich. Wer wen angestiftet hat, ist jedoch unbekannt. Deutungsheischend ist die betont beiläufige Bemerkung „übrigens“, dass sie Ruthies „Kätzchenkleid“ bekommt (A, 19). Daraus kann man zumindest schließen, dass die Erzählerin es ihrer Schwester geneidet hat. Ob aus diesem Neid abgefeimte Pläne zur Übernahme des Kleids erwachsen sind, darüber kann man jedoch nur spekulieren.

Merkwürdig ist aber noch etwas anderes: Die beiden Mädchen sind nämlich schon fast erwachsen, als das passiert. Dies wird aber erst auf der letzten Seite offenbar. Zuvor gewinnt man eher den Eindruck, dass die Mädchen noch jünger sind, als Ruthie vom Baum stürzt: „Und mir ist keiner mit Vorwürfen gekommen, ich war auch noch zu klein“ (A, 18). Doch war die Erzählerin vierzehn Jahre alt und Ruthie noch etwas älter, mindestens fünfzehn. (Die Erzählerin muss in dem Jahr der erzählten Geschichte 34 Jahre geworden sein, denn zu Beginn ist sie 33 Jahre alt, und Ruthies Tod ist am Schluss auf den Tag zwanzig Jahre her.) In diesem Alter passt man in der Regel auf, wenn die Zeit des Bäumekletterns nicht ohnedies schon längst vorbei ist. Und mit vierzehn Jahren ist man wohl auch nicht mehr zu klein, um über einen solchen dramatischen Vorfall zu sprechen.

Vielleicht sollte man diese Altersangabe aber auch nicht überbewerten. Zusammen mit der Andeutung, die in der Erwähnung von Ruthies Kleid liegt, könnte man darauf schließen, dass Ruthies Sturz nicht nur durch eine harmlose Kinderwette herbeigeführt wurde; doch gibt es keine konkreteren Hinweise darauf, ob die Erzählerin hier noch etwas verbirgt. Deutlich ist indes die motivische Verbindung zwischen Ruthie und Strass. Ihr Attentat auf Strass – das offenbar ihr einziger Weg zur Lösung ihrer Probleme darstellt – könnte aufgrund dessen als drittes indirektes Indiz darauf verstanden werden, dass sie mehr mit Ruthies Sturz zu tun hat, als sie wahrhaben möchte.

Davon abgesehen, zeigt die Verbindung der Motive gewiss die ähnlich große Bedeutung, die Ruthie und Strass für die Erzählerin haben. Ruthie ist die Adressatin ihrer Rede, und auch als sie von dem Abend erzählt, als sie Strass kennenlernt, ist Ruthie schon sozusagen dabei, denn „ich nehme dich mit[,] wohin ich kann, immer“ (A, 39).Footnote 21 Ihr ganzes Denken und Fühlen ist auf Personen in ihrem Umfeld gerichtet, die für sie unerreichbar sind. Zu Tante Gusta scheint sie in dem Moment eine stärkere Beziehung aufzubauen, als sie dement ins Heim kommt.

Als Fazit lässt sich somit festhalten, dass die Erzählerin nachweislich unzuverlässig ist mit Bezug auf einen einzigen, aber gleichsam dramatisch exponierten Sachverhalt, und dass diese Unzuverlässigkeit ihrerseits als ein Hinweis unter mehreren, erstens, darauf funktionalisiert werden kann, dass sie doch mehr mit dem Tod ihrer Schwester zu tun hat, als sie sich eingestehen kann, und zweitens darauf, dass sie erheblich früher Aggressionen gegen Strass zu hegen beginnt, als sie überwiegend zu verstehen gibt.

Wichtig ist mir, dass die Interpretationshypothese über ihre Verantwortung an Ruthies Tod sich nicht auf einen weiteren Sachverhalt bezieht, über den sie sich unzuverlässig äußert. Sie äußert ihre Schuldgefühle, und es ist nicht klar, wie berechtigt oder unberechtigt sie sind. Dieser Sachverhalt über ihre Tatbeteiligung liegt im Graubereich der erzählten Geschichte, und d. h. man kann nur so viel sagen, dass es bestimmte Indizien gibt, die belegen, dass dieser Sachverhalt im Roman angelegt ist, aber nicht, dass dieser Sachverhalt in der erzählten Geschichte tatsächlich besteht.

3.3 Zur Möglichkeit der Verallgemeinerung des Befunds

Wenn die Erzählerin mit Bezug auf ihre Motivation für den vergeblichen Todesstoß explizit etwas anderes zu verstehen gibt als der Fall ist, stellt sich die Frage, ob sie mit Bezug auf andere ihrer Einstellungen ebenfalls etwas anderes zu verstehen gibt als der Fall ist. Könnte man diese Frage bejahen, wäre ihre Unzuverlässigkeit nicht nur auf jenen einen Sachverhalt bezogen, sondern von grundsätzlicherer Natur.

Was gibt sie über ihre Einstellung Strass gegenüber zu verstehen? Wie beurteilt sie sein Verhalten ihr gegenüber? Sein Verhalten ist nicht sonderlich liebevoll, aber sie mag ihn trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen. In beiden Fällen, bei beiden Figuren, ist über ihre Einstellungen nichts direkt zu erfahren, sondern nur über den Umweg ihres Verhaltens bzw. Nicht-Verhaltens. Dass Strass nicht liebevoll ist, lässt sich daraus erschließen, dass das Wohlergehen der Erzählerin nicht seine Priorität ist. Das Wichtigste für ihn ist seine Arbeit. Ihre Enttäuschung darüber artikuliert sie selten und nur sehr indirekt. Sie möchte geheiratet werden. Sie beschwert sich nicht über seinen Kommunikationsstil, sondern fordert die offizielle Anerkennung ihrer Bindung. Soll das heißen, dass sie mit allem zufrieden wäre, wenn er sie heiratete und sich ansonsten so überarbeitet und müde zeigte wie bisher? Anders gefragt: Ist der unerfüllte Heiratswunsch ein Zeichen, das auf ihre aussichtslose Beziehung verweist, indem er ihr gemeinsames Problem auf den Punkt bringt? Oder ein Zeichen, das ihre Oberflächlichkeit charakterisiert, ihre Unfähigkeit, das eigentliche Problem zu erkennen? Steht die ausbleibende Heirat für das Problem der beiden oder verdeckt sie das eigentliche Problem?

So gestellt, setzt die Frage voraus, dass die Beziehung zwischen der Erzählerin und Strass statisch ist. Tatsächlich hegt sie den Heiratswunsch kontinuierlich, und es spricht auch für die Unveränderlichkeit der Beziehung, dass sie ihn nach England begleitet. Aber ihre Beziehung hat sich eben doch verändert, auch wenn es lange zu keiner Verhaltensänderung kommt. Die Erzählerin erkennt aufgrund seines Verhaltens mit der Zeit die Aussichtslosigkeit ihres Wunsches und hegt zeitweise Trennungsgedanken. Zum zweiten weiß sie am Ende des ersten Teils, dass er ihr die Scheidung von seiner Familie verschweigt.

Was ist der Fall? – Dass sie bestimmte Eigenschaften, die vermutlich gar nicht so viele Leute liebenswert finden, liebenswert findet, kann sein. Dass sie sein Arbeitsethos akzeptiert, obwohl es auf ihre Kosten geht, gibt sie zu verstehen. Aber irgendwann akzeptiert sie sein Verhalten nicht mehr. Damit wäre sie nicht unzuverlässig, sondern änderte einfach ihre Einstellung. Vor dem Hintergrund der Zweifel, die man an ihrer Einstellung aufgrund der hier vorgebrachten Argumente hegen kann, gibt sie jedoch über weite Strecken etwas anderes über ihre Einstellung zu verstehen (Hingabe und Langmut) als der Fall ist (Aggressionen und Enttäuschung). Damit verbunden ist ihre Überzeugung, dass sie ihre Beziehung lange für harmonisch und zukunftsträchtig hält. Die hier zusammengetragenen Argumente sprechen jedoch dafür, dass sie bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt diese Überzeugung nicht ungebrochen haben kann und einen anderen Eindruck erweckt oder zumindest sich nicht bewusst darüber ist, was in ihr gärt.

Es mehren sich also die Zweifel an ihrer Einstellung, wenn man das, was sie erzählt, gewissermaßen von hinten aufrollt und die einschlägigen Textstellen, die über die Rekurrenzen mit dem Ende verknüpft sind, im Lichte der eindeutig unzuverlässig erzählten Passage reinterpretiert. Im folgenden Abschnitt wird sich zeigen, dass sich mit Bezug auf ihren Heiratswunsch die Unzuverlässigkeit der Erzählerin, was ihre Einstellung betrifft, immer weiter ausdehnt.

4 Ein Anti-Liebesroman: Zur Interpretation

Es gibt Oberflächenphänomene des Romans, die bei einer konzentrierten Analyse aus dem Blick zu fallen drohen. Daher seien sie hier genannt: Die beiden zentralen Figuren sind Strass und die anonyme Erzählerin. Der Mann wird nicht bei seinem Vornamen genannt, die Erzählerin hat keinen Anlass, ihren zu nennen. Schon dieser Umstand gibt den unpersönlichen Rahmen vor, in dem die Handlung sich bewegt. Die Handlung selbst besteht im Wesentlichen in der Dokumentation der Beziehung der beiden Figuren. Diese ist geprägt von einer offensichtlich gestörten Kommunikation. Das ist es zumindest, was sich in ihr vermittelt, auch wenn die Erzählerin das nicht explizit ausspricht. Zentrale Themen beider werden jeweils nicht angesprochen: Er verschweigt ihr die Scheidung von seiner Frau, während sie ihm (im zweiten Teil) verschweigt, dass sie davon weiß. Auch über die Erkrankung sprechen die beiden kaum. Strass ist derjenige, der am wenigsten darunter leidet. Man erfährt jedenfalls nichts darüber, dass er mit dem Ist-Zustand unzufrieden wäre. Anders die Erzählerin. Sie ist unzufrieden, artikuliert das jedoch nicht als erzählendes Ich. Nur als erlebendes Ich deutet sie ihre Unzufriedenheit an, ohne aber dass sie Strass damit erreicht. Am deutlichsten spricht sie sich in ihrem Heiratswunsch aus, auf den Strass nicht eingeht.

Als „ehemalige[r] Mathematikstudent“ (A, 18) und „Statistiker aus Passion“ (A, 35) und von Beruf Organisationsberater, der Betriebsabläufe rationalisiert, ist Strass mit biographischen Eigenschaften ausgestattet, die ihn – wenn man sie denn auf seinen Charakter projiziert – als jemanden kennzeichnen, für den Gefühle, geistige Werte, auch Kunst keinerlei Bedeutung haben. Dass er im Privaten mit Vorliebe über seine Arbeit spricht, bestätigt seinen Charakter.Footnote 22 Er ist insofern recht eindeutig festgelegt.Footnote 23 Sein Verhalten wird als Folge „seines verdinglichten Bewußtseins“ interpretiert (Knapp/Knapp 1981, 75). Die Erzählerin steht nicht in Kontrast dazu, denn sie hat kaum eigene Interessen.Footnote 24 Im Kontrast dazu stehen die Filmleute. Sie sind ihr gegenüber nett und aufgeschlossen, aber sie ist dafür überhaupt nicht empfänglich. Sie zeigen Empathie und symbolisieren mit ihrer Tätigkeit einen gesellschaftlichen Bereich (aufklärerischer Dokumentarfilm über die Lebenseinstellung von jungen Frauen), der dem, den Strass repräsentiert, entgegengesetzt ist. Hier zeigt sich ein Ausweg aus ihrer Misere, doch sie missachtet ihn konsequent, weil sie nur darauf aus ist, Strass näherzukommen.

Auf diese Weise kommt man zu einer ziemlich holzschnittartigen Interpretation, der gemäß die Botschaft des Textes darin liegt, dass der Grund für die Kommunikationsunfähigkeit in dem geistigen Vakuum der beiden Protagonisten zu suchen ist. Das ist jedoch nur einer von mehreren Aspekten. Der Text lässt sich im Übrigen keineswegs darauf festlegen, dass in den Filmleuten eine durch und durch positive Gegensphäre zu sehen ist, die das Defizit der Sphäre bloßlegt, für die Strass steht.Footnote 25 Aufgrund seiner Machart bieten sich mehrere Gründe an. Die Versuchung ist groß, den Grund zunächst bei Strass zu suchen, auf dessen Person das Fühlen und Wollen der Erzählerin vor allem ausgerichtet ist.Footnote 26 In der Sekundärliteratur wird indes am häufigsten die Familie der Erzählerin als tieferer Grund für ihr Scheitern angegeben und dafür, dass sie überhaupt an jemanden wie Strass gerät. Hingewiesen wird schließlich auch noch auf ihren introvertierten Charakter (Knapp/Knapp 1981, 75). Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, dass der Text eher eine Bestandsaufnahme des Problems der Kommunikationsunfähigkeit enthält als eine klare und verallgemeinerungsfähige Auffassung darüber, was der Grund für das Problem ist. Die Gründe mögen im Text mittels Andeutungen angelegt sein, als eindeutige Botschaft aber, so meine Meinung, lässt sich keiner von ihnen identifizieren. Am Beispiel des am häufigsten genannten Grundes ‚Familie‘ werde ich zunächst zu zeigen versuchen, dass die kausale Verbindung zwischen der Beziehung zur Familie und der Beziehung zu Strass mehrere Varianten zulässt, die alle ihre interpretatorische Berechtigung haben.

Das Hauptziel dieses Abschnitts ist jedoch, im Ausgang von der festgestellten Unzuverlässigkeit der Erzählerin ein genaueres Bild von ihrer Einstellung und Motivation zu erhalten, über die sie falsche Angaben macht. Die leitende Frage lautet, was sich in der Einstellung, die Anlass für den Mordversuch ist, ausdrückt. Drückt sich darin nur das einzelne Schicksal aus, das die Erzählerin ausmacht? Oder vermittelt sich darin eine generelle Botschaft über die Beziehung von Menschen? Damit hängt auch die Frage nach der Liebe zusammen. Ist die Erzählerin Opfer von Strass oder Opfer ihrer eigenen fehlgeleiteten Vorstellungen oder doch eher der Umstände, die außerhalb ihrer Macht stehen? Welche Stelle besetzt die Familie?

4.1 Die Familie als Grund des Scheiterns?

Die Forschung konzentriert sich, auch angesichts des Gesamtwerks von Gabriele Wohmann, auf den Faktor der Familie, der auf die Erzählerin einwirkt. Weil die Familie in den sonstigen Werken Wohmanns eine so große Rolle spielt, wird sie auch in der Interpretation von Abschied für länger als Größe angenommen, in deren Horizont die Beziehung zu Strass gedeutet wird. „Wohmanns Erzählgestalten kommen von ihrer Familie nicht los“ (Jurgensen 1983, 130). Das liegt insofern auch im vorliegenden Text nahe, als die Familie für die Erzählerin auch nach ihrem „Abschied für länger“ ein wichtiger Bezugspunkt bleibt. Nicht nur kehrt sie im Sommer zeitweise und nach dem Englandaufenthalt wohl endgültig zu ihr zurück, auch in den Wochen, die sie bei Strass bzw. in seiner Nähe verbringt, ist sie in Gedanken (und mit Briefen) häufig bei ihrer Familie.

Die Familie der Erzählerin zeichnet sich durch mehrere Eigenschaften aus. Viele Interpreten konzentrieren sich auf die hierarchische Familienstruktur mit ihrem patriarchalen Geschlechterverständnis, die sie in dieser Familie erkennen. Deutlich wird dieser Zugang in einer These mit generischer Konsequenz: „‚Abschied für länger‘ erzählt nicht, wie häufig behauptet wurde, eine Liebes-[,] sondern eine Familiengeschichte. […] Die von der Hauptfigur angestrebte Liebesgeschichte wird durch die Familiengeschichte vereitelt“ (Häntzschel et al. 1982, 127). In Abschied für länger „liefert die Autorin Anamnese und Befund“ zugleich, der Roman gebe damit nicht nur eine Bestandsaufnahme des Leids, sondern auch eine Erklärung für seine Entstehung, also eine „Ätiologie dieser psychischen Labilität“ (ebd., 133). Die Ursache wird „in der starren, unveränderbaren Rollenaufteilung unter den Familienmitgliedern“ gesehen, die eine Familienstruktur bewirke, welche kein souveränes soziales Handeln zulasse (ebd., 128). Auch nach Eidukevičienė (2003, 133) „prägt die Abhängigkeit der Tochter von der Elternfamilie alle anderen Beziehungen, die die junge Frau anzuknüpfen versucht, um sich dem Einfluß ihrer Eltern zu entziehen.“

In dem abschließenden Nebensatz kommt eine zusätzliche These zum Ausdruck. Danach liebt die Erzählerin Strass nicht um seiner selbst willen, sondern sieht in ihm einen Ausweg, die eigenen familiären Bindungen zu lösen. Und mehr noch: Da Strass’ Erkrankung diese Möglichkeit endgültig zunichte mache, gebe ihn sie am Ende auf: „Erst als ihr völlig klar wird, daß ihre Hoffnungen wegen der tödlichen Krankheit Strass’ unerfüllt bleiben werden, verläßt sie ihren Geliebten und kehrt zur Familie zurück. Sie erweist sich als unfähig, ein selbstbestimmtes Leben zu führen“ (Eidukevičienė 2003, 187).

Es gibt eine Reihe von Hinweisen im Text, die eine dubiose Bedeutung der Familie für die Erzählerin zu kennzeichnen scheinen, so etwa den, dass die Familie in einer Sackgasse wohnt, in die sie am Ende zurückkehrt (A, 185). Am stärksten dafür sprechen die bereits zitierten Passagen, wonach die Erzählerin selbst mit seltsamen Formulierungen die Frage aufwirft, ob sie vor der Familie flieht.Footnote 27

Schon Lenzen (1980, 186) verknüpft die Liebe zu Strass oder die Hoffnung bzw. die Gefühle für ihn insofern mit der Familie, als die Enttäuschung über die Familie der Grund für die Annäherung an Strass sein soll. Dieser Interpretation gemäß wäre die Äußerung der Erzählerin, wonach sie „nicht weg von der Familie“ (A, 12), sondern zu ihm hin fahre, unzuverlässig. Dass sie sich dann dabei ertappt, laut zu werden, könnte ein Indikator dafür sein. Schon davor deutet sie an, dass es „insgeheim“ (A, 11) ihr Plan gewesen sein könnte, nicht zur Familie zurückzukehren. Aber was sie im Anschluss daran äußert, kann auch einige Plausibilität für eine ganz andere These beanspruchen: „Eine Sache wie die zwischen Strass und mir läßt sich nicht über ungefähr sechshundert Kilometer abwickeln“ (A, 11). Abgesehen davon, dass die Ausdrücke „Sache“ für Liebesbeziehung und „abwickeln“ nicht sonderlich angemessen klingen und daher literarisch vielsagend sind, geht aus diesem Satz jedenfalls hervor, dass sie die Familie verlässt, um eben die Sache mit ihm abzuwickeln.

Das letzte Wort mag hier auch ‚ausleben‘ bedeuten, wahrscheinlicher aber ist, dass es ‚klären‘ oder ‚beenden‘, jedenfalls „eine Entscheidung treffen‘ bedeutet. Immerhin dauert das Verhältnis schon eine Weile an, wie daraus hervorgeht, dass sie auch an gemeinsame Reisen denkt, die schon länger zurückliegen. Auf die zitierte Textstelle könnte man also die Annahme gründen, dass sie zu Strass fährt, um ihn zu einer Entscheidung zu bewegen. Was sie im Anschluss schildert, spricht jedoch nicht dafür; jedenfalls verfolgt sie diesen Plan nicht offensiv. Aber es gibt durchaus Andeutungen, dass sie den Zustand nicht ewig aushält, etwa wenn sie mit ihrer Abreise droht. Zwar realisiert sie sie nicht, aber kurz darauf erhält sie ja die unerwartete Information über seine Scheidung, was sie dazu veranlasst, Strass noch einmal etwas Zeit zu geben. So gesehen, erscheint die Erzählerin etwas weniger ausgeliefert oder willenlos als die meisten Interpretationen annehmen.

Der Grund für ihren Abschied von der Familie ist Strass. So sieht sie es. Die Frage ist, ob sie es richtig sieht und nicht doch Strass a) nur ein Vorwand ist, um die Familie zu verlassen, oder b) die Familie ihre Beziehung zu Strass negativ determiniert. Meiner Meinung nach sind beide Thesen zu stark, sofern sie exklusiv aufgefasst werden. Die Familie wird von der Erzählerin nicht als negativ erlebt, und es gibt kein schlagendes Argument dafür, dass sie in dieser Hinsicht unzuverlässig ist.Footnote 28 Dasselbe gilt für (a). Ein Argument lautet, dass ihre geschlechtstypisch anerzogene Duldsamkeit die Beziehung zu Strass präge (Eidukevičienė 2003, 134). Dagegen spricht aber, dass sie noch als Erwachsene ihrem Verlobten Rudolf gegenüber unduldsam ist. Der Text legt deswegen nicht nahe, dass das Erziehungsverhalten der Eltern sich auf den Charakter der Erzählerin auswirke. Dass ihr ehemaliger Verlobter ihr Unbeherrschtheit vorhält, lässt sich durch den Hinweis darauf, dass sie schon als Kind so gewesen ist, als Bestätigung dieses Charakterzugs deuten, der nun im Verhältnis zu Strass merkwürdigerweise außer Kraft gesetzt ist. Es gilt also herauszufinden, warum sie ihre Unbeherrschtheit, die sie schon als Kind, aber auch noch als Erwachsene ausgezeichnet hat, in der Beziehung zu Strass so lange unterdrückt.

4.2 Andere Gründe des Scheiterns: Die Persönlichkeiten von Strass und der Erzählerin

Dass die Erzählerin mit 33 Jahren noch bei ihren Eltern wohnt und eine Beziehung mit einem verheirateten Mann hat, gehört sicherlich nicht zu einer in den 60er Jahren allgemein anerkannten Lebensweise. Von einem Druck, ihre Lebensweise an die Gepflogenheiten anzupassen, ist zwar nicht direkt die Rede. Die Erzählerin macht, im Gegenteil, zu Anfang deutlich, dass ihr die Trennung von der Familie nicht leicht gemacht wird. Dennoch spricht gerade aus ihrem Heiratswunsch auch der Wunsch nach Legitimation bzw. nach Veränderung ihrer Lebensweise hin zu dem, was damals allgemein üblich war. Gerade unter den gesellschaftlichen Bedingungen in der Bundesrepublik der 60er Jahre ist dieser Wunsch nicht seltsam. Zugleich begibt sich die Erzählerin damit der Chance auf ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben. Sie tauscht die Abhängigkeit von der Familie mit der Abhängigkeit von einem Ehemann und denkt offensichtlich gar nicht an eine andere Möglichkeit. Auf der Basis dieser Beobachtung könnte man also zu dem begründeten Schluss kommen, dass sie sich so lange kontrolliert, weil sie sich die Chance auf ein gesellschaftlich akzeptiertes Leben als Frau an der Seite eines allseits beliebten, arbeitsamen Beraters nicht verbauen will. Erst als sie erkennt, dass er sie nicht heiraten wird, und vielleicht auch als sie realisiert bzw. zu realisieren meint, dass Strass moribund ist, stößt sie ihn ab. Seine Krankheit nimmt ihr endgültig die Chance auf die Heirat.

In vielen literaturwissenschaftlichen Abhandlungen, die in der Mehrheit knapp zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung des Romans erschienen sind, wird die Selbstbeschränkung, die in ihrem Heiratswunsch liegt, als Defizit eingeschätzt.Footnote 29 Dass die Erzählerin scheitert und am Ende in der Sackgasse ihrer Familie landet, könnte man als Bestätigung dieser These ansehen: Hätte die Erzählerin eine emanzipiertere Auffassung von sich selbst als Frau, wäre ihr das vielleicht nicht passiert. Allerdings: Diese Alternative ist im Roman nirgendwo angelegt.

Eidukevičienės (2003, 173) Analyse ihrer Einstellung, wonach „die sich selbst aufgebende Liebende eine bessere Lebensqualität zu erreichen [scheint], als ihr der völlige Verzicht auf Liebe ermöglichen könnte“, ist daher nur halbrichtig. Dass es für die Erzählerin besser sei, sich an Strass oder die Familie zu verlieren, als sich auf sich selbst zu besinnen, beschreibt den Roman nicht angemessen, weil die Option, ein emotional unabhängiges Leben zu führen, in der Welt der Erzählerin gar nicht existiert. Eidukevičienė (2003, 196) stellt selbst mit Hinweis auf das Frauenbild in anderen Werken der Autorin fest: „Die Figuren Wohmanns erhalten ihre Beziehungen, weil für sie scheinbar nicht nur das Geborgensein, sondern auch das Gebundensein wichtig ist.“ Die Frauen fänden sich mit ihrer Rolle ab, die ihnen „von ihren Männern“ zugewiesen wird, „obwohl diese [Rolle] ihre Entfaltungsmöglichkeiten verhindert“ (ebd.). „Die meisten Frauenfiguren Wohmanns sind unfähig zu einer Auseinandersetzung. Sie vertreten die Überzeugung, daß das Leben nur noch nach traditionell festgelegten Regeln ablaufen kann, und haben Angst vor Neuem“ (ebd., 197). Wiederum ist den Formulierungen anzumerken, dass das Frauenbild in Wohmanns Werken für defizitär gehalten wird. Doch ist die Bewertung, dass das Verhalten der Frauen defizitär sei, nicht Teil des Werks.Footnote 30

Wie bereits mehrfach erörtert, verweigert Strass der Erzählerin, ihm näher zu kommen, indem er alles, was ihn zu irgendetwas verpflichten könnte, ablehnt. Sie soll nicht in seiner Firma arbeiten und ihn schon gar nicht heiraten. Es gibt eine vielsagende Passage dazu (A, 73): Auf ihren wiederholt geäußerten Heiratswunsch und seine Weigerung hin lachen sie. Die Formulierung lässt darauf schließen, dass dieser Wortwechsel bereits so etwas wie ein running gag zwischen ihnen geworden ist, wobei es nur für Strass ein gag ist, während die Erzählerin sich ihm in dieser Hinsicht – wie auch sonst in vielen anderen Hinsichten – anpasst, wahrscheinlich um es ihm leicht zu machen und ihn nicht zu Entscheidungen zu bringen, die gegen ihre Interessen sind. „Es war das Übliche, unsere ernste unaufgeklärte Angelegenheit“ (A, 73). An dieser Formulierung wird deutlich, dass sie die Situation doch reflektiert. Sie lachen, aber für sie ist die Sache ernst und ungelöst, ein Problem also, was es für ihn offensichtlich nicht ist. „Er sagte wiedermal, ich solle nicht so direkt sein. Es sei unweiblich. Wieder Lachen“ (ebd.).

Es sind nur wenige kurze Sätze, die die Diskrepanz zwischen der Erzählerin und Strass offenbaren. Die Auffassung, sie verhalte sich „unweiblich“, ist eine Ausrede und kann als Hinweis auf chauvinistische Geschlechterklischees bzw. eine patriarchale Einstellung verstanden werden: Danach hat eine Frau keine Forderungen zu stellen und keine Ansprüche zu haben, jedenfalls nicht zu artikulieren. Ist das die Idee, die darin zum Ausdruck kommen soll? Es ist zumindest eine von mehreren, die im Bedeutungspotential dieser Darstellung liegen, aber festlegen kann man sich auf sie nicht, denn zugleich wird die Erzählerin als eine Person beschrieben, für die die Bindung an den Mann das höchste Ziel ist. Es ist gerade nicht die Selbständigkeit, die sie für erstrebenswert hält. Damit verhält sich die Erzählerin selbst dem patriarchalen Muster völlig konform. Weder bestätigt der Roman den Wert dieses Musters, noch stellt er ihn in Frage. Er beschreibt dieses Muster lediglich und ist daher in dieser Hinsicht nicht axiologisch unzuverlässig.

Bislang habe ich das Argument stark gemacht, dass es Strass’ liebloses Verhalten ist, das sie zu ihrer Tat bringt; genauer gesagt, seine Weigerung, sie zu heiraten, denn mit dem lieblosen Verhalten könnte sie sich vielleicht sogar arrangieren, wenn sie verheiratet sind. Aber macht sie alles richtig? Ist sie das Opfer in der Beziehung? Wenn es zutrifft, dass Selbständigkeit ein Wert ist, der weder der Erzählerin erstrebenswert erscheint, noch im Werk positiv besetzt wird oder überhaupt erwähnt wird, stellt sich die Frage, ob sie die Situation ihrer Beziehung richtig einschätzt und sich angemessen verhält, um ihr Ziel – die Heirat – zu erreichen.

Strass lässt es sich zwar gefallen, dass sie ihn auf manchen seiner Fahrten begleitet, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass er ihr irgendwelche Versprechungen macht oder in der Vergangenheit gemacht hat, die ihren Anspruch in irgendeiner Weise rechtfertigen würden. Strass – das mag seine Strategie sein, denn er wird nicht nur einmal als unbeholfen dargestellt (oder es ist das, was sie an ihm attraktiv findet) – führt sich von Anfang an bei ihr als „Idiot“ ein. Nach der ersten gemeinsamen Nacht hinterlässt Strass ihr eine Nachricht: „Am Morgen las ich in seiner komischen Schrift: ich bin ein Idiot und bleibe einer. Es war ein Gekracksel, als wolle jemand einen Schreibstift ausprobieren, die Mine gab anscheinend keinen Farbstoff her, Unsinn, wie von einem, der Schreibmaschine übt“ (A, 41). Den Zettel bewahrt die Erzählerin auf, aber die Botschaft kommt nicht an bei ihr. Sie nimmt die Aussage nicht ernst. Man kann das so verstehen, dass er ihr von Anfang an reinen Wein einschenkt, sie aber unfähig ist, das zu akzeptieren, und sich lieber unbegründete Hoffnungen macht.

Sich über die zentralen Angelegenheiten im Leben nicht mitzuteilen ist das zentrale Charakteristikum dieser Beziehung, vor allem nicht über das, was sie jeweils beschwert. Zwar teilt die Erzählerin ihren Heiratswunsch mit, aber dass es ihr sehr ernst damit ist, kann sie Strass ebenso wenig vermitteln wie ihr Leid, das damit verbunden ist. (Umgekehrt spricht er nicht über seine Krankheit, sondern stellt nur seine Symptome aus.) Dass sie es nicht vermitteln kann, lässt sich nicht auf einen einzigen Grund zurückführen. Es könnte sein, dass sie es nicht vermitteln will, weil sie ahnt, dass sie damit eine endgültige Absage erhalten würde – und sie hält lieber an den Illusionen fest als sie aufzugeben; es könnte aber auch sein, dass sie sich tatsächlich nicht mitteilen kann, weil sie es von der Familie so gelernt hatFootnote 31 oder weil es in dieser erzählten Welt vielleicht auch gar nicht möglich ist. Für die letztere Möglichkeit spricht, dass es in der erzählten Welt keinen Gegenentwurf gibt. Aber auch hier gilt wieder, dass mehrere mögliche Gründe im Roman angelegt sind, ohne dass man einem von ihnen einen exklusiven Status zuweisen könnte.

Angelegt in der Geschichte ist auch, dass die Erzählerin das eigentliche Problem nicht erkennt. Für sie ist es die ausbleibende Heirat. Aber sie erkennt nicht, dass ihre Beziehung an etwas Grundlegenderem krankt: an mangelnder Kommunikation, die die Voraussetzung für eine erfolgreiche Liebesbeziehung wäre. Ihr Heiratswunsch kontrastiert nicht mit einem selbstbestimmten Leben, sondern mit der Kommunikationsunfähigkeit der beiden. Dies könnte man noch am ehesten aus der Gemengelage erschließen, auch wenn es nur als mögliche, nicht aber als notwendige Folge im Text angelegt ist.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem jeweiligen Anteil am Scheitern der Beziehung. Strass wie die Erzählerin selbst geben mit ihrem Verhalten mögliche Gründe. Es wäre einseitig, nur auf Strass’ egozentrisches Verhalten zu verweisen, dem das vordergründig selbstlose Verhalten der Erzählerin hilflos ausgeliefert wäre.

Damit komme ich noch einmal zu der (melo)dramatischen Pointe des Textes, die gar nicht so dramatisch ist, sondern eher eine verborgene Ironie enthält. Ihr Todesstoß ist nämlich keiner. Es müsste ihr klar sein, dass Strass nicht in den Fluten der Themse umkommen kann, wenn sie ihn, am Ufer stehend, ins Wasser schubst. Ihr Plan ist wie eine fixe Idee. Er zeigt, wie sehr sie die Umstände verkennt. Damit ist die Bemäntelung des wahren Sachverhalts über ihre Motivation, Strass umzubringen, auch ein Hinweis darauf, dass sie die Gesamtsituation falsch einschätzt. Nicht nur überschätzt sie die Wirkmacht ihrer Handlung, sondern auch die Gemeinsamkeiten mit Strass, die Reziprozität ihrer Gefühle.Footnote 32 In der Wirkungslosigkeit ihrer Handlung zeigt sich ihre Hilflosigkeit und Unfähigkeit, die auch ihre vorherige Einstellung zu Strass auszeichnet.

4.3 Zwischen zwei literarischen Traditionen

Abschied für länger wird „ein episodisches, durchweg das Bewußtsein der Erzählerfigur spiegelndes Abrollen der Romanhandlung“ attestiert (Knapp/Knapp 1981, 72). Damit werde die „objektive“ erzählte Welt zugunsten des „subjektiven“ Weltempfindens aufgegeben. Mit Hinweis auf die „experimentelle[] Handhabung der Zeitebenen“ wird eine Brücke zum Nouveau Roman geschlagen (ebd., 74). Es lohnt sich, hier genauer hinzusehen, denn was man als Zersplitterung der Chronologie interpretieren kann – in der im 2. Unterkapitel (a.) untersuchten Episode unmittelbar nach dem Abschiednehmen am Bahnhof erzählt die im Abteil sitzende Erzählerin davon, was ihre Verwandten gerade tun, als beobachte sie sie gerade dabei, obwohl das nicht sein kann – lässt sich, wie ich es vorgeführt habe, auch dahingehend normalisieren, dass die Erzählerin diese Handlungen aufgrund ihres Wissens um die familiären Routinen imaginiert, ohne dies freilich kenntlich zu machen. Mit dieser Annahme lassen sich auch weitere Textstellen in einen erfahrungsweltlich akzeptablen Zusammenhang bringen.

Trotzdem weist Wohmanns Roman gewisse Ähnlichkeiten mit dem Nouveau Roman auf, wenn nicht in der Konzeption als ganzer, so doch in einigen Verfahren. Grob lässt sich die Technik des Nouveau Roman durch folgende Merkmale charakterisieren: Verzicht auf Psychologie (Motivationen und Einstellungen der Figuren) und Reduktion der Handlung und Preisgabe der Einheit von Zeit und Handlung im Sinne einer mimetisch-realistisch erzählten Welt (durch temporale Inkonsistenzen, Verzicht auf Kausalverbindungen etc.); stattdessen rekurrente Fokussierung isolierter Details der Dingwelt. Mit dem unzuverlässigen Erzählen lässt sich diese Technik in ihrer Reinform nicht verbinden, weil Unzuverlässigkeit als Verfahren die Einheit von Zeit und Handlung voraussetzt.Footnote 33

Durch die Wahl einer Ich-Erzählerin, die Beziehungen zu einem Mann, zu ihren nahen Verwandten und zu einigen Arbeitskollegen hat, ist Abschied für länger weit davon entfernt, ein Exemplar eines deutschen Nouveau Roman zu sein. Trotzdem könnte man sagen, dass sich der Roman insofern im Fahrwasser des Nouveau Roman bewegt, als er teilweise dieselben Verfahren nutzt, auch wenn die Effekte nicht ganz so radikal ausfallen. Die Chronologie der Ereignisse wird durch Überblendungen aufgebrochen, bleibt aber in weiten Teilen rekonstruierbar;Footnote 34 die Figurenpsychologie bleibt weitgehend aus der Darstellung ausgeschlossen, ist aber ebenfalls bis zu einem gewissen Grad erschließbar; Ursachen für bestimmte Geschehnisse werden nicht erzählt, sind aber teils eindeutig, teils auch als Alternativen erkennbar; schließlich gibt es die Fokussierung auf scheinbar nichtige Details (etwa auf Strass’ Bekleidung – den „forstmeistergrünen Pullover“ (A, 35), der später ampelartig von einem „weinroten“ (A, 157) und einem ebensolchen Schal (A, 99, 167) abgelöst wird – oder sein Arzneifläschchen oder auch bestimmte Gegenstände, die ihr während ihrer Ausflüge mit Strass auffallen) und deren rekurrente Erwähnung – alles Verfahren, die den Text in die Nähe des Nouveau Roman rücken, ohne dass er jedoch die Einheit der Handlung und der Zeit aufgäbe, die für das unzuverlässige Erzählen unabdingbar ist.

Durch seine Affinität zum Nouveau Roman ist Abschied für länger ein Beispiel für die Kombination eher heterogener Romantraditionen.Footnote 35 Auf der einen Seite sind es Verfahren des Nouveau Roman, auf der anderen aber bleibt die Einheit der Handlung erhalten. Was die Verfahren bewirken, ist neben dem Verfremdungseffekt eine Öffnung des Deutungsspielraums gegenüber herkömmlichen Romanen. Diese Vergrößerung des Spielraums führt jedoch nicht zu beliebigen Interpretationen. Manches lässt sich recht genau rekonstruieren, für manche Ereignisse bieten sich hingegen mehrere konkurrierende Interpretationsmöglichkeiten an, aber eben nicht beliebige.

Wohmanns Roman gehört zu den Texten, in denen es in erheblichem Maße darauf ankommt, was nicht erzählt wird. Ein Verfahren, Nichterzähltes erkennbar zu machen, ist Unzuverlässigkeit, also falsche Angaben über einen Sachverhalt zu machen, der gemäß anderer verlässlich dargestellter Sachverhalte nicht bestehen kann. Aber es gibt auch andere Verfahren, Nichterzähltes erkennbar zu machen. Dazu zählen die implizite Erwähnung bestehender Sachverhalte, das nichtkommentierende Registrieren bestimmter Ereignisse oder auch beiläufige Erwähnungen, die für sich sprechen, ohne aber dass die Erzählerin darüber etwas Falsches zu verstehen gibt. Ein Beispiel für implizit erwähnte Sachverhalte ist, dass Strass sie nicht vom Bahnhof abholt. Er allein ist nicht aussagekräftig, aber in der Summe ergeben er und analoge Sachverhalte ein Bild eines Mannes, der seine (angebliche) Geliebte permanent hintanstellt und der offensichtlich nur halbwegs in der Lage ist, auf sie kommunikativ einzugehen, dann etwa, wenn sie ihn mit bestimmten Themen, die seine Kleinlichkeit oder Hyper-Penibilität herausfordern, wie dem Unterschied zwischen Mücken und Schnaken zu Widerspruch reizt.

Ein anderes Beispiel ist, dass die Erzählerin von Zeit zu Zeit ihren gemeinsamen Alkoholkonsum registriert, ohne ihn weiter zu kommentieren. Noch als die Krankheitssymptome immer lästiger werden, verzichten sie nicht auf den Genuss auch hochprozentiger Getränke (A, 176).Footnote 36 Und vorher schon sind ihre wenigen gemeinsamen Stunden davon geprägt. Mit Hilfe des Alkohols, so ist man versucht zu schließen, helfen sie sich über die Leere hinweg, die ihr Zusammensein sonst ausmacht.

Und schließlich liefert die Erzählerin ein Beispiel für die Implementierung so gut wie nichterzählter Sachverhalte, wenn sie – wie schon im 3. Unterkapitel zitiert – beiläufig erwähnt, dass kein Mensch Strass etwas Böses wolle, „niemand außer mir, manchmal“ (A, 40), um dann sofort in einem eigenen Absatz mit der rekurrenten Schlüsselphrase „Ich wollte es nicht tun“ fortzufahren. Ansonsten ist von solchen Absichten nicht die Rede, weshalb diese zentrale Information im Gerede von Nebensächlichkeiten unterzugehen droht. Gerade durch das Wort „manchmal“ erhält die Aussage ihr entscheidendes iteratives Gewicht. Ohne dieses Wort könnte man diesen Satz auf die finale Tat beziehen, und was sich dann darin ausdrückte, wäre lediglich, dass sie ihm einmal etwas Böses habe antun wollen. Da sie aber „manchmal“ sagt, kann man schließen, dass ihr diese Absicht eben mehrmals in den Sinn gekommen ist. Was sie also beiläufig erwähnt, gibt Aufschluss über ihre Einstellung, die sonst nicht Gegenstand ihres Erzählens ist und die demnach nicht immer mit ihrem äußeren Verhalten konform ist.

Es ist keineswegs so, dass alles, was die Erzählerin sagt, vage wäre, obgleich die Erzählkonzeption diesen Eindruck zunächst befördert. Nichterzählte oder nur angedeutete Sachverhalte lassen sich erschließen. Das betrifft eben am Ende auch ihren Todesstoß, der keiner ist oder sein kann. Soweit ich sehe, ist gerade dieser Umstand bislang noch nicht gewürdigt worden. Weder kann sie ihre wahre Motivation verbalisieren, noch ist sie sich darüber im Klaren, dass ihr Mordversuch von vornherein vergeblich ist. Wenn man diese nichterzählten Sachverhalte erkennt, kann man das Spektrum möglicher Ursachen für ihr Verhalten etwas reduzieren.

Von diesen Fällen zu unterscheiden sind jene, in denen Nichterzähltes lediglich als Möglichkeit der erzählten Welt angelegt ist. So deutet die Erzählerin eine nicht nur professionelle Beziehung zwischen Strass und Monica Maltan an, indem sie ihm nicht nur einmal unterstellt, an Monica zu denken, während er ihr, der Erzählerin, nicht zuhört, und indem sie Monicas Blicke registriert, die sie mit Strass tauscht (A, 176). Aber letztlich bleibt es offen, wie es sich mit dieser Beziehung verhält. Was die Erzählerin diesbezüglich zu sagen hat, könnte auf eine intime Beziehung deuten oder aber einer möglichen Eifersucht geschuldet sein. Kausalitäten sind also fast immer angelegt, aber nicht immer eindeutig zu erschließen. Dass Strass nicht über seine Krankheit spricht, kann bedeuten, dass er sie nicht wahrhaben will oder dass er unfähig ist, sich mitzuteilen, und es kann bedeuten, dass er die Krankheitssymptome vorschützt, um nicht über für ihn Unangenehmes sprechen zu müssen.

4.4 Axiologische Unzuverlässigkeit als Pointe

Wir haben gesehen, dass die Unzuverlässigkeit der Erzählerin, die sich zunächst in einem einzigen falsch dargestellten Sachverhalt manifestiert (das Motiv für den vermeintlichen Todesstoß), auf weitere Sachverhalte ausgreift und auf diese Weise eine Menge über sie preisgibt. So schätzt sie die Situation selbst falsch ein – er kann dadurch gar nicht sterben –, was ihre Hilflosigkeit und Überforderung zeigt. Das Erkennen ihrer Unzuverlässigkeit verhilft also zu weiterführenden Interpretationen. Zum andern lässt sich über die mit der eigentlichen Sachverhaltsdarstellung verknüpften rekurrenten Formulierungen zeigen, dass ihre Einstellung schon sehr viel früher von Wut und Enttäuschung geprägt ist, als sie durch die Auswahl der von ihr erzählten Ereignisse zu verstehen gibt. Im Lichte dieser Interpretation stellt sich am Ende auch ihr Heiratswunsch als den geltenden Verhältnissen völlig unangemessen heraus. Wie dargelegt, ist dafür nicht der Grund, dass sie sich damit ihrer Chance auf Selbstbestimmtheit begibt. Unangemessen ist ihr Heiratswunsch, weil sie nicht erkennt, dass ihre Beziehung dafür nicht geschaffen ist. Und sie ist dafür nicht geschaffen, nicht nur weil Strass so lieblos ist, sondern weil sie es letztlich selbst ist. Sie will Strass haben – zum Mann haben. Am Ende kann man, wenn man es gern eindeutig hat, sogar darauf schließen, dass in dem Roman ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Paarkonzept vorgeführt wird. Es handelt sich, um die Frage nach der Gattung wieder aufzugreifen, sozusagen um einen negativen Liebesroman, in dem die Abwesenheit wahrer Liebe thematisiert wird, sowohl beim Mann wie aber auch bei der Frau.