Über die Gruppe 47 ist viel geschrieben worden und wird noch viel geschrieben. Vor allem unter literatursoziologischen Gesichtspunkten ist sie ein interessantes Phänomen. Da sie, alles in allem, aber auch ein fluides Phänomen ist und die Werke, die ihre Mitglieder hervorgebracht haben, ziemlich heterogen sind, lassen sich in poetologischer oder narratologischer Hinsicht keine aussagekräftigen Verallgemeinerungen machen. Das kann auch nicht der Anspruch dieses Kapitels sein. Ziel ist dagegen, einschlägige Werke, die als Marksteine der Gruppe angesehen werden, zu untersuchen. Einschlägig sind solche Werke, die bereits mit Blick auf das unzuverlässige Erzählen untersucht wurden: Grass’ Blechtrommel (1959) an erster Stelle, aber auch Bölls Ansichten eines Clowns (1963). Wie sich zeigen wird, ist die Identifikation des unzuverlässigen Erzählens schon bei diesen Werken nicht unproblematisch. Außerdem in den Blick genommen wird Martin Walsers Halbzeit (1960), ein Werk, das bislang kaum in diesen Zusammenhang gestellt wurde. Abgerundet wird das Kapitel mit einer Untersuchung von Peter Handkes Hornissen (1966), einem Werk, das die Spätphase der Gruppe 47 repräsentiert.

Allein die eingeschränkte Auswahl ist bezeichnend. Nach meinem Kenntnisstand gibt es keinen Hinweis darauf, dass das unzuverlässige Erzählen ein allgemein bekanntes, geschweige denn ein relevantes Erzählverfahren für die Gruppe war.Footnote 1 Berühmte Romane wie die der Trilogie Wolfgang Koeppens, Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob (1959), Wolfgang Hildesheimers Tynset (1965) oder später Malina (1971) von Ingeborg Bachmann bzw. die frühen Handke-Romane gehören (wie am Beispiel von Handkes Hornissen im letzten Abschnitt demonstriert wird) meiner Meinung nach nicht zu dem Typus, der hier im Mittelpunkt steht.Footnote 2 Das ist auch kein Wunder, denn die programmatischen Debatten um die Romanpoetik in den 1960er Jahren sind geleitet von teils anti-mimetischen, teils anti-fiktionalen Vorstellungen (vgl. Scholl 1990, 45–66).Footnote 3

1 Von Kolbenhoff (1947) über Schallück (1959) bis S. Lenz (1968)

Weil sie das Mimesis-Prinzip noch nicht aufgegeben haben, kämen eher die frühen Kriegsromane als potentiell unzuverlässig erzählt in Betracht. Allerdings wird hier die Erzählposition so stark reduziert, dass von unzuverlässigem Erzählen im engeren Sinn nicht die Rede sein kann. Bölls frühe Prosa ist ebenso ein Beispiel für zuverlässiges Erzählen wie Hans Werner Richters Kriegsromane.Footnote 4 Darin geht es in erster Linie um die Authentizität der Eindrücke sowie darum, dem Krieg eine humane Axiologie entgegenzusetzen. Allenfalls enthalten sich die Texte bestimmter Festlegungen, ohne jedoch falsche Eindrücke über bestimmte Sachverhalte zu erzeugen. Unzuverlässiges Erzählen verhält sich zu diesen Zielen dysfunktional. Immerhin weist Von unserem Fleisch und Blut (1947) von Walter Kolbenhoff insofern eine gewisse Affinität zum unzuverlässigen Erzählen auf, als der Roman eine jugendliche Reflektorfigur präsentiert, die durch ihre Handlungen und Gedanken als fanatischer Nazi charakterisiert ist, ohne dass diese axiologisch eingeordnet werden. Doch gibt es keinen Grund, diese Figur als axiologische Autorität über den Text zu akzeptieren.Footnote 5

Auch Paul Schallücks Werk folgt, so die allgemeine Einschätzung, der Poetik der Kahlschlagliteratur. Engelbert Reineke, sein vierter Roman, der in dem Schlüsseljahr 1959 erschien, zeigt jedoch wie Bölls Billard um halbzehn (1959) deutliche Spuren einer Poetik, die weniger an Reduktion als an Komplexion oder, in diesem Fall, mehr an Faulkner als an Hemingway orientiert ist. Hier besteht dies jedoch nicht in der Aufsplitterung der Perspektiven, sondern in dem nicht-linearen Ineinander von Zeitebenen und der Integration eines vom Erzähler verfassten Dialoges, der das achte von fünfzehn Kapiteln ausmacht und daher das zentrale Ereignis umfasst. Obwohl die Erzählweise erst nach und nach die zentralen Informationen preisgibt und das Erzählen als Erinnerung inszeniert ist, wird diese nicht problematisiert. Es geht daher nicht um mimetische Unzuverlässigkeit. Aber es stellt sich die Frage nach axiologischer Unzuverlässigkeit.

Der Titelheld und Erzähler ist junger Lehrer an einer Oberschule in der katholischen Provinz der frühen Bundesrepublik. Er möchte den Schuldienst verlassen und erhält am Morgen des Tages, an dem die Gegenwartshandlung abläuft, die Stellenzusage. Nach und nach treten in seinen Erinnerungen die Gründe zu Tage. Er ist beschäftigt an der Schule, an der bereits sein Vater während der NS-Zeit Lehrer und er selbst Schüler war. Ihr Nachbar Wolfgang Sondermann war damals und ist jetzt noch Direktor der Schule. Engelbert wird von den alten Lehrern ausgegrenzt. Vordergründig ist es seine angeblich linke Gesinnung, der eigentliche Grund aber hat mit seinem Vater zu tun, einem von den Schülern geachteten Lehrer, der sich als einziger der von den Nationalsozialisten betriebenen Umgestaltung des Lehrbetriebs widersetzt. Die Familie Reineke ist gegen den Nationalsozialismus positioniert. Hier ist die Axiologie eindeutig. Doch der Verlauf der Geschichte gibt Anlass zu der Frage, ob der Erzähler nicht doch in einer bestimmten Hinsicht axiologisch unzuverlässig ist.

Sein Plan, den Schuldienst zu quittieren, hat nämlich in erheblichem Maße mit seinem Vater zu tun, dessen Standhaftigkeit Engelbert offensichtlich nicht besitzt und dessen Schicksal er bis jetzt verdrängt hat. Zumindest kann er es nicht mit seinem eigenen in Beziehung setzen. In der letzten Klasse des Vaters war unter den Schülern auch Siegfried Sondermann, der Sohn des Direktors und überzeugter junger Nationalsozialist, mit dem es zu einem Konflikt kommt, der in der Denunziation Leopold Reinekes durch Siegfried mündet, in deren Folge der Lehrer nach Buchenwald verbracht und dort ermordet wird. Im Roman spielen die Versuche der Familie Reineke und ihrer Freunde, den Vater zu Kompromissen zu bewegen, um den Konflikt zu entschärfen, eine erhebliche Rolle; doch der verweigert sich, mehr aus einem Gefühl der Solidarität als aus moralischem Rigorismus heraus, um gerade diejenigen, die den Nationalsozialismus ablehnen, nicht zu verraten.

Man könnte nun annehmen, dass Engelbert über weite Strecken axiologisch unzuverlässig sei, weil er dem Beispiel seines Vaters nicht folgt und damit nicht für den Wert einsteht, den dieser verkörpert. Erst am Ende entschließt er sich, doch in der Schule zu bleiben und sich für Veränderungen zu engagieren. Einer der entscheidenden Impulse geht von einem jungen Kollegen aus, der auf ihn zugeht und ihn aus seiner Isolation befreit, indem er ihn zu einem Abend mit anderen jungen Kollegen einlädt.

Fraglos bezieht der Roman aus diesem Konflikt, der aus den unterschiedlichen Haltungen von Vater und Sohn besteht, einen Teil seiner Spannung. Doch werden diese beiden Haltungen nicht gegeneinander ausgespielt. Der Sohn lehnt die Standhaftigkeit seines Vaters nicht ab, sie belastet ihn jedoch, weil er meint, immer und überall an seinem Vater gemessen zu werden. Insofern schildert der Roman auch einen Selbstfindungsprozess, in dessen Verlauf sich Engelberts Fluchthaltung ins Gegenteil verkehrt. Er nimmt schließlich das Vermächtnis seines Vaters an. Im Lauf der Erzählung werden die verschiedenen Werte, die Vater und Sohn repräsentieren, mit offenem Ausgang verhandelt. Engelbert ist nur in der Nähe axiologischer Unzuverlässigkeit, was den Unterschied zu seinem Vater angeht. Aber er lehnt die Haltung seines Vaters nicht ab, im Gegenteil. Er kann sie erst nur nicht für sich übernehmen. In der übergeordneten axiologischen Frage ist er ohnehin auf der Seite seines Vaters.

Ein ungleich berühmteres Werk als das von Schallück aus der späteren Phase der Gruppe 47, das typologisch aber zu den frühen Werken gehört, ist Siegfried Lenz’ Deutschstunde (1968). Obgleich Lenz selbst sich wiederholt zu Faulkner bekennt und sich einige motivische Parallelen nachweisen lassen (vgl. Müller 2005, 201–216), scheint mir seine Erzähltechnik weitaus konservativer als Faulkners in dem Sinne zu sein, dass immer für die Orientierung des Lesers gesorgt wird und der Verdacht der Unzuverlässigkeit nirgendwo entsteht. Zu vernachlässigen sind solche Passagen, in denen der Erzähler Siggi Jepsen in den Modus des erlebenden Ich fällt und als solches Unwahrheiten äußert, die dann aber rasch aufgeklärt werden – etwa in Kap. 3, „Die Möwen“, als Siggi den Verlobten seiner Schwester Hilke kurz für tot hält, fälschlicherweise, wie sich gleich darauf herausstellt. Zwar weiß Siggi noch nicht, dass es sich um einen epileptischen Anfall handelt, aber er lässt offen, um was genau es sich handelt, und erweckt also weiter keinen falschen Eindruck über das Ereignis. Auch Hilkes Anmerkungen im letzten Kapitel, als sie sich Siggis Aufsatz ansieht, haben nicht die Funktion, am Ende Siggis Unzuverlässigkeit als Erzähler zu offenbaren. Aus ihnen spricht, dass Siggi bestimmte Lücken gelassen, eigene Akzente gesetzt hat, aber wiederum nicht, dass er sich geirrt hätte. Diese Passage markiert den Anschluss an die Entwicklung der Erzählpoetik der 60er Jahre mit ihren erwähnten anti-mimetischen Tendenzen eher im Sinne einer Anspielung, als dass sich diese Erzählpoetik darin manifestiert. Im Übrigen ist die ganze Konzeption des Romans, die ganz wesentlich auf der Figur des in der Besserungsanstalt einsitzenden Erzählers basiert, der eine Strafarbeit anfertigt, auf Siggis Zuverlässigkeit ausgerichtet, der als Sohn eines NS-Polizisten und als Insasse einer Besserungsanstalt in einer als restaurativ aufzufassenden Gesellschaft sowohl gegen diese als auch gegen die Vätergeneration profiliert ist. Daher ist die Einschätzung irreführend, wenn der Roman in eine Reihe mit Frischs Stiller und Anderschs Efraim gestellt wird, auch wenn es sich bei der Deutschstunde ebenfalls um eine „Selbstbiographie“ handelt (Müller 2005, 216).

Es ist nicht gesagt, dass es nicht doch einige Werke aus dem Kreis der Gruppe 47 gibt, die sich des Verfahrens bedienen. In der ersten oder zweiten Reihe sind sie aber nicht zu finden. Die in diesem Kapitel untersuchten Werke bilden demnach eine Ausnahme, insofern sogar nur zwei von ihnen – Die Blechtrommel und Halbzeit – der Konzeption nach wenigstens teilweise unzuverlässig erzählt sind. Ansichten eines Clowns ist es nur in seinem sehr eingeschränkten Sinn, und bei Die Hornissen scheitert die Zuschreibung ganz. Zwei gesonderte Kapitel befassen sich darüber hinaus ausführlich mit zwei Werken von Gabriele Wohmann und Alfred Andersch, die ebenfalls mit der Gruppe 47 verbunden sind. Die betreffenden Werke – Wohmanns Abschied für länger (1965) und Anderschs Efraim (1967) – sind unzuverlässig erzählt, stehen aber kaum in Verbindung mit der Gruppe 47, was aus meiner Sicht kein Zufall ist.Footnote 6

2 Axiologische Zuverlässigkeit bei Heinrich Böll

2.1 Das Brot der frühen Jahre (1955)

Heinrich Böll ist ein Autor, dessen Werk sich eher unzweideutig zu gesellschaftspolitischen Themen seiner Entstehungszeit verhält. Zwar eignet sich das unzuverlässige Erzählen auch für solche gesellschaftskritischen Konstellationen, aber in Bölls Werk ist das unzuverlässige Erzählen nicht – oder jedenfalls nicht in der allgemeinen Stoßrichtung, die man mit Böll gemeinhin in Verbindung bringt – realisiert, und insofern mag es überraschen, wenn die vorliegende Abhandlung auch auf einen seiner Texte eingeht. Doch wird Unzuverlässigkeit in Bezug auf Werke von Böll schon länger diskutiert, und auch in diesem Fall ist es wieder instruktiv, wenn man sich die Zuschreibungen an den Text etwas näher ansieht, weil Unzuverlässigkeit und Zuverlässigkeit hier recht nahe beieinander liegen.

Das Brot der frühen Jahre (1955) und Ansichten eines Clowns (1963), das erste Werk eine längere Erzählung, das letztere ein Roman, sind strukturell recht ähnlich.Footnote 7 Nicht nur sind beide homodiegetisch, sie setzen sich auch beide aus einer gedrängten Gegenwartshandlung und einer ausgedehnten, aber diskontinuierlich dargebotenen Vergangenheitshandlung zusammen. Ihre Ich-Erzähler gehören zur selben Generation. Sie sind Anfang der 1930er Jahr geboren. Aber es gibt auch deutliche Unterschiede. Der Erzähler-Protagonist von Das Brot der frühen Jahre ist ein Waschmaschinenmonteur, der durch eine plötzlich entfachte Liebe sein Leben ändert, der Clown Hans Schnier ein Künstler, der von der Liebe seines Lebens verlassen wurde.

Walter Fendrich, der Erzähler aus Das Brot der frühen Jahre, wurde als „Antiheld“ bezeichnet (Hummel 2000, 147). Böll selbst weist in einem Interview darauf hin, dass das Ich des Kurzromans (bzw. der Erzählung) ein Erfundenes ist und die Wahl dieses Erzählverfahrens eine „ungeheure Distanz zu der Person verschafft“.Footnote 8 Damit ist klar, dass das Verhalten und die Wertvorstellungen des Erzählers nicht unbedingt der Axiologie des Werks entsprechen. Die Frage ist, ob der Erzähler hierüber falsche Angaben macht. Propagiert er durch sein Verhalten und durch seine Auffassungen negative Werte oder nicht?

Auslöser der Umkehr des Erzählers ist die Liebe zu Hedwig Muller. Sie stammt aus demselben Ort wie er und möchte nun in der Stadt studieren, um Lehrerin zu werden. Fendrich wird sie vom Bahnhof abholen. Er hat sich in der Zeit des Wirtschaftswunders eingerichtet und die Werte dieser Zeit übernommen, da sie geholfen haben, die Entbehrungen und den Hunger der unmittelbaren Nachkriegszeit zu überwinden. Durch Hedwig aber erkennt er im Verlauf der ersten Minuten, dass sein Dasein im Grunde unausgefüllt, entfremdet und leer ist, und schließt damit ab. Die Erzählung ist retrospektiv angelegt, die Umkehr des Erzählers liegt bereits hinter ihm.Footnote 9 Schon am Anfang kontrastiert er sein früheres (falsches) Leben mit seinem jetzigen. Er habe sich oft danach gefragt, was aus ihm geworden wäre, hätte er nicht Hedwig vom Bahnhof abgeholt: „ich wäre in ein anderes Leben eingestiegen, wie man aus Versehen in einen anderen Zug einsteigt, ein Leben, das mir damals, bevor ich Hedwig kannte, als ganz passabel erschien […], und ich weiß, daß die Hölle geworden wäre, was mir damals ganz passabel erschien“ (BFJ, 194).

Allein deshalb ist von Anfang an eine Zweiteilung von Wertauffassungen, die in dem Text artikuliert werden, erkennbar und auf das Früher einerseits und das Jetzt andererseits projizierbar. Was gemäß der Werkaxiologie falsch oder richtig, negativ oder positiv ist, lässt sich daher einfach den jeweiligen Bereichen zuordnen. Dass Fendrich keine rundum positive Figur ist, versteht sich vor diesem Hintergrund von selbst. Seine Erzählung ist ja wesentlich durch die Erkenntnis motiviert, „daß die Hölle geworden wäre, was mir damals ganz passabel erschien“ (s. o.). Insofern ist es nur natürlich, dass er axiologisch keine weiße Weste hat. Aber darüber vermittelt sein Erzählen keine falschen Vorstellungen.Footnote 10

2.2 Die axiologische Problematik in Ansichten eines Clowns (1963)

In Ansichten eines Clowns (1963) liegen die Dinge anders. Sie sind insofern komplizierter, als der Erzähler nicht wie Fendrich von der Position eines Geläuterten aus erzählt. Es ist zunächst das Verhältnis des Clowns und Ich-Erzählers Hans Schnier zu seiner (Ex-)Freundin Marie, das die Frage nach der Unzuverlässigkeit aufwirft; zum zweiten darf man sich fragen, ob Schnier durch das Schicksal, das er erleidet oder herausfordert, widerlegt wird und ob er den Ansprüchen, die er hat, selbst genügt; drittens lautet eine Frage an den Text, ob die damals skandalisierten polemischen Ausfälle gegen den Katholizismus derart überspitzt sind, dass man in Bezug auf die darin enthaltenen Übertreibungen (zumal aus der Sicht eines mit seinem Katholizismus ringenden Autors) dem aus protestantischer Familie stammenden Agnostiker Schnier Unzuverlässigkeit attestieren kann.

Für den Roman ist die weiter oben schon angedeutete Unterscheidung zwischen allgemeiner axiologischer Stoßrichtung und partiellen bzw. passagenhaften axiologischen Problemen relevant. Die Ansichten eines Clowns sind in ihrer allgemeinen Stoßrichtung zuverlässig. Diese allgemeine Stoßrichtung betrifft jene Äußerungen des Clowns, die der Aufdeckung von Bigotterie und Heuchelei bei Kirchenvertretern, aber auch seinen kapitalistischen Verwandten gelten. Hier fungiert der Ich-Erzähler Hans Schnier als Medium für die gesellschaftskritischen Aussageabsichten Heinrich Bölls. Die Normen und Werte, die in Schniers Aussagen zum Ausdruck kommen, widersprechen in ihrer allgemeinen Stoßrichtung nicht den Normen und Werten des Werks, die zugleich diejenigen sind, die der Autor mit der Publikation des Werks vertritt: „Kurzum: die Katholizismus-Kritik des nichtkonfessionellen ‚Clowns‘ ist die Kritik des enttäuschten und angewiderten Katholiken Böll“ (Hinckh 1975, 21). Dies kann man als allgemein akzeptierte Lesart bezeichnen, wie sie sich nicht zuletzt etwa auch in Lektürehilfen für die Schule findet (vgl. Matzkowski 2003).Footnote 11

Im Unterschied dazu wird manchmal der Verdacht geäußert, dass Schniers Gesellschaftskritik auch ihn selbst treffe, ohne dass er es selbst merke:

So unschuldig ist der Clown jedoch nicht, wenn man bedenkt, auf welch ‚sanfte‘ Weise er Marie zum Beischlaf überredet. Er stellt sie vor die Wahl, sich seiner barmherzig anzunehmen oder ihn den Prostituierten Kölns zu überlassen. Wie selbstverständlich nimmt er an, daß Marie, die gute Schülerin, auf das Abitur verzichtet, ihre Ersparnisse für die Ausbildung des Clowns opfert und ihm sodann als Geliebte, Hausfrau und ‚besonders beherrschte Kinderschwester‘ […] dient. (Blamberger 2000, 212 f.)

In der hier vorgeschlagenen Terminologie heißt dies, dass es einen Bezugsbereich gibt, innerhalb dessen der Erzähler den Ansprüchen, die er an andere stellt, selbst nicht genügt. Dies manifestiere sich, so Blamberger, insbesondere in seinem Verhalten Marie gegenüber und schränke seine axiologische Zuverlässigkeit ein: „Die Fakten der Romanerzählung also konterkarieren die Ansichten des Erzählers und lassen eine ungebrochene Identifikation mit der Perspektive des Clowns nicht zu“ (ebd., 213). Das von Schnier ansonsten kritisierte „Besitzdenken“ (ebd.) sei ihm mit Bezug auf Marie selbst nicht fremd.

In der Tat gibt es eine Fülle von axiologischen Anomalien, die – zumal aus heutiger Sicht – den Verdacht nähren, dass der Clown ein axiologisch unzuverlässiger Erzähler ist. Der springende Punkt aber ist die Frage, ob das Normengefüge des Romans derart ist, dass der Clown einige der Normen verletzt, die in der Romanwelt als gültig anzusehen sind; oder ob man damit nicht in den Roman heute akzeptierte Normen anachronistisch projiziert. Anders gefragt: Ist das „Besitzdenken“ Schniers überhaupt Bruch einer Norm im Sinne des Normengefüges des Romans?

2.3 Schniers Geschichte

Für eine Klärung ist es unerlässlich, Schniers Geschichte genauer in den Blick zu nehmen und die Erzählstruktur zu skizzieren. Das Ausgangsproblem und zugleich der Erzählanlass für den Clown Hans Schnier ist, dass ihn seine katholische Freundin Marie Derkum verlassen hat, um den gemeinsamen Bekannten Heribert Züpfner zu heiraten. Erzählgegenwart ist ein Abend im März 1962,Footnote 12 an dem Schnier, nach einem Sturz auf der Bühne am Knie verletzt und durch übermäßigen Konsum von Alkohol in den letzten Wochen arg heruntergekommen, in seine Bonner Wohnung zurückkehrt, wo er im Laufe weniger Stunden einige Telefonate mit Verwandten und Bekannten führt und von seinem Vater besucht wird. Er sehnt sich nach Marie und braucht Geld. Zwischen den Gesprächen holt sich Schnier immer wieder Szenen seiner Liaison mit Marie, aber auch Schlüsselszenen seiner Kindheit in Erinnerung.

Es baut sich das Bild eines Mannes auf, der zwar außerhalb der Gesellschaft, aber, weil die Gesellschaft (seiner „Ansicht“ nach) verlogen ist, moralisch auf der richtigen Seite steht.Footnote 13 Die Frage ist, ob die Axiologie des Clowns, die in seinem Verhalten und in seinen Sprechhandlungen zum Ausdruck kommt, vollständig mit der Axiologie des Werks übereinstimmt. Die skandalisierenden Reaktionen nach der Publikation des Romans basieren auf der Bejahung dieser Frage. Die Kritik am Katholizismus, die in Schniers Raisonnements zum Ausdruck kommt, provozierte sogar einen Hirtenbrief der Deutschen Bischofskonferenz, in dem „gegen schriftstellerische Kritik im allgemeinen und Böll im besonderen“ Stellung bezogen wurde (Balzer 1997, 260).

Ein wiederkehrendes Motiv in Schniers Äußerungen ist, dass viele der katholischen Figuren, insbesondere derjenigen, die in Verbänden organisiert sind, sich (in Bölls aufgeklärt-moralischem Sinne) nicht besonders christlich verhalten. Das trifft aber genauso auf seine protestantischen Eltern zu. Man kann daher sagen, dass sich die Kritik gegen die politischen und ökonomischen Eliten der Adenauerzeit richtet, denn die Figuren, die diese Gruppen im Roman repräsentieren, werden ausnahmslos negativ dargestellt. Ohnedies gibt es bis auf Maries Vater (einen armen, unterprivilegierten linken Kaufmann) und den hilfsbereiten Kaplan Behlen kaum positiv dargestellte Figuren.Footnote 14

Was Schnier den Boden unter den Füßen weggezogen hat, ist der Verlust Maries. Sie waren ein Paar, seit er 21 und sie 19 Jahre alt war, und ungefähr für fünf Jahre zusammen. Sie brach für ihn, sehr zum Verdruss ihres Vaters, das Abitur ab, um mit Schnier in wilder Ehe ein Bohème-Leben zu führen, ohne Geld und Sicherheit. Den Kontakt zu ihren katholischen Kreisen hat sie indes nie abgebrochen. Die möglichen Konflikte zwischen Marie und Hans während ihres Zusammenseins kommen nicht zur Sprache. Allerdings muss es welche gegeben haben, denn zum Bruch führt Maries Wunsch, dass die gemeinsamen Kinder christlich erzogen werden, wofür sie sogar eine schriftliche Einverständniserklärung verlangt, was er „Erpressung“ nennt (AC, 69). Dabei wäre er inzwischen sogar bereit, sich offiziell trauen zu lassen. Er scheint ihr also entgegenzukommen, und aus seiner Sicht ist sie es, die es mit den Forderungen übertreibt, zumal er erfährt, dass sie während seines Engagements in Hannover Kontakt zu ihren katholischen Freunden aus Bonn hat, von denen er zumindest vorübergehend annimmt, dass sie sie in ihrem Sinne gegen ihn bearbeitet haben.Footnote 15

Andererseits kann man aus dieser Passage schließen, dass das uneheliche Verhältnis für Marie immer eine Belastung gewesen ist, die Schnier ignoriert hat. Wie selbstverständlich setzt er seine Bedürfnisse durch, während sie mit ihren zurückstehen muss. Im Telefonat mit Kinkel, einem besonders schmierigen Mitglied des Bonner Kreises, kommt anscheinend Schniers ganze Ichbezogenheit unverblümt zum Ausdruck: „Mit Marie war alles in Ordnung, solange sie sich Sorgen um meine Seele gemacht hat, aber ihr habt ihr beigebracht, sich Sorgen um ihre eigene Seele zu machen […]“ (AC, 91).

Die prinzipielle Frage nach der Axiologie lässt sich so unter Bezugnahme auf die konkreten Ereignisse reformulieren: Haben in Marie, die anfangs ja – jedenfalls aus Schniers Sicht – ihm aus freien Stücken gefolgt ist, nicht zuletzt unter dem Einfluss ihrer bigotten Einflüsterer ihre (gemäß dem Normengefüge des Romans) falschen katholischen Moralvorstellungen die Oberhand gewonnen? Wenn ja, dann wäre Schnier ein axiologisch zuverlässiger Erzähler. Oder ist das Verhalten Schniers gegenüber Marie derart, dass er damit die Werte und Normen selbst verletzt, deren Erfüllung er von anderen verlangt? Opfert er den Respekt für ihre Andersartigkeit seinem Eigeninteresse? Und ist dieser Respekt im Normengefüge des Romans eine relevante Größe, die Schniers Ansichten übergeordnet ist? Wenn diese Fragen bejaht werden müssten, mäße er mit zweierlei Maß und wäre als unzuverlässiger Erzähler anzusehen.

2.4 Axiologische Anomalien in Schniers Verhalten

Sammeln wir nun entsprechend den drei eingangs erwähnten Themenkreisen Anomalien, die Schniers Position als axiologisch zuverlässigen Maßstab potentiell diskreditieren. In der Sekundärliteratur am prominentesten vertreten sind Beobachtungen, die Schniers Verhalten gegenüber Marie kritisieren. Blicken wir aber zuerst auf seine Übertreibungen und sein Verhältnis zu den anderen Figuren und sich selbst.

„Ich bin kein Säufer“ (AC, 23), sagt Schnier, als er sich einen Schluck Kognak gönnt. Kurze Zeit später, nach dem Telefonat mit seiner Mutter, überlegt er: „Wenn ich das Saufen wieder ganz drangab“ (AC, 37), würde er beruflich schnell wieder auf die Füße kommen. Ist Schnier demnach mimetisch unzuverlässig, weil er meint, kein Säufer zu sein, aber in Wirklichkeit doch einer ist? Die Frage lässt sich verneinen, denn Schnier bekennt schon am Anfang, dass er in den letzten „drei Wochen […] meistens betrunken“ gewesen sei (AC, 13). Außerdem bringt er seinen Alkoholkonsum direkt mit der Abwesenheit Maries in Verbindung, wenn er darüber nachdenkt, was seine zwei angeborenen Leiden – „Melancholie und Kopfschmerz“ (AC, 12) – lindert: „Es gibt ein vorübergehend wirksames Mittel: Alkohol – es gäbe eine dauerhafte Heilung: Marie; Marie hat mich verlassen. Ein Clown, der ans Saufen kommt, steigt rascher ab, als ein betrunkener Dachdecker stürzt“ (ebd.).

Daraus geht deutlich hervor, wie die zwischenzeitlich vorgenommene, auf den ersten Blick fragwürdige Selbstzuschreibung „Ich bin kein Säufer“ zu verstehen ist: so nämlich, dass er kein permanenter Alkoholiker ist, sondern ein temporärer Kummertrinker. Soweit ich sehe, gibt es keine Hinweise, die eine andere Auslegung stützen könnten. Was Schnier über seinen Alkoholgenuss sagt, ist also konsistent. (Das schließt im Übrigen nicht aus, dass sein Alkoholkonsum Teil seiner Selbstinszenierung bzw. Ausdruck seines Selbstmitleids ist – das aber ist kein Ausdruck unzuverlässigen Erzählens.)

Anders sieht es jedoch bei seinen Einschätzungen seiner Mitmenschen in Relation zu seinem eigenen Verhalten aus. Schnier schreckt nicht vor Pauschalverurteilungen zurück, wie sie etwa in folgender Formulierung zum Ausdruck kommen: „Es ist grauenhaft, was in den Köpfen von Katholiken vor sich geht“ (AC, 38). Das ist keine Ausnahme.Footnote 16 „Schniers Urteil über die Gesellschaft basiert wesentlich auf rigider Vereinfachung und zupackender Etikettenvergabe“ (Krumbholz 1980, 76). Zum Problem wird diese Haltung des Erzählers, weil er anderswo die Bedeutung von Einzelheiten glorifiziert und weil der gesamte Roman auf dem Kontrast von allgemeiner Wahrheit bzw. Ordnung einerseits und Bedeutung des Details bzw. Würde des Individuums andererseits beruht, wobei sich Schnier auf der zuletzt genannten Seite verortet, die er mit seinem künstlerischen Ansatz verknüpft. Im Telefonat mit seinem Bruder antwortet er auf die Frage, was für ein Mensch er sei: „Ich bin ein Clown […] und sammle Augenblicke“ (AC, 231).Footnote 17 Dem widersprechen seine Verallgemeinerungen, so etwa auch seine Einteilung der Frauen in Huren, Ehefrauen und barmherzige Frauen (vgl. AC, 94). „Dieses Programm widerspricht aber der Ästhetik des ‚Augenblicks‘ […]“ (Krumbholz 1980, 76).

Schnier verlässt seine Familie, nachdem er die Schule abgebrochen und Marie verführt hat. Sie leben zunächst in äußerster materieller Not in Köln und sind auf Unterstützung angewiesen. Es fällt aber auf, dass Schnier eine Wohnung in Bonn hat, die ihm als Rückzugsort dient. Es ist nicht klar, wie er sie finanziert, aber sie gehört ihm, sei es als Eigentümer, sei es als Mieter. Zwar beschwert er sich über den Geiz seiner Eltern, die ihm als Kind nicht einmal genügend zu essen gegeben hätten. Doch ist er nicht zu stolz, seinen Vater um Geld anzugehen. Seine Forderung ist nicht unbescheiden. Ebenso unbescheiden ist seine Honorarforderung an den Veranstalter seiner Aufführungen in Bochum, wovon gleich im ersten Kapitel die Rede ist. Es ist schwer zu entscheiden, wie diese Forderungen einzuschätzen sind. Einerseits zeigen sie, wie wenig der Gesellschaft – namentlich den Eltern oder Kostert, dem Veranstalter, der zugleich Vorstand eines christlichen Bildungswerks ist und eine vernichtende Kritik von Schniers Bühnenauftritt verfasst – die Kunst wert ist; andererseits ist die Anspruchshaltung Schniers immerhin verdächtig.

Er zeigt sie bis zum Ende, als er mit seinem Bruder Leo spricht, den er nach Heinrich Behlen fragt, dem hilfsbereiten Kaplan aus der ersten Zeit in Köln. Als Schnier erfährt, dass er mit einer Frau verschwunden ist, zeigt sich, dass er an der Person gar nicht interessiert ist, sondern nur an der Funktion, die Behlen für ihn hat: „‚Na gut‘, sagte ich, ‚dann fällt er vorläufig für mich aus‘“ (AC, 230). Leo hält das für „eine kaltschnäuzige Art“ (ebd.).

Erst recht suspekt wird seine „Art“, wenn man sie mit Maries Situation konfrontiert. Die Sicherheiten, über die Schnier mit seinem Elternhaus und der Wohnung verfügt, hat Marie nicht. Die staatlich legitimierte Ehe böte ihr eine Absicherung. Er kann sich das Bohème-Leben aufgrund der Wohnung, in der er ein warmes Bad nehmen kann, leisten, während Marie in den Augen ihrer Nachbarn, von denen wiederum ihr Vater ökonomisch abhängig ist, eine gefallene (Jung-)Frau ist, so dass sie nirgends eine Möglichkeit zum Rückzug hat. Ähnlich merkwürdig ist seine romantisierende Begeisterung für das ärmliche Leben der Derkums. „Der Erzähler glorifiziert die Armut und dokumentiert dabei unfreiwillig nur die Arroganz des Großbürgersohns“ (Krumbholz 1980, 79).

Gehen wir nun auf Schniers Verhalten gegenüber Marie näher ein. Schnier erinnert sich, dass er Marie mit Züpfner „Hand in Hand“ gesehen hat, „und es gab mir einen Stich. Sie gehörte nicht zu Züpfner, und dieses dumme Händchenhalten machte mich krank“ (AC, 40). Daraufhin nimmt er sich vor, Marie zu verführen. Schnier hat gerade die Schule ohne Abschluss verlassen und trägt sich mit dem Gedanken, auch seine Familie zu verlassen, um Clown zu werden, doch traut er sich nicht. Stattdessen ist er im Lauf von zwei Monaten häufig bei Maries Vater, der ihm Hegel und Marx näher zu bringen versucht, während Marie bei Freundinnen für das Abitur lernt. Schnier geht planvoll vor, denn er sucht sich einen Abend aus, an dem er Derkum im Kino weiß. Über die Konsequenzen für Marie ist er sich im Klaren: „Ich dachte an gar nichts und doch an fast alles, sogar daran, ob sie ‚nachher‘ noch in der Lage sein würde, ihre Prüfung zu machen […]“ (AC, 43). Überdies benutzt er den Schlüssel, den ihm Derkum anvertraut hat. Er weiß, „daß es unfair von mir war […], aber ich hatte gar keine andere Wahl, als den Schlüssel zu benutzen“ (ebd.).

Hier lässt sich ohne Schwierigkeiten ein axiologischer Widerspruch zwischen Überzeugung und Handeln entdecken. Er missbraucht das Vertrauen des Vaters und stellt seine Lage als alternativlos dar. Er muss Marie für sich gewinnen.Footnote 18 Schnier ordnet den Vertrauensmissbrauch seinem Ansinnen, Marie gewissermaßen zu überrumpeln, unter. Und sein Plan geht auf. Er dringt in die Wohnung ein, und es herrscht sofort ein non-verbales Einverständnis zwischen Marie und Schnier.Footnote 19 Schnier vergisst auch nicht zu betonen, dass sie mit 21 resp. 19 Jahren alt genug seien, um für die Taten, die sie vollbringen, auch einzustehen. Trotzdem gibt es ein Problem, nicht für Schnier, sondern für Marie, die gläubig ist. Schnier ist sich dessen bewusst: „Ich konnte mir vorstellen, wie schlimm es für sie war. Es war wirklich schlimm, aber ich hatte nicht länger warten können“ (AC, 49).Footnote 20

Man kann es auch so formulieren, dass sich individuelle Bedürfnisse und gesellschaftliche Erwartungen in einem Konflikt befinden. Dasselbe gilt für die Auswirkungen auf Derkum. Schnier kommt sich zwar „gemein vor, und wußte doch, daß ich’s nicht war“ (AC, 48). Er besteht in beiden Fällen auf der Legitimität seiner Handlungen: „ich hatte nicht länger warten können“ und „wußte doch, daß ichs nicht war“. Was spricht dafür, dass Schnier damit das Normengefüge des Romans verletzt?

2.5 Argumente für einen von Schnier verursachten Normbruch und ihre Widerlegung

Es gibt im Roman keine Instanz, deren Axiologie als verbindlicher Maßstab für Schniers Verhalten in Frage kommt. Allein die Figur des Vaters Derkum verfügt über eine gewisse Autorität über Schnier. Doch wie gleich gezeigt wird, nimmt er seine Verurteilung zurück. Sie gehen erst auseinander, als Derkum ein Zeichen seines Verständnisses ausgesendet hat.

Eine andere Möglichkeit wäre, dass das Ende den Clown widerlegt. Wenn man es als Scheitern auslegt, dass er am Bahnhof für Almosen zur Gitarre singt, könnte dies als Widerlegung all dessen aufgefasst werden, was Schnier zuvor geäußert hat. Doch lässt sich das Gegenteil genauso gut behaupten: Die gesellschaftlichen Kräfte sind so stark, dass der Clown am Ende scheitern muss, obwohl er im Recht ist.Footnote 21 Überdies ist es keineswegs ausgemacht, dass das Ende überhaupt als Scheitern zu interpretieren ist. Es gibt auch die These, dass er damit zu sich selbst finde (vgl. Lehnick 1997, 96–101). Zu welchem Schluss man in dieser Frage auch kommen mag, ein minimaler Konsens dürfte zumindest dahingehend zu erzielen sein, dass das Ende in der Tendenz offen ist und mehrere Deutungsoptionen zulässt. Eben dies aber zeigt zugleich, dass das Ende nicht geeignet ist, als implizite Begründung dafür zu fungieren, dass Schniers Verhalten bzw. seine Ansichten axiologisch ins Verderben führen.

Mathäs (1997, 158) meint, dass Schnier im Zusammenleben mit Marie ihre wachsende Unzufriedenheit ignoriert habe. Seine mangelnde Vertrauenswürdigkeit mit Bezug auf Marie verbindet Mathäs mit der These, dass Schnier unfähig sei, sich der Gegenwart zu stellen, und nur in der Vergangenheit lebe. Dies führe dazu, dass er auch unfähig sei, Maries Bedürfnisse zu erkennen und sein Handeln danach auszurichten. Begründet wird dies u. a. mit der durchaus plausiblen Annahme, dass Schnier kindlich sei (er sieht sich keine Filme an, deren FSK-Freigabe jenseits der 6-Jahre-Grenze liegt). Nicht überzeugend ist jedoch, diese Eigenschaft gegen ihn zu wenden und als Grund für seine Unzuverlässigkeit anzugeben. So habe sich Schniers Denken seit dem tragischen Tod seiner Schwester, die von ihrer Mutter in den letzten Tagen des Krieges zum sog. Volkssturm geschickt wurde, nicht weiter entwickelt. Er sei nicht fähig zu differenziertem Denken: „This event [his sister's death] causes Schnier to view the world in black and white“ (ebd.). Richtig ist zwar, dass Schnier zu Verallgemeinerungen tendiert, die er eigentlich nicht machen dürfte als jemand, der sich für die Würde der Einzelheiten stark macht; aber den Tod von Henriette auf die Funktion zu reduzieren, Schniers Regression anzuzeigen, ignoriert mindestens die primäre Funktion dieses Ereignisses, die darin besteht, die Opposition Schniers zu seiner Familie bzw. seine moralische und emotionale Überlegenheit anzuzeigen, weil er der einzige ist, der unter ihrem Tod offen leidet und ihn nicht zu verdrängen versucht (analog zu all den anderen Gräueltaten, die im Namen der Nationalsozialisten begangen und dann lange Zeit verdrängt wurden).

Man darf die Verführungsepisode nicht missverstehen: Nicht der voreheliche Geschlechtsverkehr ist das Problem, auch nicht die Überrumpelungstaktik als solche. Sie ist sozusagen legitim, weil die Gesellschaft, die vorehelichen Geschlechtsverkehr ablehnt, solche Maßnahmen erzwingt. Jugendliche und junge Erwachsene müssen sich etwas einfallen lassen, um die willkürlichen Grenzen, die die Erwachsenen ziehen, zu überwinden. Marie und Schnier praktizieren etwas, was Menschen dieses Alters immer schon getan haben. Der Fokus der Episode liegt also nicht auf Schniers Machtmissbrauch gegenüber der ihm körperlich unterlegenen Marie, sondern auf der letztlich gemeinsamen Überwindung eines gesellschaftlichen Zwangs, der jungen Leuten sexuelle Handlungen vor der Ehe verbietet. Dass der Preis für Marie ungleich höher ist, bildet das übergeordnete Konfliktpotential, aus dessen Entladung der Roman seine Energie gewinnt.

Potentiell problematisch ist zwar, dass Schnier Maries Recht auf ein selbstbestimmtes Leben außer Kraft setzt, um seinen eigenen Lebensentwurf auf ihre Kosten durchzusetzen. Doch das einzige, was für ein Fehlverhalten Schniers spricht, ist, dass es aus heutiger Sicht unangemessen wirkt. Aus damaliger Sicht aber entspricht es der Norm, dass eine Frau ihre Tätigkeit aufgibt, um sich um die Familie – und das heißt auch: den Mann – zu kümmern. Das ist nicht die Norm, die der Roman angreift; er geht von ihr aus. Was er angreift, sind die Vorstellungen über das gesellschaftliche Mitsprache- bzw. Einspruchsrecht bei individuellen Angelegenheiten. Im Roman gibt es keinen Hinweis darauf, dass er das patriarchale Geschlechterverhältnis, das Schniers Verhalten zugrunde liegt, in Frage stellt. Und auch Böll selbst hatte zumindest zu jener Zeit ein Frauenbild, in dem „noch ein Element des traditionellen Katholizismus wirksam“ gewesen sei, „der Marienverehrung zu verbinden vermag mit der Reduktion der Frauenrolle auf die ‚Gehilfin‘ des Mannes“ (Balzer 1988, 55).

Schnier meint, Maries Vater müsse für ihn eigentlich Verständnis haben, denn Derkum sei „schon lange aus der Kirche ausgetreten, und er hatte bei mir immer auf die ‚verlogene sexuelle Moral der bürgerlichen Gesellschaft‘ geschimpft und war wütend ‚über den Schwindel, den die Pfaffen mit der Ehe treiben‘. Aber ich war nicht sicher, ob er das, was ich mit Marie getan hatte, ohne Krach hinnehmen würde“ (AC, 46). Tatsächlich gibt es Krach, aber nur kurz, ehe Derkum tatsächlich Verständnis zeigt.

Die (von Schnier als richtig akzeptierten) Normen, die sich sozusagen aus dem natürlichen Drang der Geschlechter zueinander ergeben, stehen den (verkehrten) Normen der damals herrschenden Kultur entgegen. Schnier kann von ihnen absehen, Marie nicht. Das ist der Grundkonflikt. Wäre sie so frei wie er, gäbe es kein Problem und die beiden könnten sich in ihrer Zweisamkeit vom Rest der Gesellschaft abmelden. Nähme er Rücksicht auf die gesellschaftlichen Normen, würde er die (als richtig akzeptierten) verraten.

Als Schnier am folgenden Tag zu Derkum kommt, der inzwischen im Bilde über das Vorgefallene ist, macht dieser ihm zunächst Vorhaltungen. Er erinnert ihn daran, „wie wir uns krumm gelegt haben für die verfluchte Prüfung“ (AC, 63). Gemeint ist das Abitur. Hier entsteht der Eindruck, dass Derkum das Korrektiv ist, das im Roman die Selbstbezogenheit Schniers offenbart. Aber so ist es nicht. Marie ist bereits nach Köln gefahren, und Schnier folgt ihr, nicht ohne Derkum noch um Geld angegangen zu sein, das dieser ihm gibt. Das Kapitel endet damit, dass Derkum, der unangepasste Linke, der zwischen allen Stühlen sitzt (als vom NS-Regime Verfolgter sollte er erst Bürgermeister werden, um dann von einer Koalition aus Kommunisten und Bürgerlichen verhindert zu werden), sich bei Schnier für seine Vorwürfe sogar entschuldigt. Als Maries Vater sanktioniert er damit nachträglich die Verführung.

Zur Trennung von Marie führt fünf Jahre später Schniers spontane Weigerung, seine schriftliche Einwilligung in die christlich-katholische Erziehung ihrer künftigen Kinder zu geben. Als er dann aber doch nachgibt, überzeugt dies Marie nicht, da sie glaubt, seine Nachgiebigkeit sei bloß Folge seiner Bequemlichkeit. Was sie sich wünscht, ist die Annahme ihrer Prinzipien. Er allerdings besteht darauf, dass für ihn allein sie die Hauptsache sei. Damit sie bei ihm bleibe, würde er auch konvertieren. Das habe einfach nicht die Bedeutung, die Marie für ihn habe, seiner Meinung nach eine schöne Liebeserklärung, für die Marie jedoch nicht sonderlich empfänglich ist. Sie ist dem Einfluss ihres katholischen Gesprächskreises erlegen, dessen Mitglieder just in Hannover am Katholikentag teilnehmen und bis zum selben Tag, an dem die Unterhaltung stattfindet, sogar im selben Hotel wohnen, während Schnier im Umland von Aufführung zu Aufführung tingelt. Sie übernimmt die Redeweise des Gesprächskreises und benutzt ihr sonst fremde Ausdrücke wie „abstrakte Ordnungsprinzipien“ (AC, 72).

Schnier wäre mit Bezug auf Marie axiologisch unzuverlässig, wenn es darum ginge, dass er Maries Bedürfnisse nicht respektiert. Die Frage der Empathie oder der Rücksichtnahme auf den Partner wird im Roman jedoch gar nicht gestellt.Footnote 22 Stattdessen geht es um die Unvereinbarkeit zweier Lebensweisen: derjenigen, die Schnier verkörpert, und derjenigen, die der Bonner Katholikenkreis repräsentiert.

Im Roman wird dieser Konflikt durch die unterschiedlichen Ehevorstellungen konkretisiert, wie gleich ausgeführt wird. Man muss sich bei der Interpretation des Romans seine Anlage, sein konstruktives Fundament vor Augen halten, das in dem Konflikt zwischen (katholischem) Dogma und (christlichem) Verhalten besteht. Dieser Grundkonflikt ist in dem Roman vielfach realisiert und durchweg spürbar. Ganz allgemein gesagt, ist es die Opposition zwischen abstrakt und konkret, die den Romanaufbau durchzieht und mehreren Motiven zugrunde liegt: etwa auch dem Kontrast zwischen (unbedeutender) allgemeiner Wahrheit und (künstlerisch bedeutender) Einzelheit oder dem Kontrast zwischen abstrakten gesellschaftlichen bzw. katholischen Normen und konkreten individuellen Bedürfnissen.

Schnier und Marie sind geradezu holzschnittartig kontrastiert: hier der protestantische Sohn einer reichen großbürgerlichen Industriellenfamilie, die Sympathien für die Nationalsozialisten hatte, dort die katholische Tochter eines armen Schreibwarenladenbesitzers, der dem linken Widerstand gegen die NS-Herrschaft nahestand. Marie kann sich nicht von dem dogmatischen Zugang ihres Bonner Kreises lösen, dessen Werte und Normen Schnier vehement ablehnt.

Die Figur Schnier besetzt demnach die Position des wahren Christentums, dem es vor allem um Aufrichtigkeit und um die Würde des einzelnen geht, weniger um die tätige Barmherzigkeit und Nächstenliebe (was er den dazu Berufenen wie dem Kaplan Behlen oder dem SPD-Funktionär Wieneken überlässt), während die Vertreter der verbandskatholischen Position leere Formen des Ritus zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung für wichtiger halten. Dieser Grundkonflikt kommt nicht zuletzt in Schniers Haltung zur Ehe zum Ausdruck. Er bewertet das kanonische Gebot, wonach sich die Eheleute das Sakrament der Ehe selbst in gegenseitigem Einverständnis geben, höher als den kirchlichen Segen, auf dem die dogmatische Seite in Form einer Trauung besteht. Daher betrachtet er sein Zusammensein mit Marie als auch im (eigentlichen) katholischen Sinne als legitimiert und Maries Hinwendung zu Züpfner als Ehebruch, während die dogmatischen Vertreter des Bonner Kreises und auch Marie selbst es umgekehrt sehen: Marie habe mit Schnier in Sünde gelebt und dieses falsche Leben zugunsten einer legitimen Ehe mit Züpfner aufgegeben. Dass es aus dieser Gemengelage keinen Ausweg gibt, solange diese beiden Positionen innerhalb des Katholizismus nicht miteinander vermittelt werden, ist die Kernaussage des Romans, der damit einen aus Bölls Sicht wesentlichen Widerspruch der katholischen Kirche in eine individuelle Geschichte übersetzt. Der Roman löst den Widerspruch nicht, verhehlt aber auch nicht, wo die Sympathien des Autors liegen.

Betrachtet man das Verhältnis von Marie und Schnier isoliert, liegt aus den genannten Gründen keine axiologische Unzuverlässigkeit vor. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass Schnier Normen oder Werte verletzt, die der Text setzt. Gesetzt wird der positive Wert eines freien und selbstbestimmten Zusammenlebens; nicht der der Geschlechtergerechtigkeit. Der Wert des freien und selbstbestimmten Zusammenlebens wird im Roman in Frage gestellt vom politischen Katholizismus.

2.6 Schniers fragwürdige Einstellung gegenüber weiteren Figuren und ihre Rechtfertigung

Nach der Trennung Maries taucht ein anderes Problem auf: Schniers Geldnöte. Sie sind eine Folge der Trennung, unter der er so sehr leidet, dass er in eine berufliche, letztlich aber auch künstlerische Krise gerät (die Gitarre wird die Pantomime ablösen). Wie geschildert, sind mit dem finanziellen Bezugsbereich ebenfalls Anomalien zu verzeichnen. Wie selbstverständlich verlässt er sich auf die Hilfe von anderen. Neben den bereits erwähnten Beispielen gibt es weitere Reaktionen Schniers, die aufmerken lassen. So neigt er etwa zur Verschwendung. Als er von Edgar Wieneken Geld bekommt, leistet er sich davon sofort ein Taxi, um zu Marie zurückzukommen, eine unnötige Ausgabe, wie er selbst eingesteht (vgl. AC, 154). Drastischer ist seine Reaktion im Gespräch mit Bela Brosen, der Geliebten des Vaters. Er bittet sie telefonisch darum, dass sie ihm über seinen Vater Geld beschafft. Dabei lügt er sogar, sagt, dass er mit seinem Vater nicht über Geld gesprochen habe – was nicht wahr ist. Als sie zaudert, ändert er seine Einstellung ihr gegenüber. War er ihr bis dahin in seinen beiläufigen Kommentaren gewogen, stößt sie ihn nun ab: „[…] ich fing schon an, sie für das dümmste Weibsstück zu halten, mit dem ich je zu tun gehabt hatte“ (AC, 170).Footnote 23 Darin drückt sich ebenso eine gewisse Menschenverachtung wie in dem demonstrativen Desinteresse an Behlens Schicksal, als er von seinem Bruder erfährt, dass er verschwunden und also keine Hilfe von ihm zu erwarten sei.

Was ist nun mit diesen Anomalien anzufangen? Steckt dahinter ein System, das darauf angelegt ist, die Selbstwidersprüchlichkeit des Clowns und seine Verstrickung in die gesellschaftlichen Vorurteile zu offenbaren, die er bei anderen kritisiert? Ist Schnier am Ende eine negative Figur? Das sicher nicht, aber die Häufung von Anomalien lässt doch immerhin die nach außen hin eindeutige Werteverteilung etwas verschwimmen. Schnier wird deshalb nicht selten Narzissmus attestiert. Adäquater wäre vielleicht, ihn als Egoisten zu charakterisieren, denn es ist ja nicht Selbstverliebtheit, die sein Verhalten steuert, sondern seine Konzentration auf die eigenen Bedürfnisse, während er auf die Bedürfnisse der anderen gar nicht eingeht. Dazu würde auch sein Verhalten Marie gegenüber passen. Wähnt er sich in seinem Verhalten ihr gegenüber nur in einem Einverständnis, das in Wirklichkeit gar nicht besteht? Das scheint Schnier rückblickend selbst zu glauben: „Marie war nah daran, mich zu verstehen, ganz verstand sie mich nie“ (AC, 93). Auffällig ist natürlich auch, dass er selbst von keinem Versuch berichtet, Marie verstehen zu wollen.

Die Rekurrenz der Anomalien, die auf den egoistischen bias von Schnier verweisen, rechtfertigt es, ihm unter gewissen Vorbehalten axiologische Unzuverlässigkeit zuzuschreiben. Der erste Vorbehalt besteht darin, dass Schnier, was die Wertekonflikte betrifft, die im Vordergrund des Textes stehen, zuverlässig ist. Die erwähnten axiologischen Schnitzer in den Telefonaten mit Bela und mit Leo lassen sich nämlich relativieren.

Bevor er mit Bela telefoniert, charakterisiert Schnier sie ambivalent: „Ich hatte sie nur einmal gesehen, sie lieb und hübsch und auf eine angenehme Weise dumm gefunden“ (AC, 160). Auch bringt er sie in Zusammenhang mit Geldgier, alles Stichworte, die er während des Telefonats mit ihr aufgreift. Zwar verändert er tatsächlich seine Einstellung ihr gegenüber im Lauf des Gesprächs, aber er aktualisiert dabei nur das, was in der Anfangscharakterisierung schon angelegt ist.

Blickt man auf das entscheidende Gespräch zwischen Leo und Schnier am Ende des Romans (auf dessen Zustandekommen Schnier die ganze Zeit der Erzählgegenwart über wartet), dann darf man die erwähnte Reaktion Schniers nicht überbewerten. Zwar scheint er sich für Behlens Schicksal nur insoweit zu interessieren, wie dieser ihm nützlich ist; aber das ist doch nur ein geringfügiges Detail im Vergleich zu der Hauptsache dieses Kapitels: nämlich Leos Weigerung, über seinen Schatten zu springen, seine Regularien zu missachten, um dem Bruder helfend zur Seite zu stehen, sei es mit Geld, sei es durch Teilnahme und Brüderlichkeit.

In beiden Telefonaten geht es darum, dass Schniers Bitte um Hilfe nicht entsprochen wird. Besonders bei dem werdenden Priester Leo wird klar, dass er die Regeln des Konvikts nicht brechen will, um seinem Bruder zu Hilfe zu kommen. Wieder siegt die heilige Ordnung über die christliche Praxis. Das entspricht der kritischen Stoßrichtung des Romans und ist nicht die Norm, die durch Schniers aufblitzenden Egoismus widerlegt werden soll. Meine Zurückhaltung, in Schniers Egoismus einen hinreichenden Grund für seine axiologische Unzuverlässigkeit zu sehen, liegt eben darin: Sein Egoismus wird dort manifest, wo es darum geht, ihm in seiner Not zu helfen. Dass er sich dabei mitunter egoistisch verhält, ist gewissermaßen ein Epiphänomen, weil sein Egoismus geeignet wäre, seine Kritik an der mangelnden Humanität der Katholiken auszuhebeln. Da aber diese Kritik, worüber sich alle einig sind, die allgemeine Stoßrichtung des Romans ist, mindert das den funktionalen Grad von Schniers Egoismus im Bedeutungsaufbau des Romans.Footnote 24

Der zweite Vorbehalt setzt genau an dieser Stelle an. Wie man diese Passagen einordnet, hängt letztlich von der Theorie axiologischer Unzuverlässigkeit ab, die man in Anschlag bringt. Die Zuschreibung axiologischer Unzuverlässigkeit funktioniert – wie in Kap. 1 ausgeführt – nach Auffassung vieler Literaturwissenschaftler prinzipiell anders als die Zuschreibung mimetischer Unzuverlässigkeit, weil sie interpretationstheoretisch auf einer anderen Ebene verortet ist. Um zu erfassen, ob bestimmte Handlungen oder Überzeugungen der Erzählerfigur axiologisch negativ sind, benötigt man einen Maßstab, an dem diese Handlungen oder Überzeugungen gemessen werden. Dieser Maßstab wiederum ist nicht in derselben Weise im Text verankert, wie die (fiktiven) empirischen Sachverhalte der erzählten Welt, die allein dadurch festgelegt sind, dass von etwas verständlich die Rede ist. Wie wertrelevante Sachverhalte axiologisch einzuschätzen sind, kann – muss aber nicht im Text festgelegt sein. Im vorliegenden Fall müsste man also zeigen, dass Böll seine Erzählerfigur so angelegt hat, dass sie mit ihrem Verhalten gegen Normen verstößt, um dem Text definitiv axiologische Unzuverlässigkeit zuzuschreiben. Ohne konkrete Hinweise liegt seine Unzuverlässigkeit allenfalls im Bedeutungspotential, wobei sie aus den genannten Gründen nur schwach im Text verankert ist. Für Schniers Unzuverlässigkeit sprechen die genannten Rekurrenzen; dagegen spricht, dass die punktuellen Verfehlungen Schniers nicht so recht in die zentrale Wertproblematik des Romans passen.

Allgemein gesagt, ist das, was sich die negativen Figuren zuschulden kommen lassen, mangelnde Humanität, und zwar in einem ganz bestimmten Sinne. Humanität in Bölls Verständnis besteht darin, auch einmal Fünfe gerade sein zu lassen und einfach zu helfen, was immer die Vorschriften besagen. Wo Liebe ist, braucht man keine Ordnung, lautet die Maxime übersetzt. Humanität setzt nach landläufigem Verständnis vermutlich auch Einfühlungsvermögen voraus. Aber, so jedenfalls mein zweiter Vorbehalt, dieser Aspekt von Humanität wird in dem Roman nirgendwo thematisiert, es sei denn, eben in Schniers punktuellen Verstößen gegen die Norm, Mitgefühl gegenüber den Situationen, in denen seine Mitmenschen stecken.

2.7 Zur Distanz zwischen Autor und Erzählinstanz

Stärker noch als in Das Brot der frühen Jahre ist die Erzählerfigur des Clowns nicht in jeder Hinsicht als Sprachrohr des Autors intendiert, wiewohl Schnier mit seiner Kritik am institutionalisierten Katholizismus in wichtigen Punkten als Instanz fungiert, Bölls eigene Ansichten zu vermitteln. Gerade seine gewissermaßen asozialen Verhaltensweisen sind asozial in Bezug auf die Werte dieses Katholizismus; sein Verhalten ist erzwungen, weil die verbandskatholischen Werte es sind, die Schnier zum Aussteiger werden lassen.

Schnier lebt also gemäß den Werten, die er hat, und damit geht er weiter als die meisten, die wie Böll selbst mit den katholischen Institutionen, ihren Dogmen und ihrem Einfluss auf das gesellschaftliche Leben nicht einverstanden waren. Darin liegt die Distanz zwischen Autor und Erzähler. Aber ist diese Distanz durch Schniers Unzuverlässigkeit markiert? Sie wäre es, wenn die Übertriebenheit, die sich in der Figur des Schnier manifestiert, die Funktion hätte, ihn ideologisch zu diskreditieren. Die hier zusammengetragenen Argumente dürften indes gezeigt haben, dass das nicht der Fall ist. Der überspitzte Figurenzuschnitt dient im Gegenteil dazu, die kritische Stoßrichtung schärfer zu machen.

Die besondere Zurichtung der Figur hat weitere Funktionen. Man könnte annehmen, dass aufgrund von Bölls Literaturauffassung gewisse Unschärfen in ihrem axiologischen Profil poetologisch eingepreist sind. Es sind gewissermaßen ideologische Widerhaken, die den Kunstcharakter ausmachen und den Roman von einem Pamphlet unterscheiden. Gerade in der pointierten Zurichtung der Figur, aber auch der Situationen liegt für Böll der Kunstcharakter, denn „Übertreibung ist die Definition der Kunst“ (Böll 1960, 42).Footnote 25

Immerhin handelt es sich um „Ansichten“ eines Clowns, nicht um Einsichten, anders gesagt, um Annahmen, nicht um Wahrheiten, die der Clown verkündet. Man kann also zu dem Schluss kommen, dass sich in dem Titel eine gewisse Relativierung oder Distanzierung von den Verlautbarungen des Clowns ausdrückt, zwar nicht in der thematisierten allgemeinen Stoßrichtung, sondern in dem erwähnten Sinne, dass der Roman nach Böll einen künstlerischen Anspruch hat, dem gemäß allzu scharfkantige oder eindeutige Aussagen das künstlerische Moment aufheben.Footnote 26

Dieser Anspruch äußert sich auch in einer besonderen Eigenschaft, die Böll seinen Helden sich selbst zuschreiben lässt: Gerüche durch das Telefon zu erkennen. Es gibt ansonsten wenig im Roman, was den Realismus der Geschichte aufhebt und in diesem Sinne als anti-mimetisch verstanden werden könnte. Diese Eigenschaft erscheint auch deswegen als phantastisches Element, weil der Clown als performance-Künstler sich ihrer nicht bedient, obwohl sie sich für einen wie ihn bestens eignen würde (vgl. Seiler 2005 [1983], 320). Sie ist zwar nicht ganz isoliert, weil Schnier während seiner Telefonate darauf zurückkommt, aber Auswirkungen auf sein Leben hat sie nicht. Seine besondere Fähigkeit ist damit nicht gänzlich funktionslos, aber fast, indem sie nur auf sich selbst verweist. Poetologisch gesprochen, stellt sie ganz in dem eben beschriebenen Sinne den Kunstcharakter der Geschichte zur Schau.

Schniers Eigenschaft, Gerüche durch das Telefon wahrzunehmen, lässt sich aber auch anders interpretieren: als Einbildung nämlich. So gesehen, würde sie die überbordende Einbildungskraft des Clowns und Künstlers markieren, die so stark ausgeprägt ist, dass er für wahr hält, was er sich – unter mimetischer Betrachtungsweise – nur einbildet. Das wäre ein geradezu klassischer Fall mimetisch unzuverlässigen Erzählens. Ihre Funktion wäre allerdings der zuvor präsentierten Funktion der anti-mimetischen Lesart ähnlich. Sie stellt den Kunstcharakter aus, indem sie die Distanz zwischen Autor und Erzähler vergrößert. Darüber hinaus pointiert sie den subjektiven bias der „Ansichten“ und akzentuiert zugleich den künstlerischen Aspekt der Wahrnehmungen Schniers. Zu Kritisierendes sieht er klarer (und er handelt kompromissloser) – das ist das, was ihn in der Hauptsache zuverlässig macht –, manches aber – so sagt uns die als Einbildung verstandene übermenschliche Riechfähigkeit – ist eben nur eine subjektive Wahrheit, eine Empfindung, die man nicht mit der Wirklichkeit verwechseln sollte. In dieser Distanzierung von Schnier drückt sich, wenn man so will, eine gesunde Skepsis gegenüber allzu konsequenten Charakteren aus. Es ist eine Art ästhetischer Notbremse. Sie sorgt dafür, dass man es nicht mit einem bloßen Thesenroman, mit einem weltanschaulichen Pamphlet zu tun hat, sondern eben mit Kunst, die vielleicht nicht gerade sich selbst, aber ihren ideologischen Aspekt zumindest ansatzweise in Frage stellen kann.

Eine letzte Überlegung, die die Annahme stützen könnte, dass es Signale gibt, die die Position des Erzählers als axiologische Autorität unterminieren, gründet auf der Beobachtung, dass der Clown sich beständig inszeniert und vor sich selbst nicht authentisch ist. So führt er seinen Bühnensturz wohl absichtlich herbei und übertreibt die Schwere der Blessur. Eindrücklich ist auch die Schlussszene. Als Clown geschminkt und vor sich seinen Hut auf dem Boden, singt er auf den Stufen des Bonner Hauptbahnhofs zur Gitarre. Überrascht, aber auch zufrieden stellt er fest, dass Karneval ist und er in seinem Aufzug nicht weiter auffällt. Weil er keinen Pfennig mehr hat, drapiert er eine Zigarette im Hut, „nicht genau in der Mitte, nicht an den Rand, so, als wäre sie von oben geworfen worden“ (AC, 237). Als die erste Münze darin landet, verspringt die Zigarette an den Rand. „Ich legte sie wieder richtig hin und sang weiter“ (AC, 238), lautet der letzte Satz.

Sieht man von einer an den Wertvorstellungen des Autors orientierten Interpretationskonzeption ab und legt stattdessen eine Konzeption zugrunde, wonach sich der Wert des Werks als literarisches umso mehr steigert, je mehr literarisch interessante Aussagen sich generieren lassen (wobei die Annahme gilt, dass literarisch interessante Aussagen solche sind, die z. B. mangelnde Eindeutigkeit bzw. Ambivalenz ausbeuten), dann könnte man auf der Basis der Inkongruenzen zwischen Schniers Verhalten und seinen Wertvorstellungen schließlich doch u. E. zu dem Schluss kommen, dass er axiologisch nicht zuverlässig ist, sofern er seinen eigenen Idealen nicht gerecht wird und übersieht, dass auch seine eigene Einstellung, gemessen an seinen Ansprüchen an andere, fehlbar ist. Diese Option sollte aber nicht zu Lasten der weitaus gewichtigeren ideologischen Zuverlässigkeit Schniers gehen. Sie unterminiert diese Zuverlässigkeit nicht. Eher wird dadurch erreicht, dass Schniers Eindimensionalität entgegengewirkt wird. Auch Schnier hat seine Fehler, ist also durchaus eitel und egoistisch, was ein Christ vielleicht nicht sein sollte. Analog zu seiner unwahrscheinlichen olfaktorischen Begabung lässt sich darin eine Distanzierung des Autors von seinem Erzähler erkennen, dessen künstlerische Begabung einerseits und menschliche Schwäche andererseits ihn davor bewahrt, eine farblose Verpackung ideologischer Thesen zu sein.

2.8 Zusammenfassung

Wie lautet nun nach alldem die Antwort auf die Frage, ob Bölls Roman Ansichten eines Clowns unzuverlässig erzählt ist? Es dürfte klar geworden sein, dass es auf diese einfache Frage keine ebensolche Antwort gibt. Erstens ist, aufs Ganze gesehen, Schnier ein eher zuverlässiger als unzuverlässiger Erzähler, weil er im Normengefüge grundsätzlich auf der axiologisch positiven Seite steht. Zweitens ist sein häufig als fragwürdig eingestuftes Verhalten gegenüber Marie, gemessen an dem Frauenbild, das dem Roman zugrunde liegt und das auch Böll damals teilte, normal. Allenfalls im Verbund mit einigen anderen Reaktionen ließe sich Schnier Egoismus vorhalten, der nicht in Einklang mit Bölls Humanitätsideal steht. Insofern und nur insofern kann man Schnier partiell axiologische Unzuverlässigkeit attestieren – unter der zusätzlichen Einschränkung, dass die Verstöße Schniers im Roman kaum mit anderen Motiven in Verbindung stehen und daher nur schwach verankert sind, was die Bedeutsamkeit der ohnedies nur partiellen Unzuverlässigkeit weiter mindert. Wäre sie stärker ausgeprägt, wäre ihre Bedeutsamkeit größer, müsste der Konflikt von Schniers Unzuverlässigkeit mit seinen zuverlässigen Invektiven im Roman spürbarer sein, da sie ein Grund für den Selbstbetrug Schniers ist. Das Problem dabei allerdings ist, dass diese Eigenschaft seine Kritik an der Verlogenheit der Katholiken entwerten würde. Und das wiederum würde der allgemeinen kritischen Stoßrichtung des Romans entgegenstehen. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass das in Bölls Absicht lag. Deswegen neige ich zu der Ansicht, dass Schniers partielle Unzuverlässigkeit sozusagen aus Versehen in den Roman gekommen ist. Der Plan bestand vermutlich eher darin, Schniers Subjektivität und Clownhaftigkeit für Überspitzungen und Einseitigkeit zu nutzen, die dem Roman die Schlagkraft verleihen, die er bei seinem Erscheinen tatsächlich entfaltete. Diese Einseitigkeit des Urteils ist jedoch kein Grund, der Schnier zu einem unzuverlässigen Erzähler macht.

Selbst wenn man auf der Basis einer wertmaximierenden Interpretationstheorie die am Text belegbaren axiologischen Anomalien, die Schniers Egoismus anzeigen, vor dem Hintergrund des für den Text geltenden Humanitätsmaßstabs als hinreichend für seine partielle axiologische Unzuverlässigkeit ansieht und auf diese Weise dem Text ein Plus an Bedeutung attestiert, muss man sehen, dass dieses Bedeutungsplus, gemessen an der Gesamtbedeutung des Textes minimal ist, weil seine hauptsächliche Thematik in eine andere Richtung weist. Diese ist eben keine Kritik am Individuum aufgrund seiner Unzulänglichkeit, seinen Ansprüchen an andere selbst gerecht zu werden, sondern eine Kritik an dogmatischen Zwängen und Heuchelei vornehmlich von Vertretern katholischer Institutionen. Diese Hauptsache darf man nicht übergehen. Sonst vermittelt man wie Mathäs (1997) nicht nur ein anachronistisches, sondern auch axiologisch unangemessenes Bild von dem Roman.

Was ist mit diesem Ergebnis nun gewonnen? Die Analyse zeigt abermals, dass man mit der Frage nach der Realisierung des Erzählverfahrens tief in die Faktur eines Romans eindringen und einiges über ihn herausbringen kann. Das heuristische Potential der Kategorie lässt sich damit gut unter Beweis stellen. Es gewährt auch weitere Erkenntnisse, die in diesem Falle freilich eher falsifizierenden Charakter haben.

Bölls Roman wurde in die Tradition von Max Frisch gestellt (vgl. Noble 1975). Diese literaturgeschichtliche Hypothese lässt sich aufgrund der hier gewonnenen Erkenntnisse, wenn nicht widerlegen, so doch in ihrer Reichweite stark einschränken. Zwar ist es richtig, dass in den Ansichten keine Totalität mehr geboten wird, sondern eben Ansichten, aber sie haben doch einen ganz anderen Grad an Verbindlichkeit als die von Frischs Erzählern. Das Subjektive und das Sprunghafte im Erzählen Schniers lässt sich zwar als „Hang zum Skizzenhaften“ charakterisieren und dies mit Frischs Schreibkonzeption parallelisieren (ebd., 159), doch bleibt diese Charakterisierung an der erzähltechnischen Oberfläche, da Schnier letztlich eben doch Wahrheiten verkündet. Hinter seinen Ansichten baut sich sehr wohl ein kohärentes Weltbild auf. Dieses mag überspitzt und einseitig sein, aber in Schniers Einseitigkeit liegt kein grundsätzlicher Irrtum: Die Einseitigkeit seiner Ansichten macht diese nicht ungültig. Sie soll ihre prinzipielle Stoßrichtung nicht widerlegen, sondern allenfalls den Autor schützen. Pointiert gesagt: Schniers Subjektivität, wie sie sich in seinen überzeichneten Auffassungen, aber auch in seinem Künstlertum kundtut, ist die Bastion, in die sich der Autor zurückziehen kann, wenn die Gegenattacken zu scharf werden. In diesem Sinne äußert sich Böll (1985, 486 [Kursive i. O.]) in dem über zwanzig Jahre später verfassten Nachwort zum Roman, wenn er ihn als „Satire“ bezeichnet und davor warnt, „den dümmsten aller Fehler zu begehen, Autor und ‚Held‘ total zu identifizieren“ – was im Umkehrschluss bedeutet, dass Böll eben doch eine Menge der „Ansichten“ seines Erzählers teilt.

3 Unzuverlässigkeit vs. Phantastik in Günter Grass’ Blechtrommel

Im vierten Kapitel der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull merkt der autodiegetische Erzähler nach einem langen Zitat an, das er seinem Paten Schimmelpreester in den Mund legt: „Soweit mein Pate. Ich habe mir diese Äußerung wörtlich gemerkt, weil er sie oft mit denselben Redewendungen wiederholte“ (FK, 29). Thomas Mann lässt seinen Erzähler das sagen, um zweierlei zu erreichen: nämlich die Etablierung von Ansichten in der erzählten Welt, die unabhängig vom Erzähler sind, und die Legitimierung der wahrheitsgetreuen Wiedergabe dieser Ansicht. Normalerweise können sich Menschen solch lange Texte nicht merken. Also erfindet der Autor eine Situation, die das Unwahrscheinliche – man könnte auch sagen: das Unrealistische – wahrscheinlicher macht. Geschickter macht es übrigens Erwin Strittmatter, der seinen heranwachsenden Ich-Erzähler Tinko im gleichnamigen Roman mit einem außergewöhnlichen Gedächtnis ausstattet, ohne aber explizit diese Eigenschaft mit der Authentizität seiner Zitate zu verbinden. Auf diese Weise erzielt er dieselben Effekte.Footnote 27

Die zitierte Anmerkung Felix Krulls ist – die Vokabel „Realismus“ legt es nahe – ein motivisches Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Die realistischen Autoren standen immer wieder vor dem Problem, wenn sie homodiegetische Erzählungen verfassten, das in der erzählten Welt Gesagte auf eine Weise zu vermitteln, dass der zeitgenössische Leser ihnen das abkaufte, ohne sich fragen zu müssen, ob das denn sein könne, dass das Ich in seiner Erzählung Dinge wiedergibt, die er nicht wissen kann oder die er nicht alle auf einmal und schon gar nicht wörtlich behalten haben kann. Dies führte eben sehr häufig zu solchen, wenn man so will, epithetischen Phrasen zur Etablierung und Legitimierung von Authentizität oder zur Herbeiführung eines effet réel.Footnote 28

Für viele nachrealistische, d. h. moderne Autoren ist diese Forderung obsolet. Insbesondere Günter Grass schert sich nicht um solche Legitimationsstrategien. Im Gegenteil, er verstößt gegen solche Konventionen systematisch und scheint sich damit über sie lustig machen (oder, im Sinne der Moderne, Literarizität generieren) zu wollen. Aus diesem Grunde könnte die Anwendung einer Kategorie wie die narrativer Unzuverlässigkeit auf seine Texte, obwohl sie teilweise naheliegt, reichlich problematisch sein. Dass eine Untersuchung unter dem Aspekt der Unzuverlässigkeit gleichwohl aufschlussreich ist, möchte ich anhand der folgenden Überlegungen zeigen. Das Ergebnis wird deutlich machen, dass das heuristische Potential der Kategorie selbst dort, wo ihre Anwendung an Grenzen stößt, beträchtlich ist. Grass’ Texte unterlaufen die Anwendung beider Kategorien, Zuverlässigkeit wie Unzuverlässigkeit. Aber die Analyse erlaubt es, diese Grenzen sichtbar zu machen und auf diese Weise ein tieferes Verständnis der literarischen Eigenart von Grass’ Werk zu erlangen.

Obwohl also das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens in Grass’ sog. Danziger Trilogie nicht so eindeutig realisiert ist, wie es vielleicht den Anschein haben mag, ist mindestens seit den 1970er Jahren schon die Rede davon. Meist wird es als Tatsache verbucht und nicht eigens diskutiert oder gar problematisiert. Allerdings bleiben die Zuschreibungen recht allgemein, und bei genauerer Betrachtung werfen sie mehr Fragen auf, als dass sie Antworten geben.Footnote 29 Das Problem ist nämlich, dass zugleich das anti-mimetische Moment von Oskars Erzählen betont wird. Oskars „Existenz im Roman ist ein artistischer Vorgang, der sich so weit wie möglich entfernt hält von der Vortäuschung irgendwelcher ‚Natur‘“ (Maier 1969, 40). Die Neigung von Literaturwissenschaftlern, die Künstlichkeit moderner Literatur herauszustellen, um damit ihre besondere Literarizität in Abgrenzung zur literaturgeschichtlich älteren realistischen Literatur festzustellen, ist bekannt. Ich werde dagegen zu zeigen versuchen, dass die Blechtrommel mehr mimetisch-realistische Elemente enthält als gemeinhin angenommen, und damit die These verknüpfen, dass dies auch ein Grund für den breiten Erfolg des Romans ist.

3.1 Oskars Anspruch auf Glaubwürdigkeit

Oskar, der Erzähler der Blechtrommel, scheint als „Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt“, wie er sich gleich im ersten Satz vorstellt, ein geradezu paradigmatischer unzuverlässiger Erzähler zu sein.Footnote 30 Anschließend spricht er sogar davon, dass er seinem Pfleger Geschichten erzähle, und verwendet dabei das Wort „vorlügen“. Einstweilen muss aber offen bleiben, ob er tatsächlich lügt oder ob es nur eine schnodderige façon de parler ist. Allemal aber wird mit diesen beiden Hinweisen von Beginn an die Glaubwürdigkeit des Erzählers zur Disposition gestellt.

Es wäre vorschnell, schon an dieser Stelle den Schluss zu ziehen, dass Oskar kein unzuverlässiger Erzähler sei. Das Argument für seine Zuverlässigkeit würde lauten, dass er selbst es sei, der auf seine Lügen im Voraus hinweist und so den Leser vorwarnt, also ihn gerade nicht täuscht. Zwar betrifft dieser Vorbehalt den gesamten Text, der folgt;Footnote 31 aber gerade weil der Vorbehalt so allgemein ist, steht man bei jedem Sachverhalt, von dem die Rede ist, vor der Frage, ob er besteht oder nicht.Footnote 32 Außerdem thematisiert Oskar den Unterschied zwischen wahr und falsch wenig später selbst, wenn er vom Tod seines Großvaters erzählt: „Ich, der ich fest daran glaube, daß er unter dem Floß seinen Tod schaffte, muß mich, um glaubwürdig zu bleiben, hier dennoch bequemen, all die Versionen wunderbarer Rettungen wiederzugeben“ (B, 32 f.). Glaubwürdigkeit scheint demnach also doch etwas zu sein, worauf Oskar zumindest an dieser Stelle Wert legt.

In gewisser Weise ähnlich scheint es sich mit der zuvor erzählten Zeugung seiner Mutter zu verhalten, die in Oskars Version mehr als bizarr ist: Sein klein-, aber breitgewachsener Großvater Joseph Koljaiczek sucht auf der Flucht vor zwei Gendarmen im Oktober Unterschlupf unter den Röcken von Oskars späterer Großmutter Anna Bronski, die auf einem Feld vor einem Kartoffelfeuer sitzt. Dabei kommt es angeblich zum Beischlaf, während die Gendarmen mit ihren Bajonetten in Krauthaufen und Kartoffelmiete einstechen und die Gegend absuchen.

Oskar ist es wichtig, die Version seiner Mutter von ihrer Zeugung nachzureichen (B, 20). Agnes kann zwar genauso wenig wissen wie Oskar, wie und nicht zuletzt wann genau die Zeugung abgelaufen ist, aber es wird an der Textstelle deutlich, dass darüber in der Familie geredet wurde. Wie im Falle des Großvatertods namenlose Zeitgenossen mit ihren Versionen zur Sprache kommen, so lässt Oskar seine Mutter zu Wort kommen. Gleich ob es wahrscheinlich ist, dass in der damaligen Gesellschaft über derlei Angelegenheiten offen in der Familie geredet wurde, macht Oskar anhand dieses Einschubs deutlich, dass er seine Informationen über die Welt vor seiner Geburt aus erster oder zweiter Hand hat. Zwar schmückt er seine Erzählung mit Details aus, an die sich vermutlich nicht einmal mehr die Zeitzeugen erinnern können (geschweige denn, dass sie diese Details je bemerkt hätten), doch unterscheidet der erzählende Oskar wenigstens grundsätzlich zwischen verschiedenen Versionen der Vergangenheit und gibt durch solche Einschübe zu verstehen, dass sich seine Informationen nicht (nur) seiner Phantasie verdanken, sondern eben auch Gesprächen mit Zeitzeugen. Einen ähnlichen Zeugencharakter besitzt das dicke Fotoalbum, das Oskar in seiner Zelle zur Hand hat und das zwar nicht für alle, aber doch einige historische Details als Vorlage dienen mag.

Mit der Integration der alternativen und weniger spektakulären Version seiner Mutter wird aber noch etwas anderes erreicht: nämlich die Einführung des konkurrierenden Sachverhalts, dass es auf dem Kartoffelacker nicht zum Beischlaf gekommen ist, sondern erst später. Damit könnte man auf die Idee kommen, dass die zweite Funktion der Integration der Version seiner Mutter der ersten Funktion direkt entgegengesetzt ist: Oskars Version zu widerlegen aufgrund der Tatsache, dass sie weit weniger bizarr ist, so dass sich Oskar als tatsächlich unzuverlässiger Erzähler erweist, obwohl er zugleich versucht, mit der Einbindung von Zeitzeugen seine Glaubwürdigkeit zu steigern.

Doch lässt sich – und das macht die Blechtrommel unter dem Aspekt des unzuverlässigen Erzählens so vertrackt – Agnes’ Version nicht einfach als Korrektiv von Oskars Version begreifen. Koljaiczek soll den Beischlaf nämlich auch in der Version der Mutter zumindest versucht haben, aber aufgrund der Umstände gescheitert sein, was wiederum impliziert, dass die bizarre Situation im Kern bestätigt wird. Daher ist die Version der Mutter letztlich eben keine (im Sinne des unzuverlässigen Erzählens) vernünftige Alternative.

3.2 Normalisierungsversuche: Was für Oskars mimetische Unzuverlässigkeit spricht

Ergebnis dieser ersten Beobachtungen ist demnach, dass, erstens, die quasi-historische bzw. innerfiktionale Wahrheit – vorausgesetzt, man akzeptiert die überzeichneten, bizarren oder grotesk-unrealistischen Ereignisse nicht ohne weiteres als Bestandteile der erzählten Welt – fraglich bleibt, obwohl hier und anderswo im Roman Alternativversionen angeboten werden, und dass, zweitens, Oskar demnach wenigstens teilweise ein welterzeugender und nicht nur ein weltwiedergebender Erzähler ist.Footnote 33 Nur wo sich herausstellte, dass er als weltwiedergebender Erzähler agiert und Falsches sagt, wäre Oskar mimetisch unzuverlässig. Akzeptiert man die erzählte Welt jedoch als eine, die in bestimmten Hinsichten von unserer abweicht, dann ist Oskar der einzige Gewährsmann und damit kein mimetisch unzuverlässiger Erzähler, jedenfalls in den Fällen, in denen man auf unser Weltwissen zurückgreifen muss, um Oskars Angaben in Zweifel zu ziehen.

Das Besondere des ersten Falles wäre, dass der Maßstab M für die in der Blechtrommel-Welt tatsächlich bestehenden Sachverhalte nicht immer im Text vorgegeben ist, sondern eine an unserer Welt (bzw. an unserer naturwissenschaftlich geprägten Weltauffassung) orientierte Realismus-Annahme, an der Oskars Aussagen über seine Welt gemessen werden. Die Basis für die Feststellung von Oskars Unzuverlässigkeit wären in diesem Fall nicht nur andere Sachverhaltsaussagen (von ihm oder anderen Figuren), die ihm widersprechen, sondern auch eine an unserer Welt orientierte Annahme. Die Frage ist, ob es Hinweise in der Blechtrommel gibt, die eine solche zusätzliche Annahme legitimieren. Ein derartiger Hinweis könnte etwa darin bestehen, dass Oskar zu allen (oder wenigstens den meisten) für unsere Begriffe unrealistischen Episoden aus seinem Leben unter der Hand Alternativversionen anbietet. Eine solche systematische Unterminierung von Oskars Bericht wäre ein guter Grund für die Hypothese, dass Oskar mimetisch unzuverlässig erzählt.

Tatsächlich lassen sich hierfür einige Beobachtungen in Anschlag bringen. Sie stützen die Annahme, dass Oskar in Bezug auf seine geistige Reife unzuverlässig ist. Es ist vor allem die Beobachtung, dass seine Umgebung ihn für geistig zurückgeblieben hält, auch als er schon ein Jugendlicher bzw. ein Erwachsener ist. Man denke an Matzeraths Weihnachtsgeschenke und Marias Verhalten, als Oskar sechzehn Jahre alt ist (B, 314–327). Niemand stört sich daran, dass er mit Maria in eine Umkleidekabine geht; es ist für Maria ebenso selbstverständlich, ihm beim Ausziehen zu helfen und ihn ins Bett zu bringen, wie es keine Frage ist, dass er nicht für ein paar Stunden ohne Aufsicht allein sein kann. Passagen, in denen deutlich wird, dass die Erwachsenen Oskar für zurückgeblieben halten und ihn auch so behandeln, gibt es durchgängig. Trotzdem können diese Passagen Oskars Version ebenso widerlegen wie bestätigen, denn er besteht ja darauf, dass seine Infantilität nur eine Maskerade ist, um seine Umgebung (nicht aber die Leser) über seine Reife zu täuschen.

In diese Reihe passt auch das Beispiel, als Oskar und Kurt (den Oskar für seinen Sohn hält) um das Parteiabzeichen kämpfen, das der Vater vom Revers nimmt, damit die anrückenden Rotarmisten es nicht bei ihm finden, und das er am Ende unglücklicherweise verschluckt. Wiederum ist die doppelte Perspektive zu erkennen, wenn man unterstellt, dass Oskar zu der Zeit der erzählten Ereignisse noch gänzlich infantil ist und mit Kurt, wie es Kinder tun, um etwas rangelt, das sie beide haben wollen. Oskars Wiedergabe aber gibt dem Gerangel eine Ratio, die es nicht hatte: „[…] aber ich gab meinem Sohn [Kurt] nicht das Parteiabzeichen, wollte ihn nicht gefährden; denn mit den Russen soll man keine Scherze treiben“ (B, 482). Hier geriert sich Oskar wieder als schon erwachsenes Kind. Wenn man ihm das abnimmt, dann ist an der Formulierung nichts ungewöhnlich. Nimmt man ihm die Behauptung über seine Maskierung jedoch nicht ab, dann sagt er damit etwas vermutlich Falsches über seine Einstellung: „wollte ihn nicht gefährden“ statt „wollte das Ding einfach haben“.

Angesichts solcher Beispiele könnte man auf den Gedanken kommen, dass der Roman auf jeden Fall interessanter wird, wenn man Oskar seine zentrale Behauptung über sich selbst nicht abnimmt, weil dadurch viele seiner Schilderungen doppelt interpretierbar werden. Was er erzählt, spiegelt die Auffassung des halb erwachsenen, halb verwirrten Oskar, der in der Anstalt sitzt und die damaligen Ereignisse umdeutet; aber was sich laut erstem und zweitem Buch tatsächlich ereignet, wäre etwas anderes, nämlich die Erlebnisse eines zurückgebliebenen Kindes. Immerhin lernt Oskar das Sprechen offenbar erst mit dem wieder einsetzenden Wachstum. „Vor paar Monaten konnste noch nich mal nich baff sagen!“ stellt Maria fest, als er aus dem Krankenhaus in die Düsseldorfer Wohnung zieht, wo Maria mit Kurt untergekommen ist (B, 534). So muss man sich Oskar bis zum Kriegsende nicht nur als kleinwüchsig, sondern auch als stumm vorstellen.

Daneben gibt es einige Fälle, in denen sich Oskar offen korrigiert, etwa als er von den Ereignissen um die Beerdigung seines Vaters erzählt. Während er zunächst nur seinen inneren Kampf schildert, ob er die Trommel ins Grab werfen soll, und anschließend sein Nasenbluten erwähnt (B, 499), kommt er im nächsten Kapitel „Desinfektionsmittel“ noch einmal darauf zu sprechen und nimmt eine „Ergänzung, die im Grunde überflüssig ist“ (B, 504), vor. Der zufolge ist er, von einem Steinwurf Kurts am Hinterkopf getroffen, ins Grab gefallen. Überflüssig ist sie offenbar nicht, denn für Oskar ist sie Anlass, darauf zu bestehen, dass sein einsetzendes Wachstum nicht Folge des Steinwurfs ist. Mit Bezug auf diesen und andere Sachverhalte (vgl. Richter 1977, 19–21) kann man also feststellen, dass Oskar zumindest kurzzeitig, d. h. innerhalb stark eingeschränkter Bezugsbereiche mimetisch unzuverlässig erzählt.

3.3 Bettszenen: Noch mehr Argumente für Oskars mimetische Unzuverlässigkeit

Ein anderes, interessanteres Beispiel ist die Episode in Marias Bett. Oskar wird an zwei Tagen in der Woche zu den Nachbarn verfrachtet, weil Matzerath mit seinen Parteigenossen zum Skatabend verabredet ist. Hier ist es im Unterschied zum vorhergehenden Fall so, dass Oskars Erzählen Zweifel am Realitätsstatus weckt. Zunächst rekapituliert er Marias Ritus beim Zubettgehen, den er bereits vorher geschildert hat, und weicht dann von der bereits vertrauten Routine ab, was sich auch in der gebrochenen Syntax niederschlägt durch eine Vielzahl von Gedankenstrichen:

Im Nachthemd kam sie, pfiff beim Zöpfeaufmachen, pfiff noch beim Kämmen, legte den Kamm weg, pfiff nicht mehr, schaffte Ordnung auf der Kommode, warf dem Foto die Kußhand zu, machte den übertriebenen Sprung, federte, griff das Oberbett und erblickte – ich betrachtete ihren Rücken – sie sah ein Tütchen – ich bewunderte ihr langes Schönhaar – sie entdeckte auf dem Oberbett etwas Grünes – ich schloß die Augen und wollte warten, bis sie sich an den Anblick des Brausepulvertütchens gewöhnt hatte – da schrien die Sprungfedern unter einer sich zurückwerfenden Maria, da knipste es, und als ich des Knipsens wegen die Augen öffnete, konnte Oskar sich bestätigen, was er wußte: Maria hatte das Licht ausgeknipst, atmete unordentlich im Dunkeln, hatte sich an den Anblick des Brausepulvertütchens nicht gewöhnen können; doch blieb es fraglich, ob die von ihr befohlene Dunkelheit die Existenz des Brausepulvers nicht übersteigerte, Waldmeister zur Blüte brachte und der Nacht Bläschen treibendes Natron verordnete. (B, 337)

Was geschieht da? Folgt man der zuvor (B, 336) beschriebenen Routine, deckt sich Maria mit dem Oberbett „bis zum Kinn“ zu und macht das Licht aus, indem sie an einer Lampenschnur zieht. An dieser Stelle wird Oskars neuerlicher Bericht unordentlich. Er gibt nicht nur auktorial wieder, dass sie (angeblich!) ein Brausepulvertütchen sieht, sondern wechselt auch in syntaktisch auffälliger Weise die Perspektive. Trotzdem nimmt sie das Oberbett und macht das Licht aus. Ist das eine schlüssige Reaktion, wenn sie tatsächlich ein Brausepulvertütchen auf dem Oberbett gesehen hat? Sollte das Tütchen nicht eher eine Projektion von Oskar sein? Denn es ist mindestens zu erwarten, dass es bei dem Vorgang herunterfällt (abgesehen davon, dass Maria es weggenommen hätte, hätte sie es tatsächlich gesehen). Schließlich stellt Oskar am Ende des Zitats selbst die vielsagende Frage, ob die „Dunkelheit die Existenz des Brausepulvers nicht übersteigerte“, und negiert damit alles schon von vornherein, was mit dem Brausepulver in der Nacht noch angestellt wird.

Im nächsten Absatz setzen sich die obskuren Formulierungen Oskars fort. Vollends unglaubwürdig wird Oskars Erzählung aber, nachdem Maria das Licht wieder angeknipst hat. Denn: „Prall aufgeschlagen und unberührt häufte sich immer noch das Oberbett am Fußende. Das Tütchen auf dem Berg hatte sich in der Dunkelheit nicht zu bewegen gewagt“ (B, 338). Sie „griff das Oberbett“ (B, 337), „und unberührt häufte sich immer noch das Oberbett am Fußende“. Wieso hätte sie das Licht ausmachen sollen, ohne sich wie gewöhnlich zuzudecken? Und es gibt noch einen weiteren Grund, der dafür spricht, dass sich die nächtlichen Brausepulverexperimente ausschließlich Oskars Phantasie verdanken: Zweimal versucht Oskar später vergeblich, aufgrund seiner vermeintlichen positiven Erfahrungen mit dem Brausepulver Maria dazu zu bringen, ihn das mit seinem Speichel vermischte Pulver aus ihrer Hand schlürfen zu lassen. Das erste Mal, nachdem sie mit Alfred Matzerath geschlafen hat (B, 354), und das zweite Mal in seiner Zelle, als sie ihn in der Heil- und Pflegeanstalt besucht (B, 347 f.). In beiden Fällen reagiert sie einigermaßen ungehalten und mit Ekel. Oskar selbst registriert, dass sie sich offensichtlich nicht an ihre erotischen Spielchen erinnern kann.

Nach alldem ist es wohl plausibler, die folgenden Schilderungen als Wunschtraum Oskars zu begreifen, der aus der Brausepulver-Episode am Strand kurz zuvor resultiert, einem Sachverhalt, der in der erzählten Welt tatsächlich besteht.Footnote 34 Oskar macht auch nicht Halt vor der Behauptung, dass sich diese Spielchen über Wochen fortgesetzt hätten. Und so gibt es eine Reihe weiterer Episoden bzw. Sachverhaltsdarstellungen, die sich innerhalb der Fiktion als falsch verstehen lassen.

Das gilt schon für die bald darauf folgende Zeugung von Kurt, von dem Oskar meint, dass er selbst sein Vater sei. Wieder ist es Oskar, der sich selbst widerspricht. Offensiv versucht er zunächst seinem Anspruch auf seine Vaterschaft Plausibilität zu verschaffen, indem er darauf hinweist, dass er mit Maria zuerst geschlafen habe. Als er davon erzählt, wie er Matzerath und Maria beim Geschlechtsverkehr ertappte, besteht er darauf, dass jene erste Brausepulvernacht zehn Tage her gewesen sei (B, 348), und unterstellt damit, dass derjenige der Vater sein müsse, der zuerst mit Maria geschlafen habe. Das aber ist offenkundig eine realitätsferne Annahme. Außerdem ist es reichlich unvorsichtig, daraus, dass er sie zum ersten Mal beim Geschlechtsakt gesehen hat, zu schließen, dass es sich auch um ihren ersten Geschlechtsverkehr gehandelt hat. Im Gegenteil, aus der Wiedergabe ihrer Unterhaltung währenddessen geht hervor, dass Matzerath auf Marias Geheiß „diesmal besonders aufzupassen“ habe (B, 349). Es gibt keine Not, hier „diesmal“ in den Satz einzubauen, es sei denn, man wollte damit etwas sagen, etwa dies, dass die beiden keineswegs bei der geschilderten Gelegenheit Premiere feierten, oder auch dies, dass sich Maria gerade in der besonders empfängniskritischen Zyklusphase befindet (was wiederum Oskars Vaterschaft unwahrscheinlicher macht).

Auch Oskars Reaktionen auf Marias Schwangerschaft besagen, dass er sich damals nicht gleich als Vater gefühlt hat (trotz seiner angeblichen Reife und alles überblickender Freiheit des Geistes). Schließlich geht er sogar mit einer Schere auf Maria los (B, 365), angeblich weil er nicht ertragen konnte, dass das Kind nach seinem (Oskars) Vater Matzerath (!) heißen sollte (B, 363).Footnote 35 Das ist ein denkbar schlechter Grund, wenn man selbst Matzerath heißt. Oskar versucht hier zwar, seiner damaligen Unzurechnungsfähigkeit, die sich in den Angriffen auf Maria manifestiert, einen den Erwachsenen unzugänglichen Grund zu unterlegen, aber dieser Grund ist zu absurd, als dass er einen Beweis für Oskars prätendierte Überlegenheit abgäbe. Das Gegenteil ist der Fall: Er zeugt davon, dass Oskar mit unzureichenden Gründen versucht, seinem damaligen Verhalten eine Ratio zu unterlegen, die jedoch gar keine ist. Abgesehen davon, dass niemand sonst glaubt, Kurt sei Oskars Sohn, und auch davon, dass Kurt und Oskar eine brüderlich-kindliche Beziehung zueinander haben, verliert Oskar im Laufe seiner Erzählung Kurts Geburtsjahr aus dem Gedächtnis. Während er im zweiten Buch in seinen Schilderungen der Kriegszeit, als Kurt geboren wird, 1941 als Geburtsjahr angibt (dabei die Kesselschlacht von Smolensk nennt) und später bestätigt (B, 366 f., 390), liegt die Geburt laut den Angaben im dritten Buch im Jahr 1940, da Oskar 1946 aus dem Krankenhaus entlassen wird (B, 527) und Kurt sechs Jahre alt ist (B, 532). Dieses Geburtsjahr wird kurz darauf bestätigt, denn 1947 ist von Kurts siebtem Geburtstag die Rede (B, 553).Footnote 36 Die Jahresangaben sind ansonsten (mit der erwähnten Ausnahme) akkurat und vor allem auch häufig, so dass man diesem Irrtum durchaus eine Bedeutung zuschreiben kann, als einem Irrtum Oskars und nicht des Autors, der Oskars Unzuverlässigkeit anzeigt und zugleich seine gestörte Beziehung zu Kurt.

Und auch die nächste Etappe in Oskars sexueller Entwicklung kann sich nicht so abgespielt haben, wie er sie darstellt. Seine eigentliche Initiation will er laut seiner ersten nur leicht verklausulierten Beschreibung im Herbst 1941 mit der Frau des Gemüsehändlers Greff gehabt haben (B, 374), nachdem sie ihm bei Kurts Taufe im August erstmals stärker ins Bewusstsein gerückt war (B, 367, 372 f.). Doch vergeht laut seiner zweiten Beschreibung ein ganzes Jahr, denn „hätten sich Bebras und meine Wege im Herbst zweiundvierzig schon gekreuzt und nicht erst im folgenden Jahr, Oskar wäre nie zum Schüler der Lina Greff […] geworden“ (B, 377 f.).Footnote 37 Dass Lina bettlägerig ist und Oskar angezogen in ihr Bett steigen lässt, weil es so kalt ist und ihr Mann nicht ordentlich heizt (B, 379), passt nicht zum September, und als Oskar den toten Greff entdeckt, ist es „ein früher, reinlicher Oktobermorgen“ (B, 380). Zudem: Als später die „Greffsche“ von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt wird und Oskar währenddessen (für unsere Begriffe zynisch, zumindest aber bar jeglicher Empathie) auf ihr Witwenleben anspielt, erinnert er nicht daran, dass sie für seine sexuelle Entwicklung eine solche bedeutende Rolle eingenommen hat (B, 483).

Der einmontierte Bericht seines Pflegers Bruno Münsterberg über die Reise von Danzig in den Westen im Kapitel „Wachstum im Güterwagen“ widerlegt zwar nicht Oskars abstruseste Behauptungen, aber er dient doch dazu, Zweifel an einigen von ihnen weiter zu nähren. So scheint auch Bruno nicht restlos von Oskars Reproduktionsfähigkeiten überzeugt zu sein: „Ihn [Oskar] begleiteten die Witwe Maria Matzerath, die mein Patient als seine ehemalige Geliebte bezeichnet, Kurt Matzerath, meines Patienten angeblicher Sohn“ (B, 518). Auch lässt Bruno durchblicken, dass Oskars Erzählung teilweise davon geprägt ist, Sachverhalte zu verfälschen. So spricht er immer wieder davon, dass im Zug nach Westen Luzie Rennwand als Passagierin dabei gewesen sei, auch nachdem sie geklärt haben, dass es ein anderes Mädchen namens Regina Raeck gewesen ist. Im Übrigen ist es am Ende Vittlar, der umstandslos von Maria und Kurt als denjenigen spricht, die sie sind. Für ihn steht es überhaupt nicht in Frage, dass sie Oskars „Stiefmutter“ und „Halbbruder“ sind (B, 707 f.).Footnote 38

Oskar will später nach erneutem Wachstum weitere sexuelle Erlebnisse gehabt haben, so mit der Telefonistin Hannelore, die er durch Schwester Gertrud kennenlernt, aber er geht kaum darauf ein. Er „erhielt auch einige nicht allzu kostspielige Wärme bei der schweigsam seßhaften Hannelore, wobei wir jedoch knapp Distanz wahrten und uns auf das unverbindliche Handwerk verließen“ (B, 559). Oskar insinuiert hier sexuelle Handlungen, aber sie sind ihm doch offensichtlich kaum der Rede wert.

Das im Ansatz scheiternde sexuelle Erlebnis, das er im dritten Buch ausführlich schildert (mit Schwester Dorothea auf der Toilette), wird indessen wieder auf eine Weise eingeleitet, die die Vermutung nahelegt, was er schildert, sei ein Traum. Wiederum ist er in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen. In Anspielung auf den Bettvorleger, den er sich aus einem Teppichrest besorgt hat, heißt es: „selbst als ich schon lange lag, stand ich noch immer auf Kokosfasern […]“ (B, 634). Doch steht er danach offenbar wirklich auf und begibt sich, mit dem Teppichrest seine Scham und fast seinen ganzen Körper bedeckend, auf die Toilette. So mag man ihm Glauben schenken, dass es die Begegnung in der Toilette gegeben hat, aber das Ergebnis ist allenfalls kläglich, und so gibt es auch im dritten Buch keinen schlagenden Beweis für ein erfülltes Sexualleben.

3.4 Aporien

Eine Ausnahme, so könnte man diesem Ergebnis entgegen halten, ist Oskars Beziehung zu Roswitha Raguna, der um fünf Zentimeter größeren „Somnambulen“, mit der er eine schöne Zeit im besetzten Frankreich als Mitglied von Bebras Fronttheater verbringt. Mit ihr erlebt er eine erfüllende Beziehung, es sei denn, er bildet sie sich ebenfalls ein. Was spricht für die Wahrheit dieser Episode innerhalb der Fiktion, was dagegen?

Gerade die Bebra-Episoden sind auf eine Weise in den Text eingebaut, dass auch hier Zweifel an ihrem innerfiktionalen Realitätsgehalt angebracht sind – wenngleich nicht in dem Maße wie bei den zuvor analysierten Sachverhalten. Auffällig ist, dass Oskar, bevor er auf Bebra trifft, jeweils ausführliche Begegnungen mit narrativen bzw. fiktionalen Werken hat. Vor der ersten Begegnung schildert Oskar sein Opernerlebnis mit dem Fliegenden Holländer. Auch wenn sich das ein paar Monate früher abgespielt hat, sind die beiden Erlebnisse in Oskars Erzählung in unmittelbarer Nachbarschaft. Darüber hinaus ereignet sich die Begegnung selbst im Zirkus, ebenfalls einem Ort, in dem einem etwas vorgemacht wird. Als Oskar Bebra das zweite Mal begegnet, ist ebenso von seiner Lektüre – „Kampf um Rom, Keysers Geschichte der Stadt Danzig und Köhlers Flottenkalender“ (B, 202) – die Rede wie beim dritten Mal im Kapitel „Bebras Fronttheater“, als Bebra ihn mit nach Frankreich nimmt und Oskar ihn aufgrund seiner Lektüre ständig mit Narses vergleicht, dem Feldherrn aus Kampf um Rom, worin er gerade wieder „geschmökert“ hat (B, 391). Oper, Zirkus, Romanlektüre – die Begegnungen könnten von Oskars Kunst- bzw. Fiktionserlebnissen stimuliert worden sein. Zudem könnte Bebra selbst eine Projektion von Oskar sein, denn er führt ihn als jemanden ein, der wie Oskar von einem anderen abstammen will als dem anerkannten, von Ludwig XIV. und nicht von einem savoyischen Herzog (B, 132). Zwar wird von Agnes ein Kuss bezeugt, den Oskar von einem Kleinwüchsigen auf dem Zirkusgelände erhalten hat (B, 133, 152), aber das Gespräch selbst könnte auch nicht stattgefunden haben.

Man kann also auf die Idee kommen, dass mit Oskar seine Phantasie durchgeht, zumal er in der Nacht aufbricht und niemand etwas davon bemerkt. Oskar ist zudem inoffiziell unterwegs, und das in Kriegszeiten. Es stellt sich zudem die Frage, warum Roswitha immer wieder als Somnambule bezeichnet wird. Auch die folgende Formulierung ist nicht dazu angetan, das Geschilderte Oskar so abzunehmen, wie man ihm andere Sachverhalte abzunehmen geneigt ist:

Und niemals wird jemand erfahren, ob jene Liliputanerin, die im verschütteten Thomaskeller während eines Großangriffes auf die Reichshauptstadt unter meinem Mut ihre Angst verlor, bis die vom Luftschutz uns ausbuddelten, neunzehn oder neunundneunzig Jahre zählte; denn Oskar kann um so leichter verschwiegen sein, als er selber nicht weiß, ob jene wahrhaft erste, seinen körperlichen Ausmaßen angemessene Umarmung ihm von einer mutigen Greisin oder von einem aus Angst hingebungsvollen Mädchen gewährt wurde. (B, 403)

Folgt man der Infantilitätsthese, kann Oskar kaum die Reise nach Frankreich unternommen haben, und es ist bislang, soweit ich sehe, noch niemand so weit gegangen, die diegetische Realität dieser Episoden in Zweifel zu ziehen. Das liegt an ihrer quantitativen Mächtigkeit im Text. Und es liegt daran, dass in diesem Fall die Einbettung in das Zeitgerüst des Geschehens stimmig ist. Als Oskar wiederkommt, stellt sich heraus, dass er tatsächlich längere Zeit weg war. Zuhause hat man sich Sorgen gemacht, die Polizei hat nach ihm gesucht und es gab „Scherereien“ (B, 426). Überdies steht schon Kurts dritter Geburtstag an, so dass Oskar doch fast ein ganzes Jahr unterwegs gewesen sein muss oder aber eine entsprechend lange Lücke in seinem biographischen Rückblick lässt.

Hier zeigt sich das grundlegende Problem, vor dem man steht, wenn man die Erzählkonzeption der Blechtrommel mit der Kategorie der mimetischen Unzuverlässigkeit erklären möchte: Es geht nicht alles auf. Vieles von dem, was Oskar erzählt, weckt Zweifel, aber die Erklärungen, die er anbietet, reichen in manchen Fällen nicht aus, um eine vernünftige Alternative zu rekonstruieren. Darüber hinaus gibt es einige wenig glaubhafte Sachverhalte, für deren Bestehen der Text letztlich mehr Gründe liefert als für deren Nichtbestehen.

In der Sekundärliteratur wurde daher immer wieder darauf hingewiesen, dass man nicht sagen könne, was in der Fiktion der Fall ist, und darüber hinaus der unglückliche Schluss gezogen, dass es gar nicht darauf ankomme, was von dem, was Oskar erzählt, im herkömmlichen Sinne wahr ist.Footnote 39 Meine Ausführungen bisher dürften indes gezeigt haben, dass in vielen Fällen, in denen es um konkrete Sachverhalte geht, sehr wohl zwischen Wahrheit und Falschheit unterschieden werden kann, und dass Oskars Erzählen auch darauf angelegt ist, diesen Unterschied zu machen und sich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden.

Es lässt sich also durchaus ein System erkennen, das darin besteht, dass Oskar selbst seine zentrale Behauptung konterkariert, sein kindliches bzw. zurückgebliebenes Aussehen und Verhalten sei eine Maske, um die Erwachsenen über seine geistige Reife zu täuschen. Es ist nicht so, dass Oskars Erzählrede stets offen lässt, was tatsächlich geschehen ist, indem er zwei gleichwertige Erklärungen gegeneinanderstellt wie etwa im Falle seines Sturzes von der Kellertreppe. Hier kommt man in der Tat nicht ohne weitere (textexterne) Annahmen aus, wenn man Oskars Darstellung widerlegen möchte. Wie dokumentiert, gibt es aber auch andere Sachverhalte, deren textinterne Darstellung so unplausibel ist, dass mehr für Oskars Unzuverlässigkeit spricht als dagegen.

Dennoch wurde diese Betrachtungsweise in der Blechtrommel-Forschung, soweit ich sehe, zumeist nicht weiter verfolgt, sondern sich mit der These der prinzipiellen Offenheit begnügt, wonach die Wahrheit in der Fiktion nicht feststellbar ist.Footnote 40 Die Behauptung, dass der „Satz vom ausgeschlossenen Dritten […] in der Sexualpraxis der Matzeraths keine Gültigkeit“ habe (Frizen 1986, 184), liegt ganz auf dieser Linie. Zugleich wird Oskar aber hochgradig widersprüchliches Erzählverhalten attestiert, das explizit oder implizit mit der These erklärt wird, er sei ein unzuverlässiger Erzähler. Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass Oskar schon allein deshalb unzuverlässig erzähle, weil „er sich und seine berichtete Wahrheit immer wieder in Frage stellt“ (Diller 2015, 244). Daraus wird unter Berufung auf ältere Forschungsbeiträge geschlossen, dass „es in diesem Falle unerheblich“ sei, „ob der Erzähler lügt oder innerfiktiv die Wahrheit spricht“ (Diller 2015, 245).

Dieses Ergebnis ist unbefriedigend, denn es kapituliert vor der Feststellung, dass sich Oskar als erlebendes Ich in permanentem Widerspruch zu seiner Umgebung befindet, und leugnet, dass dieser Unterschied für die Erzählung von Bedeutung ist. Mithin wird durch diesen Schluss ein sich durch den gesamten Roman durchziehendes Motiv für bedeutungslos erklärt. Der Roman aber bietet hier eine klare Alternative an: Entweder verdankt sich Oskars infantiles Verhalten, wie er vorgibt, tatsächlich seiner erfolgreichen Camouflage, womit er ein zutiefst zuverlässiger Erzähler wäre und die Welt eine partiell phantastische, d. h. instabile Welt, oder er schreibt sich diese Fähigkeit zu Unrecht zu, weil er eben ein wenig unzurechnungsfähig ist. In diesem Fall wäre er ein mimetisch unzuverlässiger Erzähler und die erzählte Welt so realistisch wie unsere.

Beide Fälle ziehen Erklärungsdefizite nach sich. Nimmt man an, die Blechtrommel-Welt sei realistisch bzw. stabil und Oskar ein Phantast, dann stellt sich die Frage, wieso ein großer Anteil der Erzählung als unwahr gelten muss und was stattdessen in der Fiktion der Fall sein soll. Nimmt man umgekehrt an, die Welt sei phantastisch und Oskar berichte wahrheitsgetreu, dann stellt sich die Frage, warum es solche Passagen gibt wie die zitierte mit dem Brausepulver im Bett, deren Witz gerade darin besteht, Oskars Sinn für die Realität zu diskreditieren. Diese und weitere Episoden ergeben, wenn man sie genau liest, nur Sinn, wenn man sie als unzuverlässig erzählte auffasst, weil ihre Erzählweise eine alternative Geschehnisabfolge plausibler macht, die als diegetische Erklärung dienen kann, während für andere Episoden – darunter auch die berühmtesten, wie sich gleich zeigen wird – entsprechende diegetische Erklärungen nicht so leicht auszumachen sind.

3.5 Der Geltungsbereich der Mimesis-Präsumtion

Aus diesem Grund möchte ich die Frage nach Oskars Unzuverlässigkeit noch einmal neu stellen. Wie ist vor dem Hintergrund der von Oskar selbst thematisierten Doppelrolle (dass er den Erwachsenen seine Infantilität nur vorspielt) damit umzugehen, dass es Passagen gibt, deren Besonderheiten nicht anders gedeutet werden können, als dass sie Oskars Unzuverlässigkeit markieren und auf diese Weise seine prätendierte Reife widerlegen, und zugleich Passagen, die man geneigt ist, Oskar abzunehmen, weil er dafür keine geeignete diegetische Erklärung anbietet, obwohl sie, die Mimesis-Präsumtion gesetzt, vollkommen unglaubwürdig sind?

Welchem Erklärungsansatz ist der Vorzug zu geben? Heißt es nicht im Umkehrschluss, dass – wenn die Unzuverlässigkeitshypothese sich nicht durchhalten lässt, weil bestimmte, gewissermaßen phantastische Eigenschaften Oskars in seiner Erzählung unwiderlegt bleiben – nicht auch all das, was bisher als unzuverlässig erzählt herausgearbeitet wurde, letztlich doch als zuverlässig gelten muss, weil Oskar eben doch ein phantastisches Geschöpf ist, das über Fähigkeiten verfügt, die seine Umgebung aufgrund ihrer Gewöhnlichkeit nicht zu bemerken in der Lage ist? Anders gefragt: Könnte nicht doch alles wahr sein, was Oskar erzählt, inklusive seiner Behauptungen über seine geistige und sexuelle Reife?

Viele Interpretationen der Blechtrommel lassen sich unausgesprochen von einer solchen Überlegung leiten, die diese Frage bejaht. Demgemäß nimmt man an, dass, weil einige Eigenschaften Oskars nicht normalisiert werden können, Oskar in jeglicher Hinsicht über übernatürliche Fähigkeiten verfügt. Aber auch diese Konsequenz ist unbefriedigend, weil damit genauso eine Reihe von Textphänomenen ungeklärt bleibt wie auf der Basis der Normalisierungsstrategie. Warum etwa sind von Maria überhaupt keine anderen Reaktionen auf ihren angeblichen sexuellen Kontakt mit Oskar überliefert außer Unverständnis und Ekel? Außerdem gäbe es dann auch keinen Grund mehr, Oskar überhaupt für einen unzuverlässigen Erzähler zu halten.

Wie lassen sich diese beiden einander eigentlich ausschließenden Erklärungsansätze miteinander vereinbaren, wenn man nicht die eine zugunsten der anderen aufgeben will? Lassen sie sich überhaupt miteinander vereinbaren? Und wenn nicht: Wie kann man die oben kritisierte Folgerung, dass es gar nicht so sehr darauf ankomme, was in der erzählten Welt der Fall ist, vermeiden? Möglicherweise hilft es weiter, wenn man Bezugsbereiche unterscheidet, denen sich Oskars Behauptungen zuschlagen lassen. Einen Versuch ist es wert. Zunächst führe ich noch einige weitere Beobachtungen an, die sich im Sinne einer stabilen Welt, von der Oskar mimetisch unzuverlässig erzählt, normalisieren lassen, und versuche dann, diesen Ansatz so weit zu treiben, wie es nur geht.

Man kann wohl sagen, dass es ein Charakteristikum der Welt der Blechtrommel ist, dass sie in der Summe viel Unwahrscheinliches enthält, wenn man Oskars Aussagen Glauben schenkt. Besonders unwahrscheinlich ist, dass Oskar, wie er bekundet, seine „geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen“ habe (B, 46). Hier könnte man ohne viel Mühe zu dem Schluss kommen, dass diese Aussage auch in der Welt der Blechtrommel rundweg falsch ist. Oskar diskreditiert diese Behauptung selbst, indem er ein Bild bemüht, das die Verhältnisse im Uterus offenkundig falsch wiedergibt. Er habe sich „im Fruchtwasser spiegelnd geachtet“ (B, 46), fügt er an (statt betrachtet, wie man eigentlich erwarten sollte), so als hätte er nicht vollständig im Fruchtwasser gelegen, sondern den Embryokopf außerhalb des Wassers gehalten.

Mit der Behauptung, dass er als Neugeborener die kognitiven Fähigkeiten eines Erwachsenen habe, verhält es sich letztlich nicht anders als mit der Erzählung von der Zeugung seiner Mutter. Gemessen an unseren Vorstellungen von der Realität, kann das nicht wahr sein und Oskar ist diesbezüglich mimetisch unzuverlässig. Die diegetische Erklärung dafür ist, dass er sich nicht umsonst in einer Heil- und Pflegeanstalt befindet und permanent ihn betreffende Ereignisse so umdeutet, dass er sich als einen Menschen beschreibt, der stets die Kontrolle über sein Schicksal behält. Auch einige andere Handlungen Oskars lassen sich in dieser Weise erklären, so etwa seine Reaktionen, wenn man ihm, dem Kind, seine Trommel wegnehmen will. Es steht also Aussage gegen Aussage, wenn man so will. Hier nicht unerwähnt bleiben sollte die zum Einstellen des Wachstums komplementäre Szene, wonach Oskar beim Begräbnis seines Vaters Alfred Matzerath das Wachsen wieder zugelassen haben will (B, 499–504). Oskar korrigiert sich im neuen Kapitel und ergänzt, dass Kurt ihm einen Stein an den Kopf warf, woraufhin er ins Grab stürzte und zu bluten anfing, besteht aber darauf, dass er seinen Entschluss, wieder zu wachsen, schon gefällt hatte. Dadurch flicht Oskar (wie beim Sturz von der Kellertreppe) eine alternative diegetische Erklärung ein, die seine Version widerlegt, und hält zugleich an seiner Version fest.Footnote 41

All dies sind weitere Beispiele, die sich unter Wahrung der Mimesis-Präsumtion und mit Verweis auf Oskars Geisteskrankheit gut erklären lassen. Anscheinend aber sind nicht alle Bizarrerien Oskars auf Normalisierung hin angelegt. Es mag noch funktionieren mit seiner Behauptung, dass er seinen Entschluss, das Körperwachstum mit drei Jahren einzustellen, den Erwachsenen mit einem absichtlich herbeigeführten Sturz von der Kellertreppe begreiflich machen will. Im Sinne der skizzierten Erklärung dreht er einfach Ursache und Wirkung um, damit er weiter als Lenker seines Schicksals gelten kann. Die Wahrheit aber wäre, dass er aus Versehen die Kellertreppe hinabgefallen ist. Ebenso entspricht sein Schreiverhalten infantilem Gebaren, wenn es darum geht, dem Kind sein Spielzeug wegzunehmen. Doch an dieser Stelle büßt die Normalisierungsstrategie einen Teil ihrer Überzeugungskraft ein.

Bekanntlich ist ein Effekt seines durchdringenden Schreiens, dass dabei Glas zu Bruch geht. Dieser Fähigkeit bedient sich Oskar in der Folge so häufig, dass man kaum umhin kann, sie als Bestandteil der erzählten Welt zu akzeptieren. Die Effekte werden auch von den anderen Figuren bemerkt, und es gibt für alle diese Ereignisse, soweit ich sehe, keine naheliegende alternative Erklärung im Text. Nähme man gemäß der Normalisierungsstrategie an, dass sich Oskar all diese Ereignisse nachträglich einredet, entspränge ein seine Biographie prägender Teil seiner Phantasie, man denke an seine Einschulung, die mit zerborstenen Fensterscheiben und Brillengläsern endet, und die vielen weiteren Szenen, in denen Oskar bald auch unabhängig davon, dass sich jemand anheischig macht, ihm seine Trommel abzunehmen, erfolgreich seine Stimme einsetzt, um Glas zu zerstören.

Diese Interpretationshypothese kann man trotzdem durchhalten, allerdings um den Preis der Textferne: Demnach hätte sich Oskar das Ende des ersten Schultages ausgedacht, das in der erzählten Wirklichkeit viel langweiliger war, weil sich der trommelnde Oskar einfach als noch nicht reif für den Schulalltag herausstellte und mit seiner Mutter noch vor Ende der ersten Stunden wieder nach Hause geschickt wurde. Aber ihr Problem ist, dass keine Alternative zu all dem zerstörten Glas zur Verfügung steht und damit keine diegetische Erklärung, die ohne aufwendige Zusatzannahmen auskommt.

Andere Erklärungen, die sich finden lassen, sind vom Text eher gedeckt, wenngleich schwach: Als Oskar beginnt, die Schaufenster zu zerstören, sind es angeblich kreisrunde Löcher. Das sieht mehr nach Einschmeißen von Scheiben aus als nach Einwirkungen hochfrequenter Töne. Auch im Kapitel „Die Stäuber“ etwa ist viel von Oskars Stimme mit ihrem Glas zerstörenden Effekt die Rede. Die erzählten Ereignisse fallen in die letzte Phase des Krieges, als sich Fliegerangriffe auch auf Danzig häufen, und man könnte die Erklärung konstruieren, dass Oskar in der Erinnerung für die berstenden Fensterscheiben fälschlich sein Geschrei als Ursache ansieht, während es in Wahrheit die Folgen der Angriffe auf die Stadt sind.

Dass Oskar seine Gabe, Glas kraft seiner Stimmgewalt zu zerstören, mit dem Wachstum auf dem Weg nach Westen verliert, könnte schließlich so zu interpretieren sein, dass er sich diese Gabe retrospektiv andichtet, wie so vieles rückblickend erfunden und übertrieben wurde – es käme der Verbrämung der NS-Zeit gleich. Gerade am Beginn des Kapitels „Schaufenster“ kommt genau das retrospektive Verbrämen zur Sprache (B, 145). Einerseits richtet er sich gegen jene, die sich nachträglich als Widerstandskämpfer stilisieren, obwohl sie nur aus Eigennutz oder wegen irgendwelcher Petitessen in Konflikt mit NS-Behörden standen; andererseits aber versucht er dadurch, dass er sich mit jenen nicht gemein macht, seiner eigenen Verbrämung umso mehr Plausibilität zu verleihen. Mit Hilfe einer ganzen Reihe von allem Anschein nach rhetorisch gemeinten Fragen versucht er, seinem kindischen Getrommel retrospektiv eine Absicht zu unterstellen. Diese Fragen lassen sich aber auch nicht rhetorisch verstehen, sondern als ein Infragestellen der von Oskar behaupteten Sachverhalte. Festzuhalten ist, dass durch solche Mittel der Doppelkodierung der Zweifel an Oskars Aussagen mindestens wachgehalten wird.

3.6 Die Auflösung des Dilemmas

Trotzdem werden sich nicht alle davon überzeugen lassen. Zwar könnte der erzählende Oskar in seiner Eigenschaft als Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt gewissermaßen als personifizierte Generalabsolution für alle abstrusen Sachverhalte dienen, doch wenngleich die Annahme, dass er sich einen Großteil seiner Vergangenheit einbildet, durch seinen Insassen-Status gerechtfertigt werden mag, ist es nicht die Pointe der Erzählung, dies zu erkennen. Weil es nicht in erster Linie um Oskars Psychologie geht, deren Widersprüche man erkennen und ausräumen soll, sondern um etwas anderes, ist man geneigt, Oskars Erzählungen im Großen und Ganzen als wahr hinzunehmen.

Aufgrund der Mächtigkeit der besonders eindrücklichen Anteile von Oskars Leben ist die Normalisierungsstrategie nicht sehr erfolgreich. Spätestens bei seiner Erzählung vom berstenden Glas, scheint mehr dafür zu sprechen, dass es nicht der Sinn von Oskars dubiosen Behauptungen ist (dubios gemessen an dem, was wir glauben), dass wir sie als falsch erkennen, sondern dass es um anderes geht: um die Sitten und Gebräuche beim Einschulen, um Aussehen und Verhalten der Lehrerin und vielleicht auch um den Umgang mit Außenseitern.

Sollen wir also einen Teil der Blechtrommel-Welt doch als phantastisch akzeptieren? Wer möchte, kann sich zur Bestätigung für die Auffassung, dass die erzählte Welt sich nicht in die Grenzen realistischer Vorstellungen fügt, auf Grass selbst berufen, der in einem Interview mit Heinz Ludwig Arnold 1970 für seine Romane (in unterschiedlichem Ausmaß) „die Erweiterung des Wirklichkeitsverständnisses: das Einbeziehen der Phantasie, der Einbildungskraft, des Wechsels zwischen Sichtbarem und Erfindbarem“ reklamiert (Grass 1978 [1970], 11).Footnote 42 Auch in seinem, wegen der Anmerkungen zur Textgenese häufig zitierten, „Rückblick auf die Blechtrommel“ aus dem Jahr 1973 nennt Grass (1987, 625) „[a]rtistisches Vergnügen, Spaß an wechselnden Formen und die entsprechende Lust, auf Papier Gegenwirklichkeiten zu entwerfen“ als Motive beim Schreiben. Das scheint die Phantastik-These zu bestätigen. Aber es hilft doch nicht so recht weiter, wenn man sich nicht damit zufriedengeben will, das erwähnte Dilemma einfach hinzunehmen.

Zudem sollte man sich in diesem Fall vor Augen führen, dass Grass sich erst mit einem großen zeitlichen Abstand und mit einem „berufsnotorischen Ekel“ äußert, „der mir die Lektüre der gebundenen Blechtrommel bis heute vermiest hat“ (Grass 1987 [1973], 624). Möglicherweise hat er sich Ergebnisse der Rezeption zu eigen gemacht. Nicht von ungefähr ist im Titel seines Beitrags der „Autor“ „als fragwürdiger Zeuge“ charakterisiert. Das mag Ausdruck einer zeittypischen Grundhaltung sein. Doch es sollte einen nicht davon abhalten, zu bemerken, dass hier mit einiger Distanz auf den Roman zurückgeblickt wird, die sowohl zeitlich als auch inhaltlich bestimmt ist.

Die erwähnte „Erweiterung des Wirklichkeitsverständnisses“ kann sich auf eine um phantastische Elemente erweiterte erzählte Welt beziehen; sie kann sich aber auch darauf beziehen, dass diese Erweiterung gewissermaßen im Kopf des Erzählers verortet wird. Meine These ist, dass es genau diese letztere Option ist, die für die Blechtrommel maßgeblich ist, zumindest für die ersten beiden Teile. Sie ist es auch, die den Unterschied etwa zu den Hundejahren begründet, einem Roman, in dem die „Erweiterung des Wirklichkeitsverständnisses“ viel offensiver betrieben wird, wenn man an die Verwandlung im Schnee denkt oder gar die Erkenntnisbrillen. Dadurch bekommt dieser Roman etwas ausgesprochen Allegorisches. Der Misserfolg der Hundejahre sowie die kritische Beurteilung des dritten Teils der Blechtrommel finden auf diese Weise eine Erklärung. Womöglich ist ebendies der entscheidende Unterschied, der der Blechtrommel ihren Erfolg gesichert hat: dass sie die Mimesis-Präsumtion zwar ständig zu unterlaufen scheint, aber nicht in der Weise preisgibt wie die Hundejahre, in denen das welterzeugende Moment dominanter ist und eben nicht von der mimesiserhaltenden Unzurechnungsfähigkeit des Erzählers abgefedert wird.

Die entscheidende Beobachtung ist die, dass Oskars Gabe, Glas mit seiner Stimmkraft zu zersplittern, im Wesentlichen seine einzige phantastische Eigenschaft ist, und seine Erlebnisse in Frankreich die einzigen, die aus dem Rahmen fallen. So mächtig sie im Roman auch sind, es ist doch nicht ausgeschlossen, dass sie sich der Phantasie Oskars verdanken. Diese Möglichkeit wird nicht aufgehoben, sondern durch die vielen offensichtlichen Fehlinterpretationen, die sich Oskar leistet, immer wieder aktualisiert.

Daher sollte man sich davor hüten, die beiden genannten Möglichkeiten als Gegensätze aufzufassen. Man kann durchaus Oskar als größtenteils unzuverlässigen Erzähler begreifen, wobei der Sinn dieses Verfahrens nicht darin liegt, Oskar als Figur zu diskreditieren, sondern darin, die Sitten und Gebräuche in dem Zerrspiegel seiner Wahrnehmung noch monströser und zugleich lächerlicher erscheinen zu lassen. Auf den Punkt gebracht: Die Funktion des Verfahrens in der Blechtrommel ist eine, die man normalerweise mit einem zuverlässigen Erzähler in Verbindung bringt. Hier aber ist es so, dass die verfremdende Distanz, die das unzuverlässige Erzählen erzeugt, sich nicht primär kritisch gegen den Erzähler richtet, sondern gegen seine Umgebung. Oskars Unzuverlässigkeit ist das Ergebnis der „entrückten Perspektive“, von der Grass (1987 [1973], 627) im Zusammenhang mit seiner ursprünglichen Konzeption vom „Säulenheiligen“ spricht.

Das Dilemma lässt sich also nicht auflösen, indem man Bezugsbereiche der Aussagen Oskars auf einer Ebene unterscheidet (das hieße, das Dilemma zu bestätigen: falsche unglaubwürdige Aussagen wie die Bettszenen einerseits und wahre unglaubwürdige Aussagen wie die Glas-Episoden andererseits), sondern indem man sie unterschiedlichen Funktionsbereichen zuordnet. So gesehen, sind alle unglaubwürdigen Aussagen Oskars in der erzählten Welt falsch. Er konnte nie Glas zersingen, und in der Rückschau geht die Phantasie mit ihm durch, indem manche Erlebnisse sich in seiner Phantasie verselbständigen. Drückt Oskars Kreischen zuerst Protest dagegen aus, dass man ihm seine Trommel abnehmen möchte, so löst sich das Kreischen von diesem Zusammenhang, wie Oskar selbst bemerkt, als er vom Stockturm aus Fenster des Theaters zerspringen lässt.Footnote 43

Ein instruktives Beispiel für die Verselbständigung ursprünglich falsch dargestellter Sachverhalte ist Oskars Trommeln unter der Tribüne am Ende des gleichnamigen Kapitels. Auch hier wird deutlich, dass es nicht primär Ziel der Erzählung ist, Oskars Verfälschen der wahren Begebenheiten zu offenbaren, sondern die groteske Verzerrung der Veranstaltung. Zugleich aber wurzelt die Groteske in Oskars kindlich-zurückgebliebener Unbedarftheit, die der erzählende Oskar im Rückblick in Absicht ummünzt. Oskar krabbelt unter die Tribüne, auf der Nazis Reden halten und Marschmusik spielen. Dann fängt er an zu trommeln und zwingt den Musikern erst einen Walzerrhythmus auf, den die Zuschauer (angeblich) begeistert aufnehmen, und dann auch noch einen Charleston. Offenbar entsteht dadurch ein reges Durcheinander, das darin endet, dass der Störenfried gesucht wird:

Dann bleibt noch zu sagen, daß Oskar das Innere der Tribüne nicht sogleich verlassen konnte, da Abordnungen der SA und SS über eine Stunde lang mit Stiefeln gegen Bretter knallten, sich Ecklöcher ins braune und schwarze Zeug rissen, etwas im Tribünengehäuse zu suchen schienen: einen Sozi womöglich oder einen Störtrupp der Kommune. Ohne die Finten und Täuschungsmanöver Oskars aufzählen zu wollen, sei hier kurz festgestellt: Sie fanden Oskar nicht, weil sie Oskar nicht gewachsen waren. (B, 142 f.)

Es kann nun sein, dass Oskar die Szene vollkommen falsch wiedergibt und niemand tanzt. „Lacher wurden laut“ (B, 140), heißt es, und das mag stimmen, wenn plötzlich fremdes Trommeln einsetzt. Was er als Tanzen beschreibt, ist möglicherweise – unter realistischen Vorzeichen – gemeint als Beginn des Durcheinanders, das sich durch die fremden Trommeltöne entfesselt und im Einsatz der uniformierten Truppe kulminiert. Oskar spricht nicht explizit aus, dass nach ihm gesucht wird, und so lässt sich ein Teil dieser Passage wiederum mit guten Gründen als unzuverlässig erzählt bestimmen. Vor diesem Hintergrund wäre der andere Teil der Passage (dass die Leute zu tanzen anfangen) als Erfindung Oskars aufzufassen.

Der Punkt ist nicht allein, dass Oskar etwas falsch wiedergibt, sondern dass er das Bizarre und Lächerliche der Veranstaltung darstellt und dabei die Option anbietet, dies als seine groteske Übertreibung zu verstehen. Richtet man die Aufmerksamkeit allein auf die grotesken Züge, verliert man Oskars mimetische Unzuverlässigkeit leicht aus dem Blick – und umgekehrt: die alleinige Konzentration auf seine Unzuverlässigkeit droht, das Groteske zu entwerten. Dies sollte man vermeiden. Es ist das Eigentümliche des Romans, dass er beständig beide Perspektiven aktualisiert.

Man muss akzeptieren, dass in der Frage, was der Fall ist in der Welt der Blechtrommel, eine Spannung besteht zwischen Oskars eindeutig belegbarer Unzuverlässigkeit mit Bezug vor allem auf die Sachverhalte, die seine geistige und körperliche Reife betreffen, und Sachverhalten (das Zersingen von Glas an erster Stelle), die man als Bestandteile der erzählten Welt aus Mangel an überzeugenden alternativen Erklärungen und aufgrund ihrer narrativen Mächtigkeit zu akzeptieren geneigt ist. Das ändert aber nichts daran, dass die phantastisch anmutenden Sachverhalte prinzipiell im Sinne einer stabilen, den Naturgesetzen gehorchenden Welt normalisierbar sind.Footnote 44

Dass die Blechtrommel einer Kategorie wie der der Unzuverlässigkeit nur scheinbar Grenzen setzt, wird noch verständlicher, wenn man andere konventionelle narratologische Kategorien auf den Text anwendet. Auf den ersten Blick wird man die Ich-Erzählung Oskars homodiegetisch nennen wollen. Das ist sie tatsächlich über weite Strecken. Aber, je nachdem, was man darunter versteht (Teil nur der Geschichte im engeren Sinne zu sein oder Teil der erzählten Welt überhaupt), die ersten Ereignisse, von denen Oskar erzählt, sind, streng genommen, nicht homodiegetisch erzählt, denn Oskar existierte noch gar nicht, als sich seine Großeltern kennenlernten. Homodiegetisch im engen Sinne wird seine Erzählung erst später. Ein anderes hervorstechendes Moment ist, dass Oskar von sich als „ich“ und „er“ spricht, also nicht sauber zwischen Ich- und Er-Erzählung trennt, zuweilen gar in einem Satz. Das spricht nicht gegen narratologische Kategorisierungen, sondern besagt nur, dass der Autor Grass offensichtlich darauf aus ist, sich an bestimmte Konventionen (die Grundlage für die narratologische Kategorisierung sind) nicht zu halten.Footnote 45

Ähnlich verhält es sich mit der Spannung zwischen Oskars Unzuverlässigkeit und der Beschaffenheit der erzählten Welt. Der Blechtrommel liegen zwei unterschiedliche Konzeptionen zugrunde, die gegeneinander arbeiten. Dass Grass in der Blechtrommel die eine nicht zugunsten der anderen aufgegeben hat und dadurch die Spannung über weite Teile aufrecht erhält, macht vermutlich einen ihrer besonderen Reize aus – und unterscheidet sie von den beiden anderen Teilen der Danziger Trilogie, deren zweiter Teil stärker mimetisch geprägt ist und deren dritter deutlich anti-mimetisch.

3.7 Oskars axiologische Unzuverlässigkeit

Wie im I. Kapitel (Abschn. 1.6) dargelegt, kann einer Erzählinstanz axiologische Unzuverlässigkeit nur dann attestiert werden, wenn sie ihr Fehlverhalten nicht als solches erkennt oder benennt und sie es so darstellt, als sei es normgerecht. Wenn sie dagegen ihr Verhalten in Beziehung zu den ihm zugrunde liegenden Normen reflektiert, ist die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit unsinnig. Dementsprechend ist Oskars folgendes Bekenntnis kein Beleg für seine axiologische Unzuverlässigkeit: „Wenn Sie mich fragen: War es das Böse, das Oskar befahl, die ohnehin starke Versuchung einer gutgeputzten Schaufensterscheibe durch einen handgroßen Einlaß zu steigern, muß ich antworten: Es war das Böse“ (B, 153). Oskar bekennt sich in dieser Formulierung dazu, dass sein Handeln einen Verstoß gegen bestimmte Normen bedeutet. Allerdings zieht er es mit seiner anschließenden Formulierung ins Lächerliche: „Alleine schon deswegen war das Böse, weil ich in dunklen Hauseingängen stand. Denn ein Hauseingang ist, wie bekannt sein sollte, der beliebteste Standort des Bösen“ (B, 153). Und in der Folge relativiert er seine ursprüngliche Feststellung weiter, indem er auf positive Effekte hinweist wie den, dass er damit den Passanten, die sich an den Gegenständen im Schaufenster vergreifen, ermöglicht habe, „sich selbst zu erkennen“ (B, 153). Doch das allein macht ihn nicht in axiologischer Hinsicht unzuverlässig.Footnote 46 Man müsste hinter der Relativierung ein System entdecken, um sie als Ausdruck eines axiologischen Defekts zu interpretieren.

Doch gibt es genügend andere Passagen, die – selbst wenn sie von Oskar erfunden sein sollten – von seinem axiologisch zweifelhaften Verhalten in Kriegszeiten zeugen. Gemeint ist sein Engagement in Bebras Fronttheater. „Dabei korrumpiert er sich […]; seine Kunst dient der Wehrertüchtigung der Besatzungsarmee in Frankreich“ (von Schilling 2002, 53). Im Unterschied zu seiner oben zitierten Reflexion über das Böse enthält sich Oskar hier einer Einordnung, sondern berichtet von seinen vermeintlich harmlosen Späßen, die alles andere als harmlos sind, sondern ein Bild für die Zerstörung der Kultur, etwa wenn er anstelle „deutsch-ordinäre[r] Bierflaschen“ nun „ausgesuchteste, schöngeschwungene, hauchdünn geatmete Vasen und Fruchtschalen aus französischen Schlössern zersang“ (B, 405).

Seine axiologische Unzuverlässigkeit zeigt sich auch bei anderer Gelegenheit, allerdings weniger in seinen Handlungen als in seiner Einstellung zu den ihn umgebenden Personen. Als Mutter Truczinski stirbt, besteht Oskar darauf, dass ihr Sarg nicht einfach quaderförmig ist, sondern aus „zum Fußende verjüngten Brettern“ zusammengezimmert wird, und zitiert, was auf den Sargbrettern steht: „Vitello-Margarine […] stand dort dreimal in gleichmäßigen Abschnitten untereinander und bestätigte nachträglich Mutter Truczinskis Geschmacksrichtung. Sie hatte zu Lebzeiten die gute Vitello-Margarine aus reinen Pflanzenfetten der besten Butter vorgezogen; weil Margarine gesund ist, frisch hält, nährt und fröhlich macht“ (B, 477).

Oskar erzählt in dieser Passage als erlebendes Ich und drückt damit offensichtlich eine Einstellung zu der Toten aus, die der tatsächlichen Bedeutung von Mutter Truczinski für ihn nicht vollkommen gerecht wird, denn sie hatte sich in der Zeit nach der Geburt von Kurt vor allem um ihn gekümmert. Bei ihr hat er gewohnt. Oskar ist von ihrem Tod anscheinend nicht emotional berührt, oder er überspielt es. In beiden Fällen gibt er emotionale Teilnahmslosigkeit zu verstehen. Geht man davon aus, dass die Norm einer Verhaltensreaktion angesichts des Todes einer nahestehenden Person auch in der Welt der Blechtrommel Trauer ist, und stellt man fest, dass diese Reaktion hier ausbleibt, so ergibt sich, dass Oskar unangemessen reagiert und nichts sagt, das diese Reaktion erklärt und damit rechtfertigt – oder verurteilt. Im Falle einer Verurteilung befände er sich erzählend ebenso im Einklang mit der Norm, wie mit einer gültigen (und nicht nur vermeintlichen) Rechtfertigung der normative Widerspruch ausgeräumt würde.

Der Roman ist voller solcher Formulierungen, und sie haben ihm das Urteil eingetragen, dass er ironisch erzählt würde, vielleicht auch aus Mangel an angemessenen literaturwissenschaftlichen Kategorien (vgl. Jendrowiak 1979, 91). Doch diese Einschätzung – die Zuschreibung von Ironie – setzt voraus, dass Oskar ein vernünftiger Erzähler ist. Es hieße, Oskars Selbsteinschätzung Glauben zu schenken. Wenn man dieser Selbsteinschätzung jedoch nicht folgt, lassen sich seine Äußerungen nicht ironisch verstehen: „Das Krantor war aus Holz und brannte besonders schön“ (B, 480), sagt Oskar, als er den letzten Angriff auf Danzig beschreibt. Das wäre Ironie, wenn es nicht Oskar wäre, der das sagt. In der Tat wurden Formulierungen und Aussagen dieser Art lange als Ironie eingeschätzt, da sie normalerweise ironisch gemeint sind. Dabei ist die Vorstellung leitend, dass derjenige, der so etwas sagt, weiß, dass das brennende Danzig eigentlich nicht schön ist und dass damit furchtbar viel Leid verbunden ist. Versteht man Oskar allerdings anders als er sich selbst versteht, dann sollte man ihm unterstellen, dass er mit diesem Ausspruch tatsächlich meint, was er sagt: dass er tatsächlich sehr angetan ist von dem Feuer und das Leid und alles andere ausblendet. Damit ist er in solchen Fällen kein ironischer, sondern ein axiologisch unzuverlässiger Erzähler.

Ähnlich ist folgender Satz zu verstehen, mit dem Oskar eine mehrfache Vergewaltigung schildert: „Die Greffsche, die solch zügigen Andrang nach so langer Witwenschaft und vorhergehender Fastenzeit kaum erwartet hatte, schrie anfangs noch vor Überraschung, fand sich dann aber schnell in jene ihr fast in Vergessenheit geratene Lage“ (B, 483). Dass sie „vor Überraschung“ so reagierte, ist ebenso wenig angemessen wie der Zusammenhang zu der sexuellen Vernachlässigung durch ihren pädophilen Mann, den Oskar mit seiner Formulierung herstellt. Was er mit diesem Satz sagt, ist, dass Lina Greff sich glücklich schätzt, endlich wieder Geschlechtsverkehr zu haben. Aus dem Munde eines zurechnungsfähigen Erzählers ist das bitterste Ironie (wenn nicht kalter Zynismus). Hält man Oskar jedoch für partiell unzurechnungsfähig, zeigt die Formulierung, worin seine Unzurechnungsfähigkeit besteht.

Insgesamt ist Oskar axiologisch unzuverlässig mit Bezug auf sein Problembewusstsein. Die bewegten Zeiten, in denen er aufwächst, sind für ihn nicht grundsätzlich schlimm, sondern kommen nur im Hinblick auf seine privaten Probleme zur Sprache. Die gestörte Axiologie drückt sich auch in seiner Fixierung auf Krankenschwestern aus. Seine Welt ist die eines Arztromans oder -films.Footnote 47 Dies kommt im dritten Buch nicht zuletzt in seiner Eifersucht auf Dr. Werner zum Ausdruck, den vermeintlichen Liebhaber Schwester Dorotheas, seiner Nachbarin, die er noch nicht einmal gesehen hat.

Auch in anderer Hinsicht wurde Oskar implizit axiologische Unzuverlässigkeit zugeschrieben. Mit Bezug auf die Haltung von Gottfried Benn interpretiert Jendrowiak (1979, 254–259) insbesondere die Fronttheaterepisode als Oskars Abdriften in einen axiologisch unangemessenen Ästhetizismus.Footnote 48 Darüber hinaus gelangt sie zu der Einschätzung des Romans, der kraft der axiologischen Unzuverlässigkeit Oskars ein „von weiten Kreisen in der Bundesrepublik getragenes Kunst- und Wirklichkeitsverständnis im Rückbezug auf die Geschichte unter dem Aspekt der ‚Schuld‘, der eigenen Teilhabe im Sinne des Mitläufertums, einer Prüfung zu unterziehen“ unternimmt (Jendrowiak 1979, 290).

„Schuld“ ist das Stichwort, das auch Grass selbst als Motiv für sein Schreiben angegeben hat und auf das in der Sekundärliteratur immer wieder hingewiesen wird. Prominent sind die Passagen, in denen Oskar selbst von seiner Schuld spricht. Er hält sich für beteiligt am Ableben seiner älteren Verwandten sowie Roswithas (B, 684 f.). Sofern man darin – entsprechend der Überlegung zu Beginn dieses Abschnitts – das Anerkennen geltender Normen erblickt, kann man Oskar diesbezüglich keine axiologische Unzuverlässigkeit zuschreiben. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Nicht darin liegt seine Schuld, denn er konnte in all diesen Fällen nicht voraussehen, was geschehen würde. Bezüglich dieser Einschätzungen ist Oskar mimetisch unzuverlässig, weil er sich nachträglich intentionales Verhalten andichtet. Ob er damit aber eine andere Schuld verdeckt (vgl. von Schilling 2002) oder unschuldig ist, ist damit noch nicht gesagt. Die Schuldfrage wird mehr mitverhandelt als ausverhandelt, da Oskar als geistig retardiertes Kind nicht für alle seine Handlungen verantwortlich gemacht werden kann; und es hieße, seiner retrospektiven Umdeutung auf den Leim zu gehen, wenn man ihm aufgrunddessen attestierte, dass er sich schuldig gemacht habe: „Oskar verführt zum Diebstahl, er manipuliert, er ist schließlich Mitglied einer Propagandatruppe. Er, der gemeinhin als Inbegriff des Protestes gegen den Nationalsozialismus gesehen wird, und sich als solcher inszeniert, ist dennoch ein Teil dessen, wogegen er sich auflehnt“ (Schirrmacher 2008, 121). Auch laut Krumbholz (1980, 50) wurde „übersehen, daß Oskar keineswegs ein autonomes, außerhalb der kritischen Zielrichtung liegendes Subjekt ist.“ Oskars Schuld ist allerdings nicht die, zu der er sich bekennt, sondern die, zu der er sich nicht bekennt (s. o. Abschn. I.1.3). Demnach sind es sein kindlicher Egoismus und sein retrospektiver Zynismus, die ihn axiologisch unzuverlässig machen – vor allem dann, wenn man diese Eigenschaften als repräsentativ versteht und von Oskars pathologischen Zügen abstrahiert. Wie immer man im Einzelnen zu dieser Frage steht, es zeigt sich, dass die Zuschreibung von axiologischer Unzuverlässigkeit stark von interpretatorischen Vorentscheidungen abhängig ist.Footnote 49

Während die meisten Interpretationen auf die (fraglos wichtigen) gesellschaftlichen und historischen Aspekte des Romans eingehen (Kleinbürgertum und NS-Zeit), ist der individuelle Aspekt, wie mir scheint, eher vernachlässigt worden. Das mag daran liegen, dass Oskar eine so „unrealistische“ Figur ist, die nicht als Individuum, sondern als Repräsentant oder auch nur als Medium wahrgenommen wird. Auch Grass’ eigener Hinweis, er habe sich mit dem Roman gegen die psychologisierende Richtung in der Nachkriegsliteratur positionieren wollen, spielt eine Rolle (vgl. Schwartze-Köhler 2009, 363). Trotzdem ist Oskar mehr als nur ein Medium oder ein Symbol. Es ist sehr wichtig, dass der Wahrheitsanspruch als solcher von Oskar nicht vollständig zur Disposition gestellt wird, sondern gewissermaßen einen Anker für sein Erzählen darstellt, das damit mal besser, mal schlechter im Untergrund der historischen Wirklichkeit festgemacht werden kann. Ich denke, es macht gerade einen Reiz des Romans aus, dass sich Oskar bei aller grotesker Verzerrung und parodistischer Intention eben auch als Individuum verstehen lässt, das sich im Widerspruch zu seiner Umgebung und im Zustand permanenten Unverstandenseins befindet. Oskar hat wie viele Kinder und auch Jugendliche seine eigene Realität. Dies erfahrbar zu machen, ist ein Effekt des unzuverlässigen Erzählens in der Blechtrommel.

3.8 Anmerkungen zu den Werken der 60er Jahre

Gerade im Kontrast zu den beiden anderen Teilen der Danziger Trilogie wird das Besondere am Erzähler Oskar sichtbar. Auch Katz und Maus und Hundejahre weisen Züge des unzuverlässigen Erzählens auf. Es lässt sich aber feststellen, dass mimetische Unzuverlässigkeit, wenn überhaupt, nur in sehr eingeschränktem Maße realisiert ist. In Katz und Maus ist ein zentraler Sachverhalt, den Schirrmacher (2008, 122) anführt, um die Unzuverlässigkeit des Erzählers zu belegen (weil er angeblich in der Folge sein anfängliches „Geständnis zu überdecken“ versucht), dass der Erzähler Pilenz eine Katze auf den Hals von Joachim Mahlke setzt. In der Tat ist die Sachverhaltsdarstellung vage: „So jung war die Katze, so beweglich Mahlkes Artikel [Kehlkopf] – jedenfalls sprang sie Mahlke an die Gurgel; oder einer von uns griff die Katze und setzte sie Mahlke an den Hals; oder ich, mit wie ohne Zahnschmerz, packte die Katze, zeigte ihr Mahlkes Maus“ (KM, 6 f.). Logisch gesehen, bleibt offen, wie die Katze auf den Hals gekommen ist. Psychologisch gesehen, ist es am wahrscheinlichsten, dass es der Ich-Erzähler war, was sich gleich darauf zu bestätigen scheint: „Ich aber, der ich Deine Maus einer und allen Katzen in den Blick brachte, muß nun schreiben“ (KM, 7). Streng genommen, lässt aber auch diese Formulierung den wahren Hergang offen, denn man kann sie auch in dem Sinne verstehen, dass „in den Blick bringen“ so viel wie „thematisieren“ oder „zur Sprache bringen“ bedeutet – und nicht „Katze an die Gurgel setzen“. Nach dem Krieg sucht Pilenz seine ehemaligen Spielkameraden auf, um sie nach Mahlke zu fragen, und zitiert sie: „Mensch, hatte der nicht irgendwas am Hals. Und haben wir nicht mal eine Katze. Warst Du das nicht, der die Katze an seinen Hals …“ (KM, 36). Auch Mahlke wird zitiert, und er kann sich ebenso wenig genau erinnern, da er vor sich hin gedöst hatte: „Ich schlief oder drusselte vor mich hin, und das graue Biest oder war es schwarz, sah meinen Hals und sprach, oder einer von Euch, Schilling, glaub ich, wäre ihm zuzutrauen, nahm die Katze … Na, Schwamm drüber“ (KM, 93). Ein andermal spricht er von Jürgen Kupka als Täter (KM, 98) – Schilling und Kupka sind eben jene Burschen, die Pilenz später nach Mahlke fragt. Und die letzte Textstelle gibt ein Gespräch wieder, in dem zunächst die Katze selbst als Täter genannt wird, was Widerspruch provoziert: „Quatsch Mensch, Pilenz nahm doch die Katze und hat sie ihm – oder?“ (KM, 113). Tatsächlich war der Vorfall für Mahlke selbst nicht sonderlich folgenreich.Footnote 50 Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Zeugen und er selbst sich nicht genau erinnern. Anders Pilenz. Eine Textstelle habe ich unterschlagen, die nämlich, als Pilenz einmal mehr das Äußere Mahlkes beschreibt, und zwar als er ihn nach den Sommerferien während der Frühmesse betrachtet. Natürlich kommt er auf den Kehlkopf, die „Maus“ zu sprechen, „die einst die Katze angelockt und mich verlockt hatte, ihm die Katze an den Hals zu setzen“ (KM, 91). Hier gesteht er am deutlichsten, dass er es war. Doch bestätigt diese Textstelle nur, was bereits ganz am Anfang die plausibelste Variante war. Mit der vagen Wiedergabe dessen, was geschehen ist, gibt der Erzähler nichts Falsches zu verstehen. Sowieso ist etwas anderes wichtiger: nämlich dass sich Pilenz von Mahlke angezogen und abgestoßen fühlt. Mahlkes körperliche Auffälligkeit – der übergroße Kehlkopf – und die Reaktion seines Umfeldes führen zu Mahlkes Manie, diesen vermeintlichen Makel zu kompensieren – und mit einem Ritterkreuz zu überdecken. Pilenz scheint sich mit der Katzen-Aktion als auslösender Faktor dieser Entwicklung zu begreifen. Wieder geht es um Schuld, aber die Ambivalenz, die sich in Pilenz’ Erzählung zeigt, betrifft nicht die Wirklichkeitsdarstellung wie bei Oskar, sondern seine Einstellung zu Mahlke. Während die Blechtrommel mit der Vorstellung spielt, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, und diese stellenweise unterläuft, ist Pilenz’ Einstellung gegenüber Mahlke inhärent zweideutig. Es stellt sich damit vor allem die Frage, inwieweit Pilenz axiologisch unzuverlässig ist. Die Zuschreibung axiologischer Unzuverlässigkeit aber ist – wie bei der Blechtrommel – stärker von interpretatorischen Vorannahmen abhängig. Wenn sich Pilenz’ Verhalten am Ende als unterlassene Hilfeleistung interpretieren lässt und diese wiederum als Auslöser für sein Schreiben, so ist auch dieser Schluss alles andere als eindeutig, denn Pilenz unternimmt ja sehr wohl Versuche, Mahlke zurückzuhalten. Einfache Zuschreibungen wie die folgende verbieten sich: „Pilenz versucht bis zum Schluß, seine Schuld am Verschwinden Mahlkes vor dem Leser zu verbergen“ (Gerstenberg 1980, 25). Es ist aber gar nicht ausgemacht, ob er tatsächlich etwas anderes zu verstehen gibt oder ob es nicht eher ein Ringen mit der eben nicht eindeutigen Wahrheit in solchen Fragen ist. Allemal ist die Kategorie des unzuverlässigen Erzählens eine hervorragende Möglichkeit, dieses Charakteristikum herauszuarbeiten. Wieder und wieder zeigt sich, dass das eng gefasste Verständnis der Kategorie den Vorteil hat, am Ende einer Analyse konkrete Entscheidungsmöglichkeiten für eine Interpretation formulieren zu können.

In Hundejahre ist es neben der Erzählsituation die Identität des „federführenden“ Erzählers, die verschleiert wird. Erst nach und nach wird deutlich, dass der Erzähler, der sich am Anfang „Brauxel“, „Brauksel“ und „Brauchsel“ nennt und „hier die Feder führt“ (H, 144), identisch mit Eduard Amsel ist, dem Helden des ersten Buches „Frühschichten“, und dass es sich eigentlich um eine homodiegetische Erzählung handelt und nicht um eine heterodiegetische, wie es zunächst den Anschein hat. Da er diese Information zurückhält, gibt er etwas anderes zu verstehen als in der Fiktion der Fall ist und ist diesbezüglich mimetisch unzuverlässig.Footnote 51 Zugleich schildert er, nur scheinbar analog zu Oskar, Ereignisse auf eine Weise, zu denen er als homodiegetischer Erzähler keinen direkten Zugang hat, so dass auch hier mimetisch-realistische Erzählkonventionen unterlaufen werden (vgl. Richter 1977, 44 f.). Ebenso scheinbar analog zur Blechtrommel – und im Unterschied zu Katz und Maus – gibt es in Hundejahre auch wieder mehr phantastische Sachverhalte. Allerdings werden sie nicht von einem Vorbehalt erfasst, der Oskars Fallibilität vergleichbar wäre.Footnote 52 Wenn die Blechtrommel zumindest die Möglichkeit bereit hält, dass sich die phantastischen Sachverhalte als Hirngespinste interpretieren lassen (und dies passagenweise sogar als die plausiblere Interpretation vorsieht), so verzichten die Hundejahre darauf. Mimetische Unzuverlässigkeit liegt also nur insofern vor, als damit eine Komplizierung der Erzählsituation erreicht wird. Demgegenüber ist es axiologische Unzuverlässigkeit, die zum Teil die beiden folgenden Bücher der Hundejahre auszeichnet, etwa Harry Liebenau, der den Studienrat Brunies verrät und damit ins KZ bringt (Hu, 481, 483), oder Walter Materns Rachefeldzug, dessen Schilderung ihn als Fanatiker ausweist, aber vergessen lässt, dass er selbst nicht frei von Schuld ist.

Grass’ nächster Roman örtlich betäubt (1969) ist ein Werk des Übergangs. In ihm spiegelt sich einerseits das damalige politische Engagement des Autors (insofern er darin aktuelle politische Streitfragen verhandelt); andererseits ist die Haupthandlung in der Gegenwart verortet (wohingegen die Werke der Danziger Trilogie hauptsächlich eine Vergangenheitshandlung präsentieren). Erzähltechnisch gesehen, ist es wiederum eine homodiegetische Erzählinstanz, die der Handlung vorgeschaltet ist und zugleich ein Bestandteil von ihr ist. Es handelt sich um den Lehrer Eberhard Starusch, einer Figur, die als Jugendlicher bereits in der Blechtrommel vorkam: „Und mich haben die Jungs von Anfang an Störtebeker genannt“ (öb, 14). Die Distanz des fiktiven Erzählers zum Autor ist jedoch im Vergleich zu den früheren Werken stärker reduziert und weist auf die kommenden Erzählinstanzen voraus, die bis einschließlich Unkenrufe mit dem Autor konvergieren bzw. gar mit ihm identisch sind. Ganz im Einklang damit steht, dass in örtlich betäubt die Kategorie des unzuverlässigen Erzählens nicht einmal ansatzweise sinnvoll angewendet werden kann.

Der eher kurze Roman besteht aus drei Teilen, wobei die ersten beiden etwa gleich lang sind und der dritte vergleichsweise kurz. Er lässt sich daher als Epilog kennzeichnen. Der erste Teil präsentiert eine auf den ersten Blick komplizierte Erzählanlage. Der Erzähler befindet sich an mehreren Tagen beim Zahnarzt und unterzieht sich einem langwierigen Eingriff. Von der Zahnbehandlung geht die Erzählung unvermittelt zu mehreren anderen Handlungssträngen über, die sich erst nach und nach als solche konstituieren und teils aus Erinnerungen, teils aus Phantasien Staruschs bestehen. Diese Stränge werden von Staruschs Wahrnehmungen getriggert, die ihrerseits wiedergeben, was Starusch während der Behandlung im Fernsehen sieht, das der Zahnarzt im Behandlungsraum zur Ablenkung seiner Patienten zur Verfügung hat. Im Resultat haben wir es also mit einem inneren Monolog zu tun, der sich thematisch aus dem zusammensetzt, was Starusch gerade sieht und was ihn beschäftigt. Dazu gehört auch eine Diskussion mit einem seiner Schüler, der sich über den Vietnamkrieg empört, während Starusch zugibt, dass ihm sein eigener Zahnschmerz gerade näher ist (öb, 15 f.). Sollte hier axiologische Unzuverlässigkeit des Erzählers zu erkennen sein? In der Tat klingt dies erst einmal zynisch. Man wird allerdings sehen, dass sich Staruschs Antwort auf der axiologischen Linie des Romans befindet, wonach man sich um das kümmern soll, was man beeinflussen kann und was den eigenen Kompetenzen entspricht.

Diese Antwort wird vollends erst aus dem zweiten Teil ersichtlich, der in wesentlichen Teilen dialogisch organisiert ist. Man findet den Erzähler in Gesprächen mit den Hauptfiguren wieder, mit seinen Schülern Philipp Scherbaum und Vero Lewald sowie seiner Kollegin Irmgard Seifert und seinem Zahnarzt. Die erzählte Zeit umfasst einige Tage im Januar 1967. Starusch befindet sich in Behandlungspause und hält immer wieder selbstvergewissernde Rücksprache mit seinem Zahnarzt, dem er von seinen Sorgen berichtet.

Hier sind zwei Umstände diskussionswürdig, einmal in mimetischer, einmal in axiologischer Hinsicht. Letztere ist die Hauptfrage, die Starusch umtreibt. Scherbaum möchte angesichts der amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam (durch den Einsatz von Napalm) ein Zeichen setzen, um die vom Wirtschaftswunder saturierten Damen auf dem Berliner Ku’damm aufzurütteln. Vor einem Café will er seinen Dackel Max verbrennen. Seine Annahme ist, dass den Berlinern, die als große Hundeliebhaber bekannt sind, diese Tat viel näher gehen werde als andere Aktionen. Er möchte seinen geliebten Hund zu diesem guten Zweck opfern in der Hoffnung, die Bevölkerung gegen die Vorgänge in Vietnam einzunehmen. Starusch will ihn davon abbringen, weiß aber nicht, wie ihm das gelingen kann. Es ist klar, dass Starusch in der Grundsatzfrage die in der Romanaxiologie richtige Position einnimmt. Mit einer solchen Aktion werde Scherbaum nichts erreichen. Eher werde er selbst gelyncht. Revolutionäre Taten brächten nicht die gewünschten Resultate, im Gegenteil. Außerdem ist er dagegen, unschuldige Wesen zu opfern. Am Ende lässt Scherbaum von seinem Vorhaben ab und folgt Staruschs Vorschlag, sich bei der Schülerzeitung zu engagieren.

Vielleicht, so könnte man einwenden, ist Starusch zwar nicht in der Grundsatzfrage axiologisch unzuverlässig, aber in der Wahl der Methoden. So schlägt er vor, einen Hund aus dem Tierheim zu besorgen, um die Aktion durchzuführen. Doch auch diesbezüglich kann man schnell erkennen, dass Starusch dies nicht als tragbare Alternative ansieht, sondern als Kniff, um seinen Schüler von seinem Vorhaben abzubringen. Schließlich könnte man erwägen, ob Starusch zu unfähig ist, Scherbaum schnell mit den richtigen Argumenten zu überzeugen. Aber auch dies lässt sich mangels Belegen zurückweisen. Es ist vielmehr so, dass das Beispiel plausibel zeigt, dass Argumente in solchen Fällen selten ad hoc eine Verhaltensänderung herbeiführen; stattdessen sind es Sorge und Diskussionsbereitschaft des Mentors, die nach und nach zu einer Einstellungsänderung beim Jüngeren führen. Starusch und schließlich auch Scherbaum befinden sich axiologisch auf Grass’ Linie und stehen damit in Einklang mit der Werkaxiologie.

In mimetischer Hinsicht könnte man fragen, ob die Dialoge mit dem Zahnarzt in der Realität der Fiktion tatsächlich stattfinden. Unter der Annahme, dass die Welt von örtlich betäubt gemäß unserem Erfahrungsbereich realistisch funktioniere, ist es unrealistisch, dass ein Zahnarzt Zeit hat, mit einem ihm nicht näher bekannten Patienten lange Telefonate über dessen Privatangelegenheiten zu führen. Unter der Maßgabe einer in diesem Sinne realistischen Geschichte könnte man zu dem Schluss kommen, dass in der Wirklichkeit der Fiktion Starusch gar nicht mit dem Zahnarzt spricht, sondern diesen Gesprächspartner fingiert, der eigentlich sein Über-Ich ist. Die Dialoge mit dem Zahnarzt wären demnach Selbstgespräche und Staruschs Erzählen darüber also mimetisch unzuverlässig. Das Problem an dieser Zuschreibung ist ähnlich dem, das wir schon kennen, aber hier noch einfacher zu lösen. Das vermeintliche Problem ist unerheblich, bedeutungslos für das, was der Roman vermitteln will. Man kann ihn in beide Richtungen deuten, aber von dem Unterschied hängt nichts ab. Mag sich Starusch die Telefonate ausdenken; worauf es ankommt, sind die Reflexionen, die in den Gesprächen ausgetauscht werden. Wenn sich die jemand lieber als eingebildet vorstellt, soll er es tun; wenn sich jemand die Realität von örtlich betäubt lieber so vorstellt, dass in ihr Zahnärzte Zeit für lange Telefonate mit den Patienten haben, ist das auch in Ordnung. Staruschs Reflexionen, die in den Gesprächen mit dem Zahnarzt zum Ausdruck kommen, werden nicht dadurch diskreditiert, dass sie nur eingebildet sind und der Zahnarzt in Wirklichkeit sein Über-Ich ist.

3.9 Zusammenfassung

Die Erörterung war kompliziert. Daher ist es sinnvoll, die Ergebnisse für jene zu bündeln, die den argumentativen Verästelungen nicht folgen wollten. In Thesen zusammengefasst lauten die mir wichtigsten Erkenntnisse dieses Abschnitts:

  1. 1.

    Der Hinweis auf die ersten Sätze des Romans (Stichworte: „Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt“ und „vorgelogen“) begründen nicht Oskars Unzuverlässigkeit. Es handelt sich hierbei lediglich um Indikatoren.

  2. 2.

    Oskars Erzählen ist geprägt von unglaubwürdigen, weil (nach unseren Maßstäben) phantastisch anmutenden, Sachverhaltsdarstellungen. Für einen Teil (a: kognitive und sexuelle Reife) von ihnen gibt es diegetische Alternativen, die das Phantastische als Hirngespinst ausweisen und zumindest gleichwertig mit dem sind, was Oskar behauptet. Für einen anderen Teil (b: Glaszersingen) gibt es keine oder nur schwach im Text verankerte diegetische Erklärungen.

  3. 3.

    Unter den Sachverhaltsdarstellungen (a) gibt es wiederum einige (Oskars sexuelle Beziehungen zu Maria und Lina Greff), deren diegetische Alternativen sogar wahrscheinlicher sind als das, was Oskar behauptet.

  4. 4.

    Nur hinsichtlich dieses Bezugsbereichs ist Oskar eindeutig ein mimetisch unzuverlässiger Erzähler.

  5. 5.

    Aufgrunddessen kann man Oskar auch Unzuverlässigkeit im Hinblick auf die anderen Fälle des Teils (a) attestieren – muss man aber nicht.

  6. 6.

    So oder so, Oskars mimetische Unzuverlässigkeit ist kein den Roman als ganzen prägendes Verfahren, solange keine geeigneten diegetischen Alternativen für die anderen phantastisch anmutenden Ereignisse gefunden werden.

  7. 7.

    Demgegenüber kann man Oskar mit guten Gründen axiologische Unzuverlässigkeit attestieren.

  8. 8.

    Fruchtbar für die weitere Interpretation des Romans wird dieser Befund, wenn man ihn auf das individuelle Profil der Figur Oskar bezieht (im Unterschied zu seinem medialen, repräsentativen oder symbolischen Profil als narratives Prisma für kleinbürgerliches Verhalten während der NS-Zeit oder Künstler und Außenseiter).

  9. 9.

    Außerdem kann er als einer der Faktoren für das anhaltende Interesse an dem Roman gelten, gerade auch im Vergleich mit dem Roman Hundejahre.

Was bedeuten diese Ergebnisse mit Blick auf die Einschätzungen in der Forschungsliteratur? Zum einen widerlegen sie ein Urteil, wie es sich etwa bei Manfred Durzak (1979 [1971], 260, 263) findet, der Oskars Behauptung, seine Infantilität sei eine Tarnung, um seine wahre Reife und Überlegenheit vor den Erwachsenen zu verbergen, für bare Münze nimmt. Wie geschildert und begründet, gibt es genug Anlass, Oskar nicht alles abzunehmen, was er erzählt, und in manchen Fällen ist es sogar plausibler anzunehmen, dass er die Unwahrheit sagt. Eben aus diesem Grund müssen zum andern auch solche Positionen zurückgewiesen werden, die bei der Inhaltsrekonstruktion einfach Oskar folgen (Schröder 1986) oder den Wahrheitsbegriff mit Bezug auf den Roman suspendieren (Diller 2015).Footnote 53 Die Wahrheit liegt, wie so oft, dazwischen und ist kognitiv unbequem: Mit Bezug auf manche Motive ist es tatsächlich müßig, Oskars Sachverhaltsdarstellung anzuzweifeln, da sich das, was ursprünglich Wahn ist (dass er seinem Geschrei aus Protest, dass ihm die Blechtrommel abgenommen wird, nachträglich eine besondere Ratio unterlegt), in seiner Erzählung verselbständigt; aber das gilt eben nicht für alle Motive, denn mit Bezug auf Oskars Sexualität gibt der Text zu viele Hinweise darauf, dass Oskars Sachverhaltsdarstellung unwahr ist.

Das Verfahren der Unzuverlässigkeit wird im Roman nicht konsequent genutzt. Das erzeugt den Eindruck von Inkohärenz, die dem Roman auch schon mit Blick auf die ideologische Ebene attestiert (durch Wertungen, die dem Autor zuzuschreiben seien) und als Grund für eine Abwertung angegeben wurde (Schwartze-Köhler 2009, 380). Doch deswegen von einem ästhetischen Zurückbleiben „hinter der literarischen Moderne“ (ebd.) zu sprechen, scheint mir nicht angemessen, schon gar nicht von einem historischen Zurückfallen. Im Gegenteil, die Inkohärenz des Romans, wie sie in ganz unterschiedlichen seiner Aspekte auffällt, ist Programm und verdankt sich möglicherweise auch einer Poetik des Absurden (Frizen 1986), die sich gerade in den grotesken Details des Romans entdecken lässt. Dass narrative Inkohärenz als Verfahren eingesetzt wird, zeigt sich auch an dem Oberflächenphänomen, das im Wechsel von Ich- und Er-Erzählung besteht, und nicht zuletzt an offen ambigen Formulierungen wie der folgenden über Jan Bronski, „der vom Fleisch meiner Mama lebte, der mich, wie ich heute noch glaube und bezweifle, in Matzeraths Namen zeugte […]“ (B, 155), oder mehrerer über Roswitha wie diese: „Die blutjunge uralte Hand der Raguna ergriff ich“ (B, 205). Hinter Oskars Verwirrtheit, die vordergründig in solchen Formulierungen zum Ausdruck kommt, bzw. hinter seinem koketten Verhältnis zur Logik steckt das Bekenntnis des Autors, nicht nur Konventionen zu unterlaufen, sondern auch Einordnungen zu konterkarieren. Gerade auch in der gebrochenen Übernahme des Verfahrens des unzuverlässigen Erzählens zeigt sich der Einfluss der Werke Thomas Manns, insbesondere des Doktor Faustus und des Felix Krull, der in der Forschung bislang meist motivisch oder generisch (Bildungs-, Pikaroroman) festgestellt wurde (Jendrowiak 1979, Mundt 1989, von Schilling 2002).Footnote 54 Bei Bance (1980, 134) heißt es gar: „Both Krull and Oskar are – like all memoirs-writers – constitutionally unreliable narrators.“ Es ist das eine, dass solche Verallgemeinerungen wenig hilfreich sind (denn zwar mögen Memoirenschreiber hier und da etwas schönreden, was in fiktionalen Zusammenhängen auf ihre diesbezügliche Unzuverlässigkeit hindeuten kann, aber das ist natürlich nicht konstitutiv für sie); das andere ist, dass Bance – diesmal zu Recht – ansonsten (ebd., 132–135) zeigen kann, wie sich Grass’ Roman an seinem Prätext orientiert und zugleich signifikant abhebt.

4 Zynismus des Erzählers oder des Autors? Martin Walsers Halbzeit (1960)

4.1 Vorgriff: Das Maßstabsproblem im Roman

Im Unterschied zu Bölls Werk, dem die Hoffnung auf Liebe, Solidarität und Humanität, inhärent ist (auch und gerade in einem Roman wie Ansichten eines Clowns, der im Wesentlichen die Situation durchspielt, in der sie fehlen), sind viele Werke Walsers von der Überzeugung geprägt, dass solche Werte in der Gesellschaft nicht existieren und die Hoffnung darauf illusorisch ist. Walser zeigt die Verstrickung des einzelnen in die im Kern unmoralischen Machenschaften von Akteuren gesellschaftlicher Teilbereiche. Während Bölls Helden sich vor dem Horizont dieser Werte bzw. Ideale bewegen und sie immer im Blick haben, hat jemand wie Anselm Kristlein, der Erzählerprotagonist in Halbzeit und zwei weiteren Romanen, diesem Horizont den Rücken gekehrt: Um in der Gesellschaft zu funktionieren, muss man mitmachen, und im Übrigen hat jeder irgendeine Leidenschaft, für die er, wie es die Redensart will, über Leichen geht, man könnte auch sagen, einen moralischen Schwachpunkt, an dem er besonders gut korrumpierbar ist. Insofern handeln die Romane vom Spiel dieser Leidenschaften und den Rollen, die die einzelnen Figuren darin einnehmen. Ideale kommen in den erzählten Welten nicht vor, positive gesellschaftliche Werte existieren allenfalls, damit sie verraten werden können.

Das axiologisch unzuverlässige Erzählen drängt sich da als Erzählverfahren geradezu auf. Auch Äußerungen von Walser selbst legen diesen Verdacht nahe. „Ganz sicher wußte man bei ihm [Anselm Kristlein] ja nie, ob er die Wahrheit sagte oder ob er nur das sagte, was man, nach seiner Ansicht, am liebsten von ihm hörte“ (Walser 1981, 254). Im Unterschied zu den Werken von Grass und Böll ist die Frage nach der Unzuverlässigkeit in Bezug auf Walsers Ich-Romane mit Ausnahme von Krumbholz (1980) jedoch nie diskutiert, sondern allenfalls angemerkt worden.Footnote 55 Dabei wurde immerhin doch auf die „Doppelbödigkeit“ von Kristleins Erzählen hingewiesen (Pezold 1971, 139): „Das kritische Bild der dargestellten Gesellschaft entsteht gewissermaßen gegen den Willen des Erzählers, der sie ja weder aus räumlicher noch aus ideologischer Distanz betrachtet, sondern sich möglichst gut mit ihr stellen möchte […]“ (ebd.). Weitere Schlüsse werden daraus aber nicht gezogen, sondern von der „Diskrepanz“ zwischen dem subversiven „Sichwundern eines Gutgläubigen oder in der Form ironischer Anspielungen“ einerseits und seiner „konformistische[n] Position, die sein Handeln durchweg bestimmt“ andererseits, auf die Uneinheitlichkeit der Erzählperspektive geschlossen (ebd.). Erklärt wird dies am Ende damit, dass – auch aufgrund des Wechsels zwischen „ich“ und „er“, indem Kristlein scheinbar von sich als von einer dritten Person spricht – angeblich der Autor in den Text eingreift.Footnote 56 Auf dieser Basis wird der „moralische Relativismus“, den Kristleins Redefluss zum Ausdruck bringt, als Ironie gedeutet (Pezold 1971, 142), in der Autor- und Erzählerstandpunkt zur Deckung kommen. Deutet man hingegen diese Fälle als narrative Unzuverlässigkeit, dann wahrt man die Einheit der Erzählperspektive und entgeht der Konsequenz, plötzlich an wenigen Stellen eine übergeordnete Erzählinstanz bzw. die Stimme des Autors höchstselbst anzunehmen, für die der Text überdies keinerlei Beleg bereit hält.

Einer der Gründe für die Unentschiedenheit, den Erzähler einerseits als vom Autor klar separierbare Figur zu sehen und andererseits ihn bzw. seine Äußerungen dann doch wieder mit der Autorposition in Verbindung zu bringen, liegt vermutlich darin, dass Walser seinem Anti-Helden einiges von sich selbst mitgegeben hat, sowie darin, dass Kristleins alles durchschauender Gestus, der sich auch auf ihn selbst richtet, zunächst einmal für Zuverlässigkeit sorgt. Schließlich wurden Walsers Helden von Hans Beumann an (aus seinem ersten Roman Ehen in Philippsburg) als Figuren wahrgenommen, denen bei all ihren Unzulänglichkeiten die Sympathie des Autors gehört.Footnote 57

Ist das aber wirklich die entscheidende Frage? Die Werte zu erkennen, die in der erzählten Welt verraten werden, ist nämlich für das Verständnis des Romans unabdingbar; ob der Verrat selbst verzeihlich ist – zumal bei einer vermeintlich liebenswerten Figur wie Anselm Kristlein –, dagegen sekundär. Sympathielenkung und Zuverlässigkeit bedingen sich hier gegenseitig. Dass man für den Erzähler Sympathien empfindet, mag an seiner Offenherzigkeit, vielleicht auch an einer gewissen Schelmenhaftigkeit liegen. Vor allem aber liegt es daran, dass man ihm axiologische Zuverlässigkeit zuzubilligen geneigt ist. Dass man ihm diesen Kredit einräumt, gründet wiederum in seiner Fähigkeit, menschliche Schwächen zu erkennen. Wer so schonungslos die verborgenen Motive der Menschen erkennt, der kann nur zuverlässig sein.

Doch das ist ein Trugschluss. Nur weil sich einschließlich des Opportunisten Anselm Kristlein in der erzählten Welt niemand nach den Werten richtet, heißt das noch lange nicht, dass man sie nicht als in der erzählten Welt gültige annehmen sollte. Die Gesellschaft, die im Roman dargestellt wird, kann ja nur als moralisch defektiv eingeschätzt werden, weil der Roman die Gültigkeit der fraglichen Werte voraussetzt. In den Worten von Waine (1980, 174) „ist Walser, so ungewöhnlich wie es klingen mag, ein Moralist. Zwar ist er kein Moralist im herkömmlichen Sinne, aber in einer indirekten Weise legen uns seine Werke nahe, uns mit Gewissenlosigkeit, Heuchelei und Promiskuität bewußt auseinanderzusetzen.“

Axiologisch zuverlässig erzählt ist ein Roman, dessen Erzählinstanz die Schlechtigkeit der handelnden Figuren als solche benennt. In weiten Teilen gibt Kristlein tatsächlich zu verstehen, dass er moralisch fragwürdiges Verhalten als solches durchschaut. Insofern ist er zuverlässig. Es ist aber die Frage, ob es nicht doch blinde Flecken auf Kristleins moralischer Landkarte gibt. Kristleins Monolog ist geprägt von Überexplizitheit, von einem unerschöpflichen Rede- bzw. Gedankenfluss, der eigentlich kaum etwas auslässt. Er ist kein Erzähler, der etwas unterschlägt. Daher erwartet man solche blinden Flecken nicht, die in der hier verwendeten Terminologie als Anomalien bezeichnet werden. Es gibt aber im Roman solche Anomalien, wie dieses Kapitel noch zeigen wird.

Hat man die Bereiche geklärt, mit Bezug auf die sich die Frage nach axiologischer Unzuverlässigkeit stellt, hat man also Anomalien identifiziert, so kann man auf der Basis der hier vorgeschlagenen Theorie noch keine Unzuverlässigkeit attestieren, sondern steht vor einem weiteren Problem, das man lösen muss, wenn man die Zuschreibung axiologischer Unzuverlässigkeit begründen möchte: Aufgrund welches Maßstabs sind die Anomalien axiologisch verdächtig? Liegt der Standpunkt des Erzählers auf der Linie des Romans oder nicht? Zur Beantwortung dieser Fragen muss man zunächst herausfinden, wie sich Kristleins Äußerungen zu seiner Einstellung verhalten. Unklar ist, ob Kristlein, was er zunächst vor allem wertneutral erzählt, auch für schlecht hält. Da er die Schlechtigkeiten anderer oft genug durchschaut und er im Prinzip auch zu Transferleistungen, bezogen auf sich selbst, fähig ist, muss man davon ausgehen, dass er sie bei sich selbst erkennt, auch wenn er sich selbst nicht immer dazu bekennt. Tatsächlich ist es so, dass er sich manchmal durchaus seine Verworfenheit eingesteht oder wenigstens durchblicken lässt, dass er um seine Verstrickung bestens Bescheid weiß. „Und man entdeckt ein Konstruktionsgeheimnis des Menschen: allein sich selbst kann man […] verzeihen, denn es gibt keine Grenze der Nachsicht mit sich selbst“ (H, 113 f.). Wenn das aber so ist, dann liegt seine Unzuverlässigkeit gar nicht darin, dass er seine schlechten Handlungen nicht als solche anerkennte und dies nicht auch zu verstehen gäbe; seine axiologische Unzuverlässigkeit bestünde, wenn überhaupt, darin, dass er sein schlechtes Handeln nicht ändert, sondern immer so weiter macht.

Hier stellt sich die Frage nach dem Maßstab. Im vollen Sinne axiologisch unzuverlässig wäre Kristlein nur dann, wenn es eine Norm des Werkes wäre, dass man wertekonform handeln solle. Sind also positive Werte wie Aufrichtigkeit und Solidarität, die für das Verständnis der erzählten Handlung unabdingbar sind, zugleich auch als Normen zu verstehen, nach denen das Handeln insbesondere der Erzählerfigur zu beurteilen ist? Oder ist das gar keine Norm, weil der axiologische Maßstab des Romans letztlich mit der in der erzählten Welt praktizierten Axiologie insofern zusammenfällt, als er von der Einsicht geprägt ist, dass die Realität einfach amoralisch und eine Änderung zum Besseren nicht vorgesehen ist? Man beachte den Unterschied: Die Werkaxiologie ist nicht identisch mit der Axiologie der erzählten Welt, insofern die konträren Werte der Unaufrichtigkeit und Intrige bzw. des Eigennutzes gewiss nicht propagiert (also nicht in eigentlich gute Werte umgemünzt) werden; aber die Werkaxiologie könnte immerhin insofern mit der Axiologie der erzählten Welt korrespondieren, als sie deren Unabänderlichkeit anerkennt. Dann nämlich wäre eine Änderung von Kristleins Verhalten aufgrund seiner Einsicht in das schlechte Handeln nicht vorgesehen. Trotzdem, meine ich, gehört es zu dem Roman, dass Leser diese Diskrepanz erkennen sollen, und damit wäre der Roman immer noch als axiologisch unzuverlässig erzählt anzusehen.

4.2 Anselm Kristleins Geschichte und das allgemeine Erzählprinzip

Halbzeit erzählt von Anselm Kristleins Karriere als Werbetexter in der Zeit des sog. Wirtschaftswunders.Footnote 58 Als erster Teil einer Trilogie scheint der Roman eine Aufstiegsgeschichte zu erzählen, während die beiden Folgeromane, Das Einhorn (1966) und Der Sturz (1973), Kristlein dann auf dem Höhepunkt gesellschaftlicher Anerkennung und auf dem Weg bergab zeigen. Aber schon das Ende von Halbzeit widerlegt die Bestimmung als Aufstiegsgeschichte, denn Kristlein erkrankt immerhin so schwer, dass er sich – erneut – ins Krankenhaus begeben muss, aus dem er erst ein halbes Jahr zuvor entlassen worden ist. Dies könnte man als Hinweis auf ein falsches Leben verstehen, sofern man seinen Lebenswandel als Ursache für seine Erkrankung begreift.

Der erste von drei Teilen von Halbzeit umfasst einen einzigen Tag im Juni, den ersten nach dem mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt Kristleins mit anschließender Kur. Anhand der Angaben in Alissas Tagebuch (H, 375) und später der Erwähnung des Sputnik (H, 762) lässt sich auf das genaue Datum schließen: den 18. Juni 1957. Die Familie mit drei Kindern steht nicht zuletzt wegen des langen Krankenstands finanziell am Abgrund. Kristlein, ein ehemaliger Vertreter mit abgebrochenem Philosophiestudium, ist Angestellter in einem Beratungsbüro für Heizungsanlagen. Zunächst mit finanzieller Hilfe seines Schwiegervaters, eines Juraprofessors, selbst Gründer und Teilhaber der Firma, ist er vor einiger Zeit von Moser, seinem jetzigen Chef, herausgedrängt worden.

Nach dem Frühstück geht Kristlein, begleitet von seiner ältesten Tochter Lissa, zum Friseur, dem er eine neue Heizung verkaufen möchte. Es folgt das Mittagessen im Kreis der Familie. Dann begibt er sich ins Büro, wo ihn Gaby anruft, eine seiner Geliebten. Im Anschluss an das Treffen mit ihr erfährt er, dass Moser die Firma auflöst. Daraufhin bietet sein Freund Edmund ihm an, vom Verkauf in die Werbung zu wechseln. Abends geht er zur Verlobungsfeier seines Freundes Josef-Heinrich. Kristlein wirft ein Auge auf Susanne, Josef-Heinrichs neue Verlobte. Nach der Feier besucht er neben Gaby noch Sophie, eine weitere Geliebte, ehe er sich endgültig nach Hause begibt und in Alissas Tagebuch schmökert.

Der zweite und dritte Teil handeln von den Erfahrungen Kristleins mit den Geschäftsleuten, die in einer anderen Liga spielen als seine bisherigen beruflichen Kontakte. Kristlein kann sich schnell mit einer Idee (für eine transparente Zahnpastatube mit dem neuen Markennamen Bianca) hervortun und wird von der Werbeagentur eingestellt, auch wenn das Bianca-Projekt schließlich einstweilen zurückgezogen wird. Privat ist er vor allem damit beschäftigt, Susanne näherzukommen. Das zweite Kapitel erzählt von der ganztägigen Geburtstagsfeier Leo Frantzkes Ende August, eines Konzernlenkers, mit dem die Werbeagentur kooperiert. Kristlein ist neu in dieser Gesellschaft und nutzt die Gelegenheit, in aller Bescheidenheit auf sich aufmerksam zu machen.

Im ersten Kapitel des dritten Teils, das den Monat September abdeckt, finden Kristlein und Susanne während eines Ausflugs mit seinem neuen Auto zueinander. Das Besondere an ihr ist, dass sie Jüdin ist. Damit ist sie eine Kontrastfigur zu dem Geschäftsmilieu, das aus ehemaligen Nazis besteht. Im zweiten und letzten Kapitel des gesamten Romans rekapituliert Kristlein umfänglich die Lebenswege seiner Onkeln Paul und Gallus, von denen er bereits im ersten Teil berichtet hat. Es ist Dezember, und er ist von einem sechswöchigen Aufenthalt in New York zurückgekehrt, wohin ihn seine Agentur zu Fortbildungszwecken entsandt hatte. Nach der Silvesterfeier beim Chef der Agentur muss Kristlein sich erneut ins Krankenhaus begeben.

Erzähltechnisch gesehen, gibt sich Halbzeit zunächst als innerer Monolog. Das liegt vor allem daran, dass das Erzählen dem Erleben des Ich-Erzählers folgt, immer wieder zu Erinnerungen abschweift und die Erzählzeit stark ausgedehnt ist; außerdem ist die wörtliche Rede nicht durch Anführungszeichen abgesetzt, sondern in den monologischen Gedankenstrom einmontiert, der die zitierte Figurenrede mit Erzählerkommentaren umspült.

Die Erzählhaltung als inneren Monolog zu beschreiben ist jedoch unzureichend. Es handelt sich insofern um einen literarisierten inneren Monolog, als das Erzähltempus Präteritum und der Erzählstil oft anspruchsvoll schriftsprachlich ist, in das jedoch immer wieder Umgangssprachliches hineingemischt wird. Darüber hinaus wechselt zwischendurch die Erzählhaltung, etwa wenn das Pronomen „ich“, mit dem meist auf Kristlein Bezug genommen wird, passagenweise durch „er“ ersetzt wird, oder wenn das Erzählen in Syntax und Tempus die Form des Bewusstseinsstroms annimmt. Auffällig ist auch die (kursiv gesetzte) längere Passage aus Alissas Tagebuch, das Kristlein liest. Stärkstes Indiz für die Literarisierung des inneren Monologs ist aber nicht die variierende Erzähltechnik, sondern der Umstand, dass Kristlein seine Rede mehrfach als geschriebene ausweist und immer wieder Leseradressen einbaut. Und tatsächlich wird Kristlein im Einhorn, dem zweiten Teil der Romantrilogie, die Autorschaft eines Schlüsselromans zugeschrieben, infolge von dessen Publikation die Familie nach München zieht und Alissa sich bei ihrem zweiten Namen Brigitta, abgekürzt meist „Birga“, nennen lässt.

Diese erzähltechnische Variationsbreite findet sich auf der Ebene des Erzählstils wieder. Er enthält durchweg Ironiesignale, doch ist die Reichweite der Ironie keineswegs immer erkennbar: Wo sie anfängt und wo sie aufhört, lässt sich nicht genau sagen. Kristleins Erzählen ist über weite Strecken in hohem Maße uneigentlich. So inszeniert er seine abschließenden Annäherungsversuche an Susanne vor dem Beischlaf als Gespräch zwischen sich selbst und dem (eingebildeten) Wissenschaftler Galileo Cleverlein (H, 713–715). Später liest er erneut in Alissas Tagebuch, aber diesmal zitiert er nicht daraus, sondern präsentiert es in einer mit seinen eigenen Vorstellungen vermischten Zusammenfassung (H, 763 f.). Oder er notiert einen „Dialogue sublimé“ (H, 732) zwischen Anselm und Alissa, der so nicht stattgefunden hat, sondern mit dem er ihren „banalen Streit auf jene höhere Ebene transkribieren“ (H, 731) möchte, auf der, wie er meint, die Frau sich durchsetze, während sie in der Wirklichkeit „leicht im Nachteil“ sei (H, 737).

All das kann man als Ausdruck von Kristleins Ich-Schwäche oder auch als erzähltechnische und stilistische Symbolisierung seines sozialen Rollenspiels interpretieren (vgl. Beckermann 1972). Mir dienen diese Hinweise indes dazu, eine besondere Schwierigkeit von Kristleins Erzählen im Hinblick auf die Ermittlung seiner narrativen Unzuverlässigkeit darzustellen. Es liegt auf der Hand, dass die stilistische und narrative Heterogenität die Identifizierung von epistemischen und normativen Standpunkten des Erzählers unterminieren. Man muss vereinheitlichen, was an der Oberfläche stilistisch schillert, und dafür einige Voraussetzungen anerkennen, etwa die Präsumtion, dass beim Wechsel der grammatischen Person (Wechsel zwischen „ich“ und „er“) das Äußerungssubjekt dasselbe ist, also der Erzähler, solange es nicht einen guten Grund gibt, der dagegen spricht.Footnote 59

Das allgemeine Erzählprinzip Kristleins besteht darin, menschliches Verhalten als Selbstdarstellung zu entlarven, die einer anderen Logik folgt und vor allem anderen Zielen dient, als das jeweilige Verhalten vorgibt. Ein eigentliches Erzählziel hat Kristlein indes nicht – er selbst bzw. sein von keinen besonderen intellektuellen oder ästhetischen Erfahrungen bereichertes Bewusstsein ist das Ziel der Darstellung.Footnote 60 Man könnte es als entfremdetes Bewusstsein verstehen, sofern man davon ausgeht, dass seine Fixierung auf das Materielle und das Fleischliche einen falschen oder negativen Lebensinhalt darstellen soll. Aber diesem Lebensinhalt wird im Roman kein positiver Inhalt gegenübergestellt. Der Roman bietet somit keine Alternative zu Kristleins Lebensstil an. Deswegen könnte man zu dem Schluss kommen, dass der Roman nicht in diesem allgemeinen Sinne als axiologisch unzuverlässig aufzufassen ist. Das Materielle und das Fleischliche sind die Voraussetzungen des Lebens – das könnte man als die Botschaft des Romans auffassen. Nicht Veränderung und Auflehnung stünde demgemäß auf dem Programm, sondern zynische Resignation.

Die Zuschreibung axiologischer Unzuverlässigkeit bietet indes die Möglichkeit, den Äußerungen und Taten Kristleins einen anderen Sinn abzugewinnen. Gelingt sie, lässt sich Kristlein indirekt eine kritische Funktion zuweisen. So sehr man geneigt ist, Kristlein aufgrund seiner Fähigkeit, die anderen zu durchzuschauen, seinen Opportunismus zu vergeben, weil er ja gar nicht anders kann, so gut begründet wäre es, im Falle des Nachweises, dass er unzuverlässig erzählt, diesen Opportunismus nicht als Ergebnis hinzunehmen, sondern ihn zu hinterfragen und schließlich abzulehnen.

4.3 Drei Bereiche von Anomalien

Es gibt allerdings einige thematische Bereiche, mit Bezug auf die durch Kristleins Darstellung unterschiedliche Werthaltungen im Text angedeutet werden. Anders gesagt, es lassen sich immer wieder axiologische Anomalien entdecken, die Kristlein als Erzähler nicht reflektiert. Die Analyse der Werte- und Normenstruktur von Walsers Halbzeit konzentriert sich auf drei Bezugsbereiche, die auch in der Sekundärliteratur zum Roman bevorzugt diskutiert werden. Die Werte und Normen, gegen die Anselm Kristlein potentiell verstößt, betreffen (i) sein allgemeines Sozialverhalten und seine sich darin offenbarende Einstellung, (ii) sein spezielles Verhalten gegenüber Frauen und (iii) seine Haltung gegenüber der Rolle des Nationalsozialismus in seiner Gegenwart. Bei dem letzten Punkt geht es im Wesentlichen um die Frage, wie sich Kristlein zu Tätern und Opfern verhält vor dem Hintergrund ihrer NS-Vergangenheit. Der damit verknüpfte Interpretationsauftrag lautet dann: Stehen die Äußerungen Kristleins, die diesem Bezugsbereich zuzuschlagen sind, in einem Funktionszusammenhang mit dem Bild des Nationalsozialismus in der Nachkriegsgesellschaft, das der Roman vermitteln will? Und daran anknüpfend: Sind Kristleins Äußerungen dazu da, ihn und die Gesellschaft zu diskreditieren – oder diskreditieren sie die Auffassung des Nationalsozialismus in der Nachkriegsgesellschaft des Romans selbst und damit des Autors? Analoge Fragen gelten für die Bereiche (i) und (ii).

(i) Innerhalb des ersten Bezugsbereichs ist Kristleins hervorstechende Verhaltensweise, dass er sich anpasst und tut, was von ihm erwartet wird. „Mimikry“ ist das erste (und umfangreichste) Kapitel überschrieben, und der Ausdruck wird auch vom Erzähler Kristlein selbst mehrmals benutzt, wie etwa zur Beschreibung der Reaktion seiner Kinder, als seine Schwiegermutter zu ihnen kommt (H, 247). Er dient an dieser Stelle dazu, das Unaufrichtige und Eingeübte des Überschwangs zu denunzieren, mit dem die Kinder ihre Großmutter begrüßen. Laut Kristlein ist die Freude der Kinder bei der Begrüßung lediglich äußerliche Nachahmung ohne echte innere Beteiligung.

Ein weit verbreitetes Stereotyp ist, dass Kinder rein und unschuldig seien. Ist diese Passage nun so zu verstehen, dass Kristlein, indem er diesem Werturteil widerspricht, sich als herzloser, zynischer Vater erweist, der das Verhalten seiner Kinder in einer unangemessenen Weise beschreibt? Das ist eher nicht der Fall, denn Kristlein präsentiert sich als jemanden, der hinter jeglichem Verhalten seiner Mitmenschen andere als die vorgeblichen positiv besetzten Beweggründe erkennt, und zwar stattdessen meist eigennützige, die das jeweilige Verhalten in Wahrheit steuern. Er durchschaut, so kann man verallgemeinern, das, was auf der Oberfläche häufig in positiver Weise konventionell erscheint, als im Grunde verlogen. Dabei macht er ebensowenig vor sich selbst wie vor seinen Kindern halt. Nicht zuletzt, weil er sich einbezieht, wirkt er diesbezüglich umso zuverlässiger.

Doch geht man ihm damit nicht gerade auf den Leim? Wie man gerade an dem Mimikry-Beispiel sieht, naturalisiert er das Verhalten seiner Kinder, d. h. er transferiert es aus dem moralischen in den biologischen Bereich. Dieses Manöver ist zentral für Kristlein. Auch in vielen anderen Fällen durchschaut und widerlegt er Verhaltenskonventionen, indem er die (vermeintlich?) eigentlichen Motive bloßlegt. Als jemand, der die Verlogenheit der anderen durchschaut, kann er sich der Zustimmung seiner unmittelbaren fiktiven Adressaten sicher sein. Der Effekt dieser Weltsicht ist jedoch, dass, weil ja auf dieser Basis biologische Mechanismen das menschliche Verhalten steuern, die moralische Sphäre außer Kraft gesetzt wird.Footnote 61 Seinen biologischen Anlagen entkomme niemand, so scheint Kristleins Überzeugung zu sein; und deswegen sei auch niemand besser oder schlechter: Alles wäre erlaubt, sofern es zum eigenen Vorteil gereicht. Und das wiederum hieße letztlich, man könne andere auch schädigen, solange es nicht auf einen selbst negativ zurückfällt.

Kristlein wäre zwar ein zuverlässiger Erzähler, sofern es darum geht, hohle Konventionen und die Verlogenheit mancher gesellschaftlicher Praktiken und allgemein akzeptierter Überzeugungen zu entlarven. Doch zieht er daraus womöglich die verkehrten Schlüsse. So gesehen, versäumt er es, der mangelhaften Moral eine bessere entgegen zu stellen, und sieht die Fehlbarkeit der anderen nur als Legitimation für sich selbst, ebenso eigennützig zu agieren. Auch seine Sicht wäre nicht die richtige – allerdings nur, wenn man davon ausgeht, dass die gültige Werknorm darin besteht, dass Verhalten nach moralischen Regeln (und zwar anderen als den im Roman durch die Figuren angewendeten Regeln) möglich und auch empfehlenswert ist. Ginge man jedoch davon aus, dass diesbezüglich keine Werknorm in Kraft ist, wäre Kristlein nicht unzuverlässig.

Solange kein solcher Maßstab ermittelt werden kann, spricht alles dafür, dass der Bereich mit Bezug auf diesen zentralen Bereich (i) ambivalent ist. Allerdings finden sich Textstellen, die eine deutliche Diskrepanz zwischen der Einstellung Kristleins und der seines Autors erkennen lassen und auf diese Weise zumindest indirekt zeigen, dass Kristleins allgemeine Einstellung tatsächlich gegen eine Norm verstößt, die man auf der Basis der Überzeugungen des Autors als Maßstab für den Roman setzen kann. In einer partiell heterodiegetisch erzählten Passage im dritten Teil ist von Kristleins politischer Einstellung die Rede. Danach „wäre er ja gern für das Bestehende gewesen, wenn das Bestehende für ihn gewesen wäre“ (H, 691). Das heißt nichts anderes, als dass er, der in moralischer Hinsicht ein Opportunist ist, in politischer Hinsicht ein Konservativer ist. In der besagten Passage ist von einer Art politischer Versuchung die Rede, der Kristlein kurzzeitig fast erlegen wäre. Der Erzähler Kristlein tituliert dies gönnerhaft als „kleine Schwäche“ und spricht sein früheres Ich schnell „vom Makel politischer Unzuverlässigkeit“ frei (H, 693), weil eher Gaby für „diesen harmlosen rosaroten Brechreiz“ (ebd.) verantwortlich sei als eine ernsthafte Überzeugung.Footnote 62 Wenn dies eine ernst gemeinte Feststellung des erzählenden Kristlein sein soll, dann ist er hier insofern axiologisch unzuverlässig, als er sich deutlich zum Anwalt alles Bestehenden macht und also ein affirmatives Verhältnis zur Nachkriegsgesellschaft zum Ausdruck bringt, das der Autor damals sicher nicht teilte.

Kristleins politische Einstellung ist nur ein indirekter Hinweis und kein Beleg, der die zuvor gestellte Frage nach der Bedeutung moralischer Regeln für die Romanwelt eindeutig beantworten könnte. Es gibt aber weitere Hinweise, die auf die Diskrepanz zwischen Erzähler und Autor hindeuten, etwa Walsers Aussage, dass er seine Figuren als „Ausdruck“ eines „Mangels“ ansehe (Walser/Kaes 1984, 434 f.), mithin als fiktive Entwürfe, um mit den eigenen Schwächen fertig zu werden. Auch wenn es, wie im letzten Abschnitt (4.4) gezeigt wird, Äußerungen Walsers gibt, die eine gegenteilige Interpretation nahelegen, lässt sich darin ein Schlüssel sehen, der den verborgenen Zusammenhang von autobiographischen und trotzdem unzuverlässigen Eigenschaften des Erzählers öffnet. Von Mängeln seiner Figuren kann Walser ja nur sprechen, wenn er einen Maßstab voraussetzt, an dem gemessen die Einstellungen und Verhaltensweisen der Figuren als Mängel zu qualifizieren sind. Man kann demnach feststellen, dass sich kein werkinterner Maßstab ausmachen lässt und die Axiologie von Kristleins Opportunismus insofern ambivalent ist. Wenn man der Bewertung seiner Einstellung allerdings einen an der Autorposition orientierten werkexternen Maßstab zugrunde legt, lässt sich die Ambivalenz zugunsten der Zuschreibung axiologischer Unzuverlässigkeit an Kristlein auflösen.

Eigennutz ist Kristleins zentrale Norm, der er sein Handeln unterwirft. Dass er ihn auch bei anderen am Werk sieht, dient ihm nur dazu, ihn bei sich selbst zu legitimieren. Seine Fähigkeit, andere zu durchschauen, nutzt er nicht, um eine Besserung herbeizuführen. Darin besteht seine axiologische Unzuverlässigkeit. Und selbst wenn man die kontrafaktische Annahme machte, dass das Welt- und Menschenbild des Romans (bzw. Walsers) derart ist, dass Welt und Menschen wesentlich amoralisch und damit unverbesserlich sind, kann man Kristlein axiologische Unzuverlässigkeit zuschreiben, weil sein amoralisches Verhalten ja nur als solches zu erkennen ist vor dem Hintergrund eines moralischen Maßstabs, dessen weit verbreitete Gültigkeit auch von Walser sicher nicht bezweifelt wurde und der daher stets mitzudenken ist. Leugnete man die Relevanz dieses Maßstabs für Kristleins Verhaltensschilderungen, wäre vieles davon bedeutungslos. Aber es ist ja gerade der Witz eines Teils von Kristleins Ergüssen, dass man erkennt, dass die Gesellschaft ebenso wie er selbst verlogen handelt. Selbst also wenn man sich den Autor als Zyniker dächte, der die Verworfenheit der Welt, die er schildert, weniger kritisiert als akzeptiert, gehört es zu dem vom Roman präsentierten Gesellschaftsbild, dass der Leser sie als verworfene erkennen soll.

Auch wenn man angesichts von Walsers späterer Entwicklung heute häufig ein anderes Bild von ihm hat, scheint mir die gesellschaftskritische Grundierung dieses und anderer früher Romane nicht von der Hand zu weisen zu sein.Footnote 63 Manchmal liest man, Walser habe dem gesellschaftskritischen Interpretationsansatz widersprochen. Allerdings verstehe ich seinen Hinweis so, dass für ihn das Missverständnis darin liegt, dass man Kristlein fälschlicherweise für den Urheber der Kritik hält: „Ach ja, Anselm, dich haben sie unter anderm auch für einen Gesellschaftskritiker gehalten“ (Walser 1981, 257). Nicht Kristlein ist der Kritiker, sondern Walser.

Was der Roman mit Hilfe seines Erzählers durchspielt, ist nur vordergründig deskriptiv: Kristlein beobachtet das Verhalten der Menschen seines neuen Milieus und passt sich dem an. Er durchschaut die Prozesse der Umdeutung und ist insofern als zuverlässig einzustufen. Axiologisch unzuverlässig ist er jedoch insofern, als er seine Anpassung und damit seine Korrumpierung als einzige bzw. selbstverständliche Verhaltensoption darstellt, die das Milieu, in dem er sich bewegt, zulässt.

(ii) Kristlein ist ein notorischer Ehebrecher. Wie verhält sich Kristlein den Frauen gegenüber allgemein? Welche Einstellung zeigt sich in seinen Äußerungen? Neben seiner Ehefrau Alissa hat Kristlein mehrere Geliebte. Inwieweit das Streben nach sexueller Bedürfnisbefriedigung im Rahmen des Werks moralisch zu reglementieren ist, lässt sich nicht einfach bestimmen. Man könnte Kristleins Unzuverlässigkeit in Bezug auf seinen Umgang mit den Frauen darin erblicken, dass er ein weitgehend instrumentelles Verhältnis zu ihnen hat. Für ihn sind sie Objekte mit unterschiedlichen Funktionen. So unterscheidet sich seine Ehefrau in ihrer Funktion von den Geliebten darin, dass sie die Familie versorgt, während die Geliebten für sexuelle Lust und Befriedigung sorgen. Unzuverlässig ist Kristlein diesbezüglich aber nicht, weil er über die axiologische Einschätzung seines Verhaltens und seiner Einstellung weder die Adressaten hinwegtäuscht noch sich selbst. Es ist zwar nicht so, dass er sich im Lichte eines Wertmaßstabs moralisch ruchlosen Verhaltens bezichtigte, aber er gibt hier eben auch nichts zu verstehen, das man als Beschönigung oder dgl. auffassen könnte.

Kristlein will gleich am Abend des ersten Tages nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus, an dem er ohnedies nur zu den Essenszeiten zu Hause ist, zur Verlobungsfeier seines Freundes Josef-Heinrich gehen. Er weiß, dass das ein Schlag ins Gesicht seiner Frau ist, aber die Abwechslung, die das Zusammensein mit den Freunden verspricht, ist die größere Attraktion als ein ruhiger Abend mit der bildungsaffinen Professorentochter Alissa. Um sein Fernbleiben am Abend zu legitimieren, erfindet Kristlein einen Grund, der aus der simplen (egoistischen) Bedürfnisbefriedigung eine (im Hinblick auf die Familie altruistische) Pflicht machen soll. Da er gerade seine Arbeit verloren habe, so Kristleins Argumentation, müsse er bei Josef-Heinrich Edmund treffen, der ihn dorthin angeblich hinbestellt hat, um mit ihm über eine künftige Zusammenarbeit zu reden, deren finanzieller Ertrag das Familieneinkommen retten soll. In Wahrheit hatte Kristlein dies bereits am Nachmittag mit Edmund besprochen. Er müsste also deswegen nicht noch einmal aus dem Haus. Am Ende lässt sich Alissa von dem vermeintlichen Pflichtgefühl ihres Mannes täuschen und gibt nicht nur nach, sondern scheint sogar Einsicht in die Dringlichkeit seines Vorhabens zu zeigen. Kristleins Handlung ist moralisch mehr als fragwürdig, aber er täuscht damit eben nur Alissa, nicht aber die extradiegetischen Adressaten (vulgo: Leser) oder sich selbst.

Anders verhält es sich in den als imaginierter Dialog mit Gaby inszenierten Reflexionen, die Kristlein anlässlich seines Besuchs bei der früheren Geliebten anstellt. Er zeigt sich hier nicht nur als unverhohlener Chauvinist, sondern zugleich als jemand, der das soziale und sexuelle Rollenspiel in seiner amoralischen Natur durchschaut. Was heute als plattes Vorurteil gilt, war damals vermutlich Gemeingut.Footnote 64 Daher war Kristleins Chauvinismus Frauen gegenüber für zeitgenössische Leser an dieser Stelle nicht unbedingt als Vorurteil zu erkennen.Footnote 65 Trotzdem kann es so gemeint sein – und war auch so gemeint, wenn man Walser glauben darf. Auf das Frauenbild angesprochen, das seine Romane durch ihre weiblichen Figuren vermitteln, wehrt sich Walser gegen den Eindruck, dass die negative Figurenzeichnung etwas mit der Eigenschaft, weiblich zu sein, zu tun habe. Vielmehr falle das Urteil auf den Erzähler zurück: „Das hat für mich nichts damit zu tun, daß es Frauenfiguren sind, verstehen Sie. Da, wo die Hauptfigur so unflätig sich ausbreitete, da waren eben auch die Frauen unter den Zukurzgekommenen“ (Walser/Totten 1981, 39).

Auch im Roman wird das Frauenbild, das Kristlein vermittelt, widerlegt. Dass Frauen ebenfalls eigene Bedürfnisse und Vorstellungen haben, die von Kristlein gerade nicht in Betracht gezogen werden, kommt in dem letzten Kapitel des ersten Teils zum Ausdruck, in dem Alissas Tagebuch ausführlich direkt zitiert wird (H, 350–375). „Das Bild, das Alissa hier von sich selbst entwirft, läßt sie völlig anders erscheinen, als sie durch Anselms Augen gesehen wird“ (Waine, 1980, 71). Selbst wenn die Normen, die in Alissas Ausführungen aufscheinen, auch nicht verbindlich für das Werk wären, bleibt doch die Diskrepanz zwischen ihrer Perspektive und derjenigen ihres Mannes bestehen, so dass Kristlein zumindest in der Einschätzung seiner Ehefrau fehlschlägt. Man kann deswegen sagen, dass Kristlein im Verhalten gegenüber Frauen, anders als im Verhalten gegenüber Lissa, völlig in seiner Welt gefangen ist. Obgleich er ansonsten ein Spezialist für Selbsttäuschungen ist und auch sich selbst oft einbezieht, versagt er doch bei der Einschätzung fremder Perspektiven. In den Fällen, in denen ihm das entgeht und er es so darstellt, als lägen die anderen falsch, ist er als unzuverlässig zu erachten.

Dies wird noch an einer weiteren weiblichen Figur deutlich. Neben den alten Geliebten und der neuen Geliebten Susanne ist eine weitere weibliche Figur wichtig für Kristlein: Melitta, die Tochter seines Friseurs Flintrop, die er aus seiner Jugend kennt und mit deren jugendlichem Anblick er – ganz sicher ist es nicht, ob seine Erinnerung ihn nicht trügt – eine Art Initiationserlebnis verbindet. Krumbholz (1980, 70) stellt fest, dass Melitta eine „Projektion“ Kristleins ist, „quasi der Inbegriff alles Weiblichen, das Anselm ‚anzieht‘ und zum Handeln motiviert“. Da er jedoch nur sehe, was er sehen wolle, erkenne er ihren wahren Charakter nicht. Erst ganz am Ende offenbare sie ihr auf Familiengründung ausgerichtetes mütterliches, d. h. für Kristlein biederes, unweibliches Wesen, das überhaupt nicht seinen erotischen Vorstellungen von idealer Weiblichkeit entspricht.

Mit Bezug auf Melitta kann man Kristlein auch mimetische Unzuverlässigkeit unterstellen, weil er ihr wahres Wesen den Roman über nicht zur Kenntnis nimmt. „There is an inherent difference between the Melitta of Anselm’s experiences depicted in the novel and the the Melitta of Anselm’s memories and dreams who plays so large a role in the consciousness of the narrating Anselm. As the novel progresses, these discrepancies become increasingly apparent and lend narrative tension to the work“ (Pickar 1971, 50). In den jeweiligen Passagen wird deutlich, dass er Melitta nicht gut kennt und sie vor allem nach ihrem Äußeren und ihrer Ausstrahlung beurteilt. Melitta durchzieht den Roman von vorn bis hinten, wenn auch mit großen Lücken, und ist, qualitativ gesehen, alles andere als ein Randmotiv.Footnote 66 Kristleins Irrtum ist nicht ganz leicht zu erkennen, weil dies durch die Verteilung über den gesamten Roman einen gewissen Anspruch an die Fähigkeit zur Kohärenzbildung stellt. Aber er hält den Roman gewissermaßen zusammen und erlangt dadurch ein besonderes Gewicht. Außerdem fügt er sich in die Reihe von irrigen Gedanken und Einstellungen, die Kristlein im Roman hat. Selbst wenn das Melitta-Motiv die einzige Anomalie wäre, reichte es durch seine hohe Signifikanz für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit an Kristlein hin. In der Verbindung mit anderen Irrtümern oder fragwürdigen Äußerungen zeigt es obendrein einmal mehr Kristleins Unfähigkeit, von seinen unmittelbaren (hier: erotischen) Bedürfnissen abzusehen, an dieser Stelle eben mit der Folge, Melittas familiäre Instinkte und damit ihr wahres Wesen zu verkennen.Footnote 67

(iii) Walsers Roman gehört zu den Werken, in denen der Umgang mit dem Nationalsozialismus in der damaligen Gegenwart verhandelt wird. Diese Verhandlung findet auf mehreren Ebenen statt. Auf der Vergangenheitsebene betrifft sie die Verstrickung von Familienmitgliedern, namentlich von Kristleins Onkel Gallus, der ihn mit seiner Mutter nach dem Tod des Vaters bei sich aufgenommen hat; auf der Gegenwartsebene wird Kristlein, der selbst als Soldat im Krieg war, mit einem Opfer, nämlich Susanne, und mehreren Tätern konfrontiert.

Auf den ersten Blick scheint sich Kristlein in seiner Darstellung dieser Leute treu zu bleiben. Er durchschaut und dokumentiert den verlogenen Umgang mit den Tätern, die wie etwa der ehemalige SD-Offizier und jetzige Verkaufsleiter des Frantzke-Konzerns Dr. Fuchs völlig unbehelligt ihrer Arbeit nachgehen. Nicht nur wissen alle um seine Vergangenheit, er bekennt sich während des bereits erwähnten Meetings in bestenfalls zynischer Weise zu Goebbelsʼ Propagandazielen: „Schön, sagte Dr. Fuchs, nachdem da alle mit Dr. Goebbels und mir übereinstimmen, denn es war Goebbels, den ich da zitierte, können wir nun zu den Details kommen“ (H, 421). Recht deutlich werden hier die Werbemethoden für ein ideologisch unverdächtiges Produkt wie Zahnpasta mit den Propagandamethoden der Nazis parallelisiert, und zwar nicht nur in dem trivialen Sinne, dass es beiden Akteuren – den Nazis wie dem Wirtschaftskonzern – um eine möglichst große Reichweite bzw. Breitenwirkung geht, sondern auch in dem Sinne, dass die Werbung ein amoralisches Verhältnis zu ihren Adressaten hat, indem es zum einen darum geht, ein altes Produkt als neu zu verkaufen, und zum anderen darum, allererst ein spezielles Bedürfnis für genau diese Zahnpasta zu erzeugen. In Dr. Fuchs wird diese Parallelisierung personifiziert, der im Übrigen nicht der einzige exponierte Nazi bei Frantzke ist. Der Roman dokumentiert auf diese Weise die Kontinuität zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik, wie sie auf der mittleren Hierarchieebene in vielen gesellschaftlichen Bereichen, hier eben im Wirtschaftsbereich, gang und gäbe war.

Aber er leistet noch etwas mehr. Kristlein registriert die offene Anwesenheit von Nazis eher unfreiwillig, indem er seinen Freund Edmund zitiert, und kommentiert sie selbst auch nicht. Im Gegenteil, er findet die Kontinuität gar nicht schlimm, wie sich in einem kleinen Dialog mit Edmund zeigt. „Irgendwo müßten diese Leute ja auch bleiben, sagte ich“ (H, 415). Darauf entgegnet Edmund: „Denen ist es egal, ob sie ne Judenaushebung in Ungarn […] oder den Verkauf von Hühnerkonserven managen, sie erledigen alles bestens“ (ebd.). Durch diese kritisch-polemische Einlassung bringt Edmund den wohl für den Roman gültigen axiologischen Maßstab (für die Beurteilung von Nazis in der deutschen Nachkriegsgesellschaft) in den Text ein, von dem Kristlein in signifikanter Weise abweicht. Kristleins Antwort ist nämlich für ihn bezeichnend: „Eben, sagte ich, dann ist es doch besser, man setzt sie auf Hühnerkonserven an“ (ebd.). Wer wollte ihm da widersprechen. Nur entgeht ihm, dass diese Leute in ihrer Zeit als Nazi-Funktionäre sich eben leider nicht um Konserven gekümmert haben. Offenbar weil ihn seine Antwort selbst nicht ganz befriedigt, schiebt Kristlein schnell hinterher: „Dachte an Susanne und sagte rasch: oder man hängt sie gleich auf“ (ebd.). Auch das ist bezeichnend, denn es verdeutlicht einmal mehr, dass Kristleins moralische Bewertungen abhängig sind von seinen unmittelbaren Bedürfnissen. Mit seiner Ergänzung zeigt er, dass er seine erste Antwort irgendwie unangemessen findet, aber er korrigiert sie nicht aus innerer Überzeugung, sondern indem ihm das, was ihm gerade im Kopf herumschwirrt (der Gedanke nämlich, die Jüdin Susanne ins Bett zu bekommen), die zweite Antwort diktiert. An dieser Stelle offenbart sich gerade in der Gegenüberstellung mit Edmund Kristleins axiologische Unzuverlässigkeit mit Bezug auf diesen Themenbereich.Footnote 68

Ähnlich verhält es sich auch an früherer Stelle. Wiederum ist Edmund beteiligt, der Josef-Heinrichs Verlobte, eben die Jüdin Susanne, ohne ihr Wissen um dessen Vergangenheit mit dem ehemaligen SS-Oberscharführer Justus konfrontiert. Schon als Kristlein diese Figur einführt, tut er das in einer Weise, die man nicht anders als mimetisch unzuverlässig charakterisieren kann, weil er zu verstehen gibt, dass er Justusʼ wahre Motive für seinen angeblichen „Tic“ (H, 300) nicht durchschaut. Dieser besteht darin, keine Fremdwörter zu gebrauchen, sondern alles einzudeutschen, selbst „Telephon“ und „Büro“, die Justus nur als „Fernsprecher“ und „Schreibstube“ kennt (H, 299 f.). Oft stellt sich Justus einfach dumm und tut so, als verstehe er ein Fremdwort nicht – das ist, was Kristlein bewegt, denn er überlegt, ob Justus es wirklich nicht kenne oder ob es eben eine Marotte von ihm sei. Damit führt er seine Adressaten ähnlich in die Irre wie schon mit seiner oben zitierten Bemerkung, dass das Produzieren von Konserven immerhin besser sei als das Deportieren und Umbringen von Juden. Wenn seine Bemerkung dort von der Schuldfrage ablenkt, führen seine Mutmaßungen hier weg von der Einstellung, die sich hinter Justusʼ Fremdwortphobie verbirgt: nämlich linguistische Reinheitsvorstellungen, die dem biologistischen Rassismus entstammen. Kristlein nimmt die Ideologie eines unverbesserlichen Nazis nicht zur Kenntnis und verniedlicht sie unfreiwillig.

Im Anschluss daran zeigt sich Kristleins Unzuverlässigkeit erneut. Als Edmund Susanne offenbart, mit wem sie es zu tun hat, provoziert er einen Skandal. Das geschieht auf ihre Kosten, aber nicht sie ist das Ziel der Provokation, sondern laut Krumbholz (1980, 61) eine Tabuverletzung, die darin besteht, das, was in der Nachkriegsgesellschaft normalerweise verschwiegen wird (nämlich die angesprochene Kontinuität von nationalsozialistischen Vorstellungen, als sei nichts gewesen, als hätte die Judenvernichtung nicht stattgefunden), durch die Konfrontation des jüdischen Opfers mit dem Täter offenbar werden zu lassen. Und wieder ist es Kristleins Reaktion, die als unzuverlässig bezeichnet werden muss, weil sie ihn als einen entlarvt, der sich über die Verletzung des Tabus empört und es damit bestätigt, anstatt sich über das eigentlich Skandalöse zu empören, nämlich dass jemand wie Justus unbehelligt, als sei eben nichts geschehen, seine Existenz fortführt und dabei auch noch blöde Scherze macht.

Wie verhält sich nun dieser Befund zu der These zum latenten Antisemitismus von Martin Walsers Werk (vgl. Lorenz 2005)? Dies kann hier nicht umfassend diskutiert werden, aber mit Bezug auf den Roman Halbzeit kann man schon einige Schlüsse ziehen. Lorenz sieht in Halbzeit bestimmte Einstellungen vorgezeichnet, die sich später auch in Walsers Essayistik deutlicher artikulieren, so auch der Umgang mit der Schuldfrage. Im Roman wird dieser Problemkomplex an der Figur des Dr. Fuchs verhandelt, der später doch noch für seine Verbrechen belangt wird (von denen seine Kollegen nichts gewusst haben wollen). Lorenz sieht eine Kontinuität zwischen den Reaktionen, die Walser seinen Kristlein haben lässt, und Walsers späteren Äußerungen über die Schuldfrage in der tendenziellen Exkulpierung nicht nur von Mitläufern, sondern auch von Mittätern, die lediglich Befehlsempfänger waren: „Anselm und Edmund plädieren […] für die stille Absorption der Täter in der Masse“ (Lorenz 2005, 264).

Wie jedoch gerade herausgearbeitet wurde, trifft diese Einstellung nur auf Kristlein zu – Edmund ist es ja gerade, der durch seinen Hinweis auf die monströse Amoralität der Täter diese „Absorption“ erkennbar macht und dadurch dem Leser als Objekt anbietet, sich gegen die Exkulpierung der Täter zu wehren. Die Haltungen von Kristlein und Edmund zu identifizieren erscheint mir aus diesem Grund nicht angemessen, und wenn man die Unterschiedlichkeit ihrer Reaktionen auf Leute wie Dr. Fuchs oder Justus in Rechnung stellt, dann kann man Kristlein eigentlich nicht die axiologische Autorität über das Werk zuschreiben.

Man könnte nun einwenden, dass auch Edmund letztlich nur ein Zyniker sei und auch nicht das letzte Wort über die gesamte Axiologie des Textes habe. Das ist wohl richtig, aber in dieser Frage ist entscheidend, dass er eine Beobachtung artikuliert, zu der sich Kristlein in einer Weise verhält, die ihn erstens von Edmund axiologisch unterscheidbar macht und ihn zweitens diskreditiert, weil Edmund etwas problematisiert, das Kristlein gar nicht als Problem anerkennt. Zudem ist dies nicht die einzige Textstelle, aufgrund deren Zweifel an Kristleins Haltung angebracht sind. Schließlich muss man auch ästhetische Überlegungen in Rechnung stellen, denn es entsprach sicher nicht den ästhetischen Überzeugungen des Autors, seine literarischen Texte mit ideologisch eindeutigen Botschaften auszustatten. Im Gegenteil, es ging darum, eine kritische Grundhaltung literarisch zu gestalten, ohne definitive Antworten auf moralische Fragen zu präsentieren.Footnote 69 Das zog die Darstellung von Vorurteilen nach sich, wie sich an dem Roman unschwer erkennen lässt, und Walser machte auch nicht davor halt, seinen Erzähler ebenfalls mit solchen Vorurteilen auszustatten.

Nach Lorenz ist der Roman außerdem voll von antisemitischen Klischees. Die Frage ist, ob diese Motive im Roman eine Funktion haben und damit die Figuren charakterisieren bzw. diskreditieren oder ob sie vom Autor lediglich gedankenlos reproduziert werden. Teilweise haben Forschungsarbeiten Funktionen herausarbeiten können. Sie dienen dazu, den gesellschaftlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit zu kritisieren (vgl. Doane 1979, 40–47). Das betrifft vor allem solche Passagen, in denen Kristlein sich als Erzähler zurücknimmt und Ereignisse schildert, weitgehend ohne sie zu kommentieren oder zu bewerten. Ein Beispiel ist, dass die Schuld für ein Verbrechen bei „Juden“ vermutet wird (H, 748), wobei diese Verdächtigung in einer Reihe mit weiteren Vermutungen über die Etikettierung der Täter steht.Footnote 70 Durch diese Art der Funktionalisierung dürfte aber klar sein, dass der Autor sich nicht mit diesen Klischees identifiziert, sondern sich von ihnen distanziert.

Problematisch sind aber nicht diese Passagen, sondern jene, die nahelegen, dass Kristlein selbst solche Klischees bedient, und zwar zunächst ohne erkennbare kritische Zielsetzung. So ist es sehr auffällig, wie er Susannes Nase beschreibt. „Die Verweise auf eine gebogene, auffallend große Nase, dem Inbild antisemitischer Judendarstellungen, sind hier kaum zu übersehen“ (Lorenz 2005, 267). Lorenz (ebd., 266) zitiert vorher selbst eine längere Passage, in der es um die Hakennase von Kristleins opportunistischem Onkel Gallus mit Nazi-Vergangenheit geht, in der die Absurdität des Klischees vorgeführt wird. Auch daraus lässt sich, so meine ich, die Funktionalisierung des Klischees ableiten, das im Fall von seinem penetranten Hinweisen auf Susannes Nase dazu dienen könnte, Kristleins eigene Wahrnehmung als von Klischees gesteuert darzustellen. Höhepunkt der Susanne-Handlung ist der Beischlaf in Kristleins neuem Auto in der Gegend von Atzengrund, und ausgerechnet dabei wird Kristleins Antisemitismus explizit angesprochen und implizit verhandelt. In Anspielung auf ihr Gespräch zuvor nennt Susanne Kristlein einen Antisemiten, wobei durchaus offenbleibt, wie sie das meint, vermutlich eher ironisch.

In der beiläufigen und verqueren Weise, in der man spricht, wenn man zum Beispiel gleichzeitig die Schuhe schnürt oder zum vierten Mal ansetzt, einen Hemdknopf in das beim Waschen eingegangene Knopfloch zu zwängen, in dieser abgeschwächten, dekonzentrierten, von der Mühe des Hantierens beeinflußten Sprechweise, sagte Susanne, die beschäftigt war: ja, ja, Anselm, Du Antisemit. (H, 712)

Aber Kristlein ist es ernst. Er greift das anschließend in einem Selbstgespräch auf, das während des Vorspiels im Fond seines Autos stattfindet. Laut seinem inneren Dialogpartner hegt er ein „Schuldgefühl“ (H, 715), und Kristlein fragt sich, ob er deswegen lieber von ihr ablassen solle: „Glaubt sie dann erst recht, ich sei ein Antisemit, oder sagt sie: das ist ein Mann, dem bin ich anscheinend wirklich was wert“ (H, 714). Auch an dieser Stelle kann man wieder Kristleins Narzissmus beobachten, der das eigentlich Skandalöse des Antisemitismus ignoriert und ihn stattdessen nur als Funktion im Hinblick auf sein Ziel betrachtet. So ist es auch, als er Alissa Antisemitismus vorwirft, nachdem sie, von Eifersucht gepackt, Susanne „eine jüdische Hure“ genannt hat (H, 729). So verkürzt zitiert, könnte das gegen Alissa sprechen. Aber der wahre Antisemit ist Kristlein selbst, der das Jüdischsein Susannes instrumentalisiert, um sein Interesse für sie vor Alissa zu rechtfertigen: „SIE ist Jüdin, ein armes Mädchen, man muß sich um sie kümmern“ (ebd. [Hervorh. i. O.]). Er vergleicht Alissas katastrophenloses Leben mit dem von Susanne, und da „leuchtet es plötzlich in Anselm auf, Antisemitismus ist das [was Alissa äußert]“ (ebd.). Darauf antwortet Alissa: „Eine Hure, sagt Alissa, Jüdin sei keine Entschuldigung, dann eben eine jüdische Hure, da sprang Anselm auf, da stand er bei ihr, da war er empört“ (ebd.).

Die völlig sachfremde Verbindung von Susannes Jüdischsein mit dem Fremdgehen (sie ist ja zu dem Zeitpunkt noch mit Josef-Heinrich verlobt) war nicht Alissas, sondern Anselms Idee, der sich auch hier wieder insofern als unzuverlässiger Erzähler erweist, als er Susannes Eigenschaft, jüdischer Herkunft zu sein, dazu missbraucht, erstens seinen eigenen Fehltritt schönzureden bzw. mit einer akzeptableren Motivation als Geilheit zu versehen und zweitens Alissas wütende Reaktion moralisch zu delegitimieren.

Die Instrumentalisierung jüdischen Leids ist tatsächlich ein Thema, das Walser bekanntlich auch später noch bewegt hat. Worauf es hier jedoch ankommt, ist, dass jedenfalls nicht alle Motive, die sich im Themenkreis deutscher Schuld und Antisemitismus bewegen, im Roman funktionslos reproduziert und schon gar nicht affirmiert werden. Sie dienen vielmehr dazu, Kristleins ichbezogenen Charakter darzustellen. Der Streit mit Alissa kulminiert sogar in häuslicher Gewalt. Kristlein schlägt seine Frau zweimal, um seiner Empörung Nachdruck zu verleihen und um ihren Vorwurf, dessen (vermeintlich) unberechtigte Infamie ihn zu diesem rabiaten Mittel zwingt, auf diese Weise zu entkräften. Vergeblich übrigens.

Auch wenn man mit dem Hinweis auf die vielen axiologischen Anomalien im Text zu dem Schluss kommt, dass die Zuschreibung axiologischer Unzuverlässigkeit an Kristlein gerechtfertigt ist, führt das nicht zwangsläufig dazu, die Kontinuitäten, die Lorenz sieht, zu negieren. Aber es ist – mit Bezug auf Halbzeit – zumindest unangemessen vereinfachend zu behaupten, in diesem Roman fänden sich Überzeugungen (sowie antisemitische Stereotype) vorbereitet, die Walser später offen artikuliert und elaboriert. Ja, durchaus, kann man nun kommentieren, aber diese Überzeugungen und Stereotype werden zumindest in diesem Roman nicht affirmativ übernommen und auch nicht absichtslos reproduziert, sondern funktionalisiert, um den Erzähler als integralen Bestandteil der verdrängenden und sich selbst belügenden Gesellschaft vorzuführen. Das ist nicht so leicht zu erkennen, da er selbst seine Umgebung beständig zu durchschauen scheint, was ihm eine gewisse Glaubwürdigkeit verleiht, und weil manchmal nicht ganz deutlich wird, ob er ironisch oder unzuverlässig spricht. (Dass das romanästhetisch vielleicht nicht gelungen ist, weil Kristleins Unzuverlässigkeit im Vergleich mit seiner Zuverlässigkeit unterzugehen droht, steht auf einem anderen Blatt.) Es ist jedoch ein Clou des Romans, dass Kristlein eben auch Vorurteilen unterliegt, ohne sie als solche zu erkennen.

4.4 Zur Funktion von Kristleins Unzuverlässigkeit

Zusammengefasst besteht die spezielle axiologische Unzuverlässigkeit des Erzählers Anselm Kristlein in Halbzeit darin, dass sie mit einer Vielzahl von zuverlässig gemeinten Beobachtungen, die Kristlein anstellt, verwoben ist. Charakteristisch für ihn ist, wie dargelegt, dass er die Verlogenheit gesellschaftlicher Praktiken durchschaut. Das macht ihn auf den ersten Blick zuverlässig. Dieser Zug deckt sich mit dem emanzipatorischen Ansinnen, das man einem Autor der Gruppe 47 im Jahr 1960 im Allgemeinen und Walser im Besonderen aufgrund seiner damaligen politischen Überzeugungen zuzugestehen tendiert. Das macht es aber zugleich schwierig, Kristleins partielle Unzuverlässigkeit zu erkennen.Footnote 71 Sie besteht zum einen darin, die Verlogenheit der anderen nur als Rechtfertigung für den eigenen Opportunismus zu benutzen; zum anderen darin, dass er von axiologischen Maßstäben signifikant abweicht, die im Roman offensichtlich in Kraft sind, indem sie von anderen Figuren artikuliert werden (Alissa mit Bezug auf Rücksicht und Empathie im zwischenmenschlichen Bereich und Edmund mit Bezug auf das Verhältnis zum Nationalsozialismus).

So weit sieht das Ergebnis eindeutig aus. Die Fülle der Anomalien zeigt, dass es sinnvoll und gerechtfertigt ist, Kristlein als unzuverlässigen Erzähler vor allem in axiologischer, in geringem Umfang aber auch in mimetischer Hinsicht zu betrachten. Was drückt sich in dieser Unzuverlässigkeit aus? Es ist nicht so, dass Kristlein als rein negativer Held konzipiert ist, der eine verworfene Gesellschaft repräsentiert. Stattdessen ist davon auszugehen, dass Kristlein als Produkt der Gesellschaft zu sehen ist, in der er sich bewegt. Dafür gibt Walser selbst deutliche Hinweise, etwa in dem Essay „Imitation oder Realismus“: „Die Gesellschaft […] ruft ab, was sie braucht, sie befördert oder hemmt, macht uns zu Mördern und dann zu bewußtlosen Wirtschaftsbürgern, die vor der drohenden Konkurrenz die Vergangenheit wirklich vergessen können“ (Walser 1965 [1964], 90). Halbzeit bildet nicht die Gesellschaft als ganze ab, sondern nur einen Ausschnitt. Daher lässt sich das amoralische Verhalten, das diesen Teil der Gesellschaft auszeichnet, nicht auf die ganze Gesellschaft übertragen. Es bleibt also dabei, dass es nicht nur möglich, sondern auch tunlich ist, einen moralischen Maßstab an das Verhalten der Figuren wie des Protagonisten anzulegen, der im Roman selbst fehlt, und ihm aufgrunddessen axiologische Unzuverlässigkeit zuzuschreiben.

Wenn der Einzelne als Produkt des Milieus aufgefasst wird, das ihn umgibt, dann hat dieses Menschenbild Walsers allerdings die Konsequenz, dass die moralische Verantwortung des Einzelnen eben an die Umgebung delegiert wird. Im selben Essay äußert er sich auch zur Frage nach nationalsozialistischen Überbleibseln in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, wie er sie bereits in Halbzeit zuvor aufgeworfen hat: „Wer im Völkischen Beobachter schrieb und heute wieder schreibt, nur jetzt ganz anders, das ist doch ein und derselbe Mann, aber er ist anderen Situationen ausgesetzt, er kann eine andere Seite seines Charakters zeigen, eine damals verschüttete, damals nicht gefragte oder sogar verbotene“ (ebd., 87). Wiederum geht es ihm um die Umstände, von denen er glaubt, dass sie einen Menschen in seinem moralischen Verhalten festlegen. „Ich finde nichts glaubwürdiger als etwa die Auskunft, daß einer jetzt nicht mehr begreift, was er damals tat, oder daß er es begreiflich zu machen versucht bloß durch Schilderung aller Umstände“ (ebd., 88).

Solche Formulierungen klingen nach Relativierung. Es hört sich an, als übe Walser Nachsicht selbst gegenüber NS-Verbrechern. Allerdings sind diese Äußerungen recht zweideutig wie die gesamte Passage, aus der sie stammen. Es geht hier nicht um moralische oder gar juristische Fragen, sondern um die Vielgestaltigkeit des Individuums. Walsers Auffassung einer Person ist fluide, wie er in einem späteren Interview bestätigt: „Daß man sehr abhängig und vor lauter Zusammengesetztheit kaum zu taufen ist, glaube ich immer noch“ (Walser 1984, 437). Er billigt dem Einzelnen zu, gut und böse zu handeln, je nach den Umständen, in denen er sich bewegt. Das ist letztlich die Funktion auch von Kristleins Unzuverlässigkeit. Walser zeigt in Kristlein menschliche Schwächen. Ohne die Bezogenheit auf einen moralischen Maßstab könnten diese Eigenschaften Kristleins, sein Opportunismus vor allem, gar nicht als Schwächen oder Mängel angesprochen werden. Und selbst wenn nicht nur der Ausschnitt der Wirtschaftselite, sondern die gesamte Gesellschaft so funktionierte, wäre dies keine moralische Rechtfertigung dieser Verhaltensweisen. Um diese Interpretation zu widerlegen, müsste man zeigen können, dass Walsers Welt- und Menschenbild explizit moralische Normen ausschließt bzw. dass die amoralische Wirklichkeit die Bedeutung moralischer Normen nivelliert.

Es stellt sich noch die Frage danach, wie Walser mit Kristleins Unzuverlässigkeit in den Folgebänden umgegangen ist. Sie ist schnell zu beantworten. Offenbar im Einklang mit den allgemeinen Tendenzen, wie sie zu Beginn dieses Kapitels skizziert wurden, rückt die Mimesis-Problematik in den beiden jüngeren Romanen stärker in den Vordergrund. Nicht umsonst lässt Walser seinen Helden Schriftsteller werden, der nach Veröffentlichung eines Schlüsselromans den Auftrag für ein Buch über die Liebe erhält. Daher verlagert sich die Problematik. Zugleich nähern sich Kristlein und sein Autor einander an (vgl. Werth 1970 [1966], 246), was ebenfalls die Bedeutsamkeit des unzuverlässigen Erzählens verringert.

5 Reduzierte Intelligibilität in Peter Handkes Die Hornissen (1966)

5.1 Zwei alternative Deutungsansätze

Handkes Prosa der 1960er Jahre war noch nicht in dem Maße erfolgreich wie seine späteren Werke seit der Publikation von Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970). Das hängt sicherlich damit zusammen, dass es nicht so leicht ist, hermeneutischen Zugang zu ihnen zu finden. Der frühe Handke ist beeinflusst von der modernen österreichischen Literaturszene, welche „im Kontext einer von Wittgensteins Sprach- und Erkenntnisskepsis bestimmten Reflexion […] zu methodischen Erzählansätzen“ gefunden hat, „die vom Widerspruch gegen die vertraute epische Fiktion und die mimetische Verdichtung von Wirklichkeit bestimmt sind“ (Durzak 2006 [1994], 628). Insbesondere die beiden Romane Die Hornissen (1966) und Der Hausierer (1967) zeichnen sich durch eine zumindest vordergründige Fabellosigkeit aus. Mit Bezug auf den letzteren Roman hat Handke (1967) dieses Urteil selbst bestätigt, indem er darauf verwies, dass sich keine Geschichte aus dem Roman herauslesen lasse, sondern nur das abstrakte Krimi-Schema. Nicht zuletzt ging es ihm gerade in diesem Werk um die Bloßlegung des literarischen Verfahrens. Unverkennbar steht seiner frühen Literaturkonzeption der russische Formalismus Pate, mit dessen Schriften sich Handke in den gerade erschienen deutschen Übersetzungen vertraut gemacht hatte (vgl. Gschwandtner 2018, 276–279).

Auch Handkes Romandebut Die Hornissen widersetzt sich dem raschen Verstehen.Footnote 72 „Of all Handke’s works, the novel Die Hornissen is by far the most difficult with which to achieve anything approaching an adequate analysis“ (Perram 1992, 144). Es sei nicht nur so, dass die „structural elements are very obtrusive […] to the extent that the plot or story becomes of secondary […] significance“; der Roman habe darüber hinaus „an extremely complex structure, mainly due to the complexity of the narrative technique employed, combined with the mosaic like placement of the episodes which occur in the novel itself“ (ebd., 119). Auch wenn durch diese Struktur, die sich außerdem durch oblique Pronomina, tautologische und paradoxe Formulierungen, indirekte Rede, Perspektivbrüche, auch unvollständige Syntax usw. auszeichnet, die Gesamtkohärenz stark eingeschränkt zu sein scheint, bleiben einige in sich kohärente Episoden übrig. Zudem lässt sich aufgrund von Schlussfolgerungen auf der Basis rekurrenter Motive ein Grundgerüst (re)konstruieren, das von einer Erzählkonzeption der Erinnerung getragen wird, weil der erste und letzte Abschnitt kohärenterweise als „Das Einsetzen der Erinnerung“ bzw. ihr „Aussetzen“ spezifiziert sind (Ho, 7, 276).Footnote 73 Und der vorletzte Abschnitt bietet unter der Bezeichnung „Die Entstehung der Geschichte“ (Ho, 271) gar eine Zusammenfassung, die mit dem, was man aus den vielen losen Erzählschnipseln zusammensetzen kann, übereinstimmt.

Doch auch wenn sich bei vorsichtiger Lektüre einiges rekonstruieren (und nicht nur konstruieren) lässt, geht die Rekonstruktion nicht ganz vorbehaltlos vonstatten, eben weil es Passagen gibt, deren Zusammenhang mit den zentralen Ereignissen weniger gut ersichtlich ist und deren Zuordnung zu einem Zeitabschnitt der erzählten Geschichte infolgedessen bis auf weiteres offen ist. Auch dies wird übrigens im vorletzten Abschnitt bestätigt: „Fortan wechseln in seinem Gehirn die Stellen, an die er sich zu erinnern glaubt, ohne Ordnung durcheinander“ (Ho, 273).

Manche geben sich damit zufrieden und akzentuieren die Unverständlichkeit bei der Interpretation. „It is not possible to find anything other than a minimal story-line in Die Hornissen and even this has to be produced by some form of speculation“ (Perram 1992, 92). Aus diesem Grunde scheint Perram die Glaubwürdigkeit bzw. Zuverlässigkeit des Erzählers in Frage zu stellen. „Because of the constant narrational flux, the resultant ambiguity combined with a lack of faith in the reliability of the narrator, the reader lacks orientation“ (ebd. 149). Der Begriff der reliability wird hier jedoch nicht im technischen Sinne verwendet, sondern soll andeuten, dass es eine unüberwindbare Kluft zwischen Erzählen und erzählten Ereignissen gibt, dass das Erzählen keinen vollständigen Zugang zu den Ereignissen gestattet.Footnote 74

In der wissenschaftlichen Rezeption des Romans stehen sich zwei Positionen gegenüber. Nach der einen lässt sich eine rudimentäre Geschichte erkennen und darauf eine Interpretation gründen, während gemäß der anderen die prinzipielle Unerschließbarkeit des Erzählten im Vordergrund steht. „Whatever solution one finds to the puzzle, there are always pieces left over“ (Darby 1987, 261). Aus diesem Befund wird auf die Sinnlosigkeit jeglicher hermeneutischer Bemühungen bzgl. der Erfassung der erzählten Welt geschlossen. Es „widerspräche der Absicht des Autors […], die vom Autor ‚atomisierte‘ Fabel (Geschichte) zu einem schlüssigen Handlungsganzen zusammenzusetzen“, und stattdessen solle man „erkennen, daß dieser Roman nicht von irgend einer ‚Sache‘ erzählt, sondern ausschließlich und allein vom Romanerzählen selbst“ (Haslinger 1993, 108).

Beide Richtungen sind sich aber darüber einig, dass der Roman durch seine Machart in hohem Maße selbstreferentiell ist und eine „Sprachspielstrategie“ exponiere, die darauf abziele, den „gewöhnlichen Sprachgebrauch als einen nur scheinbar natürlichen nachzuweisen“ (Mixner 1977, 21), bzw. dass der Roman „in large part the description of its own composition“ sei (Darby 1987, 261). Die spezielle Machart des Romans zeige, so kann man mehrere Deutungen zusammenfassen, die tiefe Kluft zwischen Sprache und Welt. Aber es handele sich „nicht nur um die Kritik an der Sprache als Kommunikationssystem, sondern auch um Kritik aller literarischen Systeme“, denn „diese literarischen Verfahren sind auch Verfahren, mit denen wir Wirklichkeit […] erfassen und weitergeben“ (Schmidt-Dengler 1995, 203).

Das Eigentliche, das, worauf es dem Autor ankommt, so meine ich, kann von den Schablonen, die die Sprache, aber auch die Literatur bieten, nicht dargestellt werden. Die Frage ist, ob, wie Haslinger meint, tatsächlich jegliche mimetische Bedeutungssuche deshalb nicht nur vergeblich, sondern auch von vornherein, „ausschließlich und allein“, außerhalb dessen ist, was der Roman sagen will; oder ob es, wie Durzak (1973, 346) schreibt, das Ziel dieser Technik ist, „durch das Zerbrechen einer normierten Sicht […] der Realität des Vorgangs näher zu kommen“. Ich schließe mich letzterem an, weil in dem Roman insgesamt viel zu viel zueinanderpasst, als dass man den mimetischen Aspekt ausklammern könnte, und weil aus diesem Grunde die Annahme einer konsistenten erzählten Welt im Großen und Ganzen ebenso gerechtfertigt erscheint wie die Aufgabe, sich einen Reim auf diese Welt zu machen, und sei es auch nur auf das Bewusstsein, das die Welt zu erschließen versucht.Footnote 75

Da die erkenntniskritische und antikonventionelle Funktion der komplexen Erzählanlage im Wesentlichen unstrittig ist, konzentriere ich mich im Folgenden auf die Frage, nicht ob, sondern wie viel von der erzählten Welt erkennbar ist bzw. wie unverständlich der Text tatsächlich ist. Daher werde ich einen Gutteil dieses Kapitels auf die Rekonstruktion der Sachverhalte verwenden, die man in der erzählten Welt als bestehend annehmen kann. Nur auf dieser Basis lässt sich dann feststellen, ob unzuverlässiges Erzählen vorliegt oder nicht.

Für die Frage nach der Unzuverlässigkeit ist ein avantgardistischer Roman wie Die Hornissen besonders interessant, weil sich an ihm zeigen lässt, inwiefern die Intelligibilität der erzählten Welt und das Erzählverfahren zusammenhängen. Prinzipiell lässt sich vorausschicken, dass der Erzähler keiner ist, der sich dadurch charakterisieren lässt, dass er absichtsvoll etwas Falsches zu verstehen gibt. Stattdessen ist er einer, der um Ausdruck ringt und damit auch um Wahrheit, die jedoch vielleicht nicht in allen Fragen zu haben ist. Wenn überhaupt, liegt seine mimetische Unzuverlässigkeit darin, dass er unabsichtlich Falsches zu verstehen gibt. Da er nicht nur seine Erzählsituation vernebelt und vieles vermischt, sondern möglicherweise auch um das zentrale Ereignis herumerzählt, ohne es benennen zu können, besteht der Verdacht, dass seine Unzuverlässigkeit in der Unfähigkeit besteht, sich mit einem bestimmten Ereignis (oder mehreren) seiner Vergangenheit zu konfrontieren. Er würde durch Verschweigen etwas Falsches zu verstehen geben, sofern er mit dem, was er sagt, zu verstehen gibt, dass damit alles Wesentliche über sich und seine Welt gesagt sei.

5.2 Der Vorwurf der Lüge

Um dasjenige herauszufinden, was der Erzähler nicht erzählt, muss man erst einmal feststellen, was er erzählt. Ehe ich dazu komme, möchte ich zunächst einen Verdacht ausräumen, und zwar den Verdacht, dass der Erzähler möglicherweise in einer ganz robusten Weise unzuverlässig erzählt. Dafür gibt es auf den ersten Blick recht handfest erscheinende Hinweise. Im Roman ist nämlich mehrfach vom Lügen die Rede, etwa in dem Gespräch mit der Schwester (Ho, 223). Aber es gibt noch eine prominentere Textstelle. In einem eigens abgesetzten Satz heißt es am Ende des Abschnitts unter der Bezeichnung „Der Tod der Mutter“: „Gregor Benedikt ist ein Lügner“ (Ho, 126). Gregor ist einer der wenigen Eigennamen, die im Roman genannt werden, und man kann annehmen, dass so der Name des Protagonisten lautet, der zugleich der Erzähler ist. Man muss dabei voraussetzen, dass er von sich nicht nur in der ersten, sondern auch in der dritten grammatischen Person erzählt (und manchmal auch in der zweiten). Der durch seine abgesetzte Position am Ende eines Abschnitts herausgehobene Satz „Gregor Benedikt ist ein Lügner“ könnte sich nun als Signal für die Unzuverlässigkeit des Erzählers verstehen lassen, der Pronomenwechsel als Indikator für eine schizoide Persönlichkeit, deren einer Teil womöglich den anderen Teil der Lüge bezichtigt. Damit wäre der Satz ein Hinweis, aber noch kein Beleg für die Unzuverlässigkeit des Erzählers.

Tatsächlich ist hier wie auch an anderen Stellen nicht klar, aus welcher Quelle der Satz stammt. Zwar verantwortet den gesamten Text der Erzähler, aber es lassen sich mehrere Quellen seines Wissens unterscheiden: Unterhaltungen mit einem seiner Brüder, mit seiner Schwester, auch mit seinem Vater, und nicht in allen Fällen ist das gekennzeichnet. So ist es auch zunächst bei diesem Satz, der vollkommen unvermittelt am Ende eines Abschnitts steht, ohne mit diesem in einem erkennbaren Zusammenhang zu stehen. Da am Anfang des Abschnitts die Schwester als Quelle angegeben wird (Ho, 124), könnte man, wie Durzak (1973, 350 f.), ihr den Satz zuschreiben. Doch das ist ein Trugschluss. Wie sich im anschließenden Abschnitt herausstellt, handelt es sich um einen Wandspruch, der von den Kindern des Ortes auf die Mauer des Kinos geschrieben wurde: „Wer ein Fahrrad am hellichten Tag durch den Ort geschoben hat und auf freche Weise dies leugnet, wird als Lügner bezeichnet. Sein Name prangt an der Mauer des Kinos“ (Ho, 127). Damit wird ein Vorgang aufgegriffen, der in einem früheren Abschnitt geschildert wird: „Das Fahrrad“ (Ho, 58). Die Kinder stellen dem (inzwischen erwachsenen und erblindeten) Erzähler neugierig Fragen zu dem Fahrrad, mit dem sie ihn, den Blinden, gesehen haben. Er leugnet dies, bevor er es doch zugibt. Der zitierte Satz erweist sich also als eine Art Kinderscherz. Die Erklärung dieses Urteils über den Erzähler erhärtet den Verdacht, dass er unzuverlässig erzähle, nicht.

5.3 Erinnerungsversuche des Erzählers

Treten wir aber nach diesem Einstieg in medias res einen Schritt zurück und wenden uns der Frage zu, was sich über die erzählte Welt ermitteln lässt oder, anders gesagt, über welche Sachverhalte der erzählten Welt sich begründet sagen lässt, dass sie bestehen. Durzak (2006 [1994], 628) bestimmt den Roman als eine „Rekonstruktion der fragmentierten Erinnerungswirklichkeit aus der Perspektive eines Erzählers [Gregors], der, auf der Suche nach dem im Fluß ertrunkenen Bruder von einem Bombenangriff gegen Ende des Krieges in einem österreichischen Bergdorf überrascht, sein Augenlicht verliert und sich nun als Blinder, für den Selbsterfahrenes, Gelesenes und Gehörtes ineinander übergehen, zu orientieren versucht.“Footnote 76

So ungefähr könnte der grobe Ablauf sein. Es spricht allerdings mehr dafür, dass Gregor auf der Suche nach dem überlebenden Bruder Hans erblindet ist, weil er noch sehen kann, als der tote Bruder namens Matthias oder Matt, wie er auch genannt wird, nach Hause gebracht wird, während Hans verschwunden bleibt. Dies wird an anderer Stelle sogar explizit bestätigt: „Im November ist es um diese Zeit schon fast dunkel; in einem November, als er seinen Bruder suchte, während der andere Bruder ertrunken unter dem Tuch lag“ (Ho, 228).

Der Erzähler ist am Tag der Rückkehr des überlebenden Bruders, einem Samstag, erblindet, als der tote Bruder schon wieder zuhause war, weil „in allen bewohnten Räumen laut über den Tod des anderen, des ertrunkenen Bruders geklagt ist worden“ (Ho, 252). Den anschließenden Ausführungen zufolge wird der erblindete Erzähler von Soldaten in einem Militärfahrzeug auf den verschneiten Hof gebracht, den der gerade zurückgekehrte Hans fegt, während gleichzeitig auch der Vater, betrunken, zu Hause eintrifft. Alle zusammen gehen in das Haus, in dem der tote Bruder aufgebahrt ist. Damit endet dieser Abschnitt der Geschichte, indem, nach den Worten des Erzählers, „dieser Kreis mit dem Einzug aller ins Haus sich jetzt schließen kann“ (Ho, 258).

Was der Erzähler als „Kreis“ bezeichnet, ist eine Kette von Ereignissen, um die seine Erinnerung eben kreist und deren einzelne Glieder nicht alle mit gleicher Klarheit dargeboten werden. Sie lassen sich aber einem klar abgrenzbaren Abschnitt seiner Kindheit zuordnen.Footnote 77 Der Beginn des Abschnitts wird begrenzt von den Ereignissen, die zum Tod des Bruders Matthias führen, für den Hans (allem Anschein nach) verantwortlich ist, und sein Ende von der erwähnten Ankunft des erblindeten Erzählers. Seit dem Tod des Bruders sind „zwei Tage“ vergangen, „in denen er [Hans] unterstandlos in Gebüschen und Mooren versteckt lag“ (Ho, 253). Auch die am Anfang präsentierten Erzählabschnitte lassen sich dieser Ereigniskette zuordnen. Der Erzähler liegt, von der Suche nach beiden Brüdern noch dreckverkrustet, „vor Tagesanbruch“ (Ho, 7) an einem Novembermorgen auf seinem Bett vor dem Ofenfeuer, während sich Hans von draußen dem Fenster nähert und mit dem Finger über die Scheibe schabt. Gregor kann das Geräusch nicht zuordnen, sondern glaubt an ein Geräusch im Haus, so dass er die Zimmertür öffnet, in den Hausflur horcht und nach seinen Brüdern ruft. Erst die Katze macht Gregor auf das Fenster aufmerksam. Die Brüder sehen sich kurz in die Augen, bis Hans die Flucht ergreift. Wichtig ist, dass Gregor zu diesem Zeitpunkt noch sehen kann, auch wenn er Hans zufolge bereits „einem Blinden ähnlich geschaut“ habe (Ho, 11). Im Verbund mit den späteren Zeitangaben lässt sich schließen, dass es sich um den Freitag- oder Samstagmorgen nach dem Tod von Matthias handelt.Footnote 78 Schließlich taucht auch hier bereits das Motiv der „Bomber“ auf, die der Erzähler in der Nacht gehört hat (Ho, 12).

Präsentiert wird der erste Abschnitt als homodiegetische Erzählung von dem im Haus befindlichen Gregor, der das Geschehen jedoch vor allem zu Beginn aus der Sicht von Hans schildert, auf der Basis eines späteren Gesprächs. Entsprechend lautet der erste Satz des Romans: „Damals, sagte mein Bruder, sei ich vor dem Ofen gesessen und hätte in das Feuer gestarrt“ (Ho, 7).Footnote 79 Indessen enthält der zweite Abschnitt fast zur Hälfte ein Zitat, dessen Herkunft nicht spezifiziert wird, von dem man annehmen könnte, dass es sich um etwas vom Erzähler Gelesenes handelt, das mit seiner Erinnerung interferiert.Footnote 80 Das Zitat wird aber unterbrochen von einer syntaktisch nicht getrennten Beobachtung „des Kindes [Genitivus objectivus: Hans], das über die Furchen aufwärts, den Weg, den es gekommen ist, zum Horizont läuft“ (Ho, 15). Subjekt der Beobachtung ist Gregor. In dem Zitat ist davon die Rede, dass der Regen in Schnee übergeht, und demgemäß überlagert dieser auch die unmittelbar anschließende Erinnerung des Erzählers, als er seinem Bruder nachblickt. Ob der Schnee tatsächlich so dicht und mächtig fällt, dass er die regennasse Erde sogleich weiß färbt, ist nachrangig gegenüber dem Motiv, in dem die spätere Blindheit des Erzählers vorweggenommen und mit dem leeren kognitiven Zustand des Erzählers verbunden wird: „[…] die weiße Ebene des Himmels und die weiße Ebene des Feldes […] schieben sich scharf durch die weiße und leere Ebene der Augen und zerschneiden und zerstückeln die weiße und leere Ebene des Gehirns“ (Ho, 15).

Die folgenden Abschnitte setzen die Schilderung der Ereignisse im Großen und Ganzen chronologisch fort. Weiter ist von Schnee die Rede, so dass der Verdacht ausgeräumt werden kann, wonach der Erzähler das, was er lediglich gelesen hat, in seiner Erinnerung fälschlicherweise auf die Landschaft projiziert. Es ist also anzunehmen, dass der Regen tatsächlich in Schnee übergegangen ist und die Landschaft weiß färbt.Footnote 81 Auch bei der abendlichen Rückkehr des zwischenzeitlich erblindeten Erzählers auf den Hof wird Schnee erwähnt. Damit wird deutlich, dass der Schnee nicht nur eine symbolische Funktion hat, indem er den Zustand des geblendeten Erzählers verbildlicht, sondern wie die Zeitangaben auch eine orientierende, epistemische Funktion, indem er eines der Mittel ist, mit dem die Narration Kohärenz zwischen weit auseinanderliegenden Textpassagen und -abschnitten stiftet.

Der Erzähler will am Morgen der Schwester mitteilen, dass Hans da war, aber er trifft sie nicht in ihrer Kammer an. Überrascht stellt er fest, dass sie vom Dachboden herunterkommt, und gemeinsam gehen sie nach unten in die Küche, wo „sie das Feuer entfacht und mit dem Rücken der Hand das Auge auswischt“ (Ho, 19).Footnote 82 Schließlich sieht er davon ab, ihr den Besuch des Bruders mitzuteilen. Daraufhin erreichen drei Männer mit einem Karren den Hof, während der Vater im Schilf Futterpflanzen schneidet und Blutegel sammelt. Mittels Analepse werden die zeitlich parallel verlaufenden Ereignisse geschildert, die vor diesem Zeitpunkt liegen. Während der Vater nach dem Anziehen den Hof verlässt, holen die zwei „ortsfremden Männer“ (Ho, 20) den Gendarmen ab und gehen zum Hof, auf dem zeitgleich Gregor und seine Schwester das Vieh mit gekochten Kartoffeln füttern. Am Ende dieser Ereignisreihe wird der Vater durch seine Tochter vom Tod des Sohnes informiert.

Es wird ein kurzer Abschnitt eingeschoben: „Die Geräusche“ (Ho, 37). Das Erzähler-Ich listet im grammatischen Präsens mehrere Geräusche auf, von denen jedoch nicht klar ist, ob es sie gerade vernimmt oder ob es sich an sie erinnert und sie nacherlebt. Mit dem abgesetzten Zitat des (nur leicht abgewandelten) ersten Satzes des Romans endet dieser Abschnitt, der sich auf die Erzählgegenwart des erinnernden Ich beziehen könnte. Die Erzählgegenwart, die zugleich die Gegenwart des sich zu erinnern versuchenden Erzählers ist, wird an anderer Stelle erwähnt: Er liegt in einem Zimmer des Elternhauses (Ho, 45, 132, 275).

Danach ist von der Schwester die Rede, die abends ein schwarzes Kleid ihrer Mutter anprobiert und sich im Spiegel betrachtet, während unten Gebete für den vermutlich aufgebahrten Matthias gelesen werden. Diese Details verschwinden jedoch fast im Hintergrund, während im Vordergrund von einer Motte die Rede ist.Footnote 83 Man kann aber aufgrund dieser Details davon ausgehen, dass sich der Abschnitt chronologisch an das bereits Erzählte anfügt. Er steht in enger Verbindung mit einem späteren Abschnitt, der ebenfalls durch die Marginalie „Die Erzählung der Schwester“ bezeichnet ist und in dem sie von der Ankunft des erblindeten Erzählers an jenem Novemberabend berichtet (Ho, 120). Aus einer anderen Textstelle (Ho, 252) geht hervor, dass es sich um den Samstag handelt. Der Schwester können auch weitere Abschnitte zugeordnet werden, die keine entsprechende Marginalie aufweisen, so etwa „Die Mauerschau“ (Ho, 104) und „Der Tod der Mutter“ (Ho, 124). Offenbar sind die Angaben so zu verstehen, dass sich Gregor und seine Schwester auf dem Friedhof unterhalten, auf dem Matthias begraben liegt. Sie erzählt ihm von dem Tag seines Erblindens, aber auch von dem weiter zurückliegenden Tod der Mutter, die von einer Stiefmutter ersetzt wurde.Footnote 84

Kehrt man zurück zum Hauptstrang der Geschichte, wird man den Abschnitt „Die Ertrinkungsgeschichte“, narratologisch gesehen, als eine Analepse bezeichnen. Berichtet wird, womit die Logik der Vermittlungsstruktur gewahrt wird, „aus zweiter Hand“ (Ho, 45) von den Ereignissen, die zum Tod des Bruders geführt haben. Die Passage hilft, das zentrale erzählte Ereignis, den Tod des Bruders, einzuordnen, und schafft damit Orientierung. Nicht von ungefähr werden in dem Abschnitt stärker als bisher narrative Konventionen aufgegriffen und zugleich konterkariert.Footnote 85

Durzak (1973, 351) hält diese Passage, „die unverkennbar parodistische Züge trägt“, allerdings für „Fiktion, literarisches Muster“, also für in der Fiktion erfunden. So gesehen, würde sie in erheblichem Maße weitere Desorientierung verursachen. In der Tat weckt der Umstand Zweifel an der Wahrheit dieser „Ertrinkungsgeschichte“, dass sich Matthias, von Hans angestachelt, angeblich mit einer Liane über eine Schlucht schwingt und abstürzt. Unten aber fließt ein Bach, in dem zu ertrinken schwierig sein dürfte. Daher könnte es plausibler sein, dass, wie Durzak (1973, 347) meint, der wahre Hergang im Schlussabschnitt erzählt wird, wonach der Erzähler beobachtet hat, wie sein Bruder im Eis einbricht. Nicht (nur) Hans wäre Augenzeuge des Tods, sondern auch Gregor. Entsprechend sei es „offensichtlich das Gefühl des Schuldigseins, das seine [Gregors] Erinnerung mobilisiert und das ihn zwingt, in seinem Nachdenken jenes Ereignis ständig neu zu umkreisen“ (ebd.). Tatsächlich ist es so, dass hier ein Widerspruch vorliegt, der nicht einfach aufgelöst werden kann. Entweder ist Matthias im Eis eingebrochen oder abgestürzt. Beides zugleich kann nicht wahr sein. Es könnte aber beides falsch sein. Denn auch gegen das Einbrechen im Eis sprechen Angaben im Text. Da ist das Regenwetter, das erst am Samstagmorgen von Schneefall abgelöst wird, und es ist unplausibel, dass Hans sich versteckt, während Gregor nach Hause geht. Demgegenüber spricht für die Absturzgeschichte gerade der Regen, der den Bach zu einem Fluss hat anschwellen lassen können.Footnote 86

Demnach liegt eine andere Erklärung für das vermeintliche Einbrechen im Eis näher: Das Bild von dem im Eis einbrechenden Bruder greift das Bild des flüchtenden Bruders auf, dem Gregor am Samstagmorgen nachblickt. Es steht mit keinem Wort im Schlussabschnitt, dass sich unter der Schneeschicht Wasser befindet; stattdessen ist nur von vereistem Schnee die Rede. Aus diesen Gründen ist die Annahme plausibler, dass mit dem „Aussetzen der Erinnerung“ auf das Verschwinden des überlebenden Bruders Hans angespielt wird, den wiederzusehen bzw. zu treffen Gregor an dem gerade vergangenen Sonntag verwehrt wird.

Auf die „Ertrinkungsgeschichte“ folgt ein kurzes Zwischenspiel, das an den erwähnten Abschnitt „Die Geräusche“ anknüpft. Danach kommt es zu einem ersten signifikanten Wechsel, indem nun Ereignisse geschildert bzw. erinnert (vgl. Ho, 53) werden, die offenbar in einem Sommer stattgefunden haben und nicht in einem unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit den zuvor geschilderten Ereignissen stehen, sondern über ein erinnertes Pferd verbunden sind. Erst ist vom Vater die Rede, der das Pferd einspannt und später den umgekippten Wagen aufrichtet, dann von einer Bremse und von Fliegen, die sich am Auge des Pferdes zu schaffen machen. Offenbar liegt dieses Ereignis noch länger zurück, denn es ist von allen drei Brüdern die Rede. Zugleich gibt es einen Hinweis auf den Zeitpunkt des Erinnerungsvorgangs, denn das Pferd geht ihm durch den Kopf, als er „hier aus dem Schrank das Gewand für den Festtag“ nimmt (Ho, 53). Vermutlich bezieht sich das „hier“ auf die Erzählgegenwart, nicht aber die Information, dass er ein festliches Gewand aus dem Schrank nimmt. Ein entsprechender Hinweis folgt, denn jener Sommertag war ein Sonntag genau wie „heute“ auch, da er sich an das Erlebnis mit der Bremse erinnert, (Ho, 54). Außerdem werden einige der genannten Geräusche aufgegriffen. Dieser Erzählstrang wird nach einer weiteren neuen (d. h. zunächst aus dem Zusammenhang fallenden) Episode, in der es um ein Fahrrad geht, im Abschnitt „Das Ankleiden“ aufgenommen: „Inzwischen hat sich Gregor Benedikt (so oder ähnlich ist sein Name) für den Sonntag gekleidet“ (Ho, 65). Da er sich „rasiert“ (ebd.) hat, ist der Erzähler kein Kind mehr. Diese sonntäglichen Ereignisse, die Jahre später stattfinden, bilden einen zweiten größeren Ereigniszusammenhang, dem zahlreiche Abschnitte zugeordnet werden können. Darin ist von einem Gottesdienstbesuch der Familie die Rede (Ho, 99, 107), die inzwischen über ein Auto verfügt, und von einem „Sonntagsspaziergang“ (Ho, 187), von dem anschließenden Mittagessen (Ho, 153) und der Mittagsruhe des Vaters (Ho, 174), dem folgenden Aufenthalt des blinden Erzählers im Ort, wo er das Kino und seine Schwester in ihrem Lokal aufsucht (Ho, 200–228), und von seinem „Heimgang“ (Ho, 231), wie der längste Abschnitt bezeichnet ist, auf dem er das Fahrrad nach Hause schiebt. Der Sonntag endet mit dem Nachtmahl des Vaters, geschildert im Abschnitt „Der Auftritt der Frau“, an dessen Ende ihr der Brief herunterfällt (Ho, 73).

So gut sich die Zuordnung der Episoden nach mehrfacher Lektüre belegen lässt, so klar ist auch, dass die Anlage des Romans dem Gelingen der Zuordnung nicht gerade entgegenkommt, wie sich gerade an dem Übergang der zuletzt genannten Abschnitte zeigen lässt. Der auf „Das Ankleiden“ folgende Abschnitt (der zugleich die letzten Ereignisse der Sonntagshandlung schildert, bevor die Erzählgegenwart des sich zu erinnern versuchenden Erzählers beginnt), „Der Auftritt der Frau“, beginnt mit dem Temporaladverb „Nachher“ und erzählt von einer Mahlzeit des Vaters. Das Adverb sorgt für einen kohäsiven Anschluss, der die beiden Ereignisse des Anziehens und Speisens in einen engen zeitlichen Zusammenhang bringt. Dies trügt jedoch, da es sich um das späte Nachtmahl des gerade heimgekehrten Vaters handelt und einige Ereignisse ausgelassen werden. Der Vater fragt den Erzähler, wo er am Nachmittag gewesen sei. Die Antwort weist auf Erlebnisse des Erzählers hin, die erst viel später ausführlicher erzählt werden: „Ich sei in den Vorführraum des Kinos gegangen“ und „zu der Schwester in die Gaststätte“ (Ho, 70).Footnote 87 Hier wird auch das bislang nicht einzuordnende Fahrradmotiv aufgegriffen. Draußen steht das Fahrrad an der Mauer, und wie schon den Kindern des Ortes gegenüber leugnet der Erzähler, damit etwas zu tun zu haben, obwohl er, wie im Abschnitt „Der Heimgang“ geschildert, es offensichtlich aus dem Ort zum Hof geschoben und dort abgestellt hat.Footnote 88 Man erinnert sich, dass er diesbezüglich schon die Kinder angeschwindelt hatte. Was hat das zu bedeuten?

Ehe die Frage beantwortet werden kann, muss noch eine Reihe weiterer Abschnitte eingeordnet werden. Sie firmieren zumeist unter der Marginalie „Der Mann mit dem Seesack“ (Ho, 104,121,123, 145). Vorbereitet wird diese Ereignisreihe aber schon vorher, als zunächst ohne Zusammenhang die Vorstellung von einem „fahrenden Zug“ vermittelt wird (Ho, 37, 68, 76, 83). Besonders in dem etwas längeren Abschnitt „Die Entstehung einer Episode beim Frühstück“ (Ho, 81–94) ist von einem Bahnreisenden die Rede, was dann in den Abschnitten über den „Mann mit dem Seesack“ fortgeführt wird: Es ist vermutlich Hans auf dem Weg in die Heimat. Nicht von ungefähr wird dieser Strang der Geschichte im Modus des Vorstellens erzählt: „Ich lösche das Bild des Bahnsteigs und mache mir ein Bild von dem fahrenden Zug“ (Ho, 88). Der Mann kommt auf einem Bahnhof an und fährt mit einem Milchwagen in Richtung Heimat, wo er aussteigt und über die Schlucht zum Hof geht, angeblich während der (blinde) Erzähler mit seinen Eltern in der Kirche ist (Ho, 123). Dann aber heißt es: „Am Sonntag fahren keine Lastwagen“ (Ho, 124), womit ein Wortwechsel zwischen Vater und Sohn mit derselben Auskunft aufgegriffen wird (Ho, 100). In anderen Abschnitten erwähnt der Erzähler ebenso einen Omnibus, auf den er wartet (Ho, 101, 228–230), bzw. „die Ankunft des planmäßigen Wagens“ (175). Tatsächlich sind diese Motive alle über das Fahrrad miteinander verknüpft.

5.4 Das Nicht-Erinnerte und Nicht-Erzählte

In der Fahrrad-Episode, die „ein paar Tage her“ ist (Ho, 58), tritt der Erzähler erstmals in dem Roman als blinder Mann auf. Daraus geht hervor, dass der Erzähler das Rad durch den Ort geschoben hat, um es möglicherweise dem Bruder zu schicken. Doch lassen sich die damit verbundenen Teile nicht so leicht zu einem Ganzen fügen. Denn es ist nicht klar, woher das Fahrrad überhaupt stammt. An anderer Stelle will der Erzähler das in der regnerischen Nacht im Schuppen umgefallene Fahrrad am frühen Morgen aufheben (Ho, 74–76), aber er zögert. Als er dann wohl doch in den Schuppen geht, kann er es nicht finden. Allein dass er es am Sonntagabend nach Hause schiebt, lässt sich mit einiger Sicherheit konstatieren. Es könnte bedeuten, dass er es aufgegeben hat, den Bruder zu treffen. „Ob mit dem letzten Autobus der Bruder kommt oder ob er nicht kommt, ist ihm nicht mehr erinnerlich“ (Ho, 276), heißt es am Schluss des vorletzten Abschnitts. Versteht man, wie es naheliegt, diesen Abschnitt als Deutungshilfe, so verliert sich der genaue Ablauf der den Bruder betreffenden Ereignisse in den Erinnerungsversuchen des Erzählers ergebnislos.

Man könnte es immerhin als Andeutung verstehen, dass ihm der Bruder, ohne dass er ihn erkennt, während des Kirchgangs begegnet, weil der Vater zwei Fremde mit einem Fahrrad erwähnt und Hans möglicherweise auf diese Weise verleugnet (Ho, 103). Aus der Auseinandersetzung mit der Schwester geht hervor, dass er vermutet, die Familie verschweige ihm gegenüber den Kontaktversuch des Bruders. Der Erzähler weiß von der Existenz eines Briefes und sieht Hans als Autor, aber lesen kann er ihn ohnehin nicht. Er ist auf Hilfe angewiesen. Entsprechend ließe sich der Schlussabschnitt, der von dem im Eis stapfenden Bruder erzählt, als Sinnbild dafür deuten, dass der ersehnte Kontakt zu seinem Bruder nicht zustande kommt.

Die schiere Quantität von Abschnitten, die von dem reisenden Bruder sowie von dem Fahrrad handeln, lässt auf ihre Bedeutsamkeit schließen. Weitere Passagen hängen damit zusammen. So gibt die Stiefmutter offenbar Gregor ihren Schlüssel (Ho, 129, 251, 258). Dass sich der genaue Ablauf wohl nicht rekonstruieren lässt, ist so erstaunlich nicht und fügt sich in die Logik der erzählten Ereignisse insofern, als der Erzähler keinen Zugang zu den Informationen hat und nur Vermutungen anstellen kann, die von weiteren Erinnerungen gestützt werden. So gibt es welche, deren Schauplatz das Zimmer des Erzählers in einer Stadt ist, wo ihn jemand vom Lande besucht: „Die Türen“ (Ho, 164). Vorher ist auch mindestens zweimal von Straßenbahnen die Rede, die der Erzähler hört (Ho, 81, 92).

Daneben gibt es auch andere Andeutungen wie die, dass der Vater seine Tochter auf dem Dachboden missbraucht (s. o. Anm. 82), wo Jahre später der blinde Sohn offenbar während der Mittagsruhe sexuellen Kontakt zur Schwiegermutter hat. Dies wird in den Abschnitten ab „Die Verführung“ (Ho, 168) ersichtlich, in dem ein Abwasch beschrieben wird. „[Die Frau] bricht aus ihrem geheuchelten Staunen in Lachen aus: komm, sagt sie, komm her; und als ich nicht verstehe: komm zu mir her, komm schon, willst du nicht zu mir kommen?“ (Ho, 173). Die Begegnung findet statt, während der Vater Mittagsruhe hält.

Er hat mit dieser Frau etwas zu schaffen gehabt. Nun möchte er gehen. Was hindert dich daran? Was hindert ihn daran, hinauszugehen und unter dem Dach den Balken entlang zur Stiege zu gehen? Er braucht nichts als den Stock aufzuheben, ihn zu heben und zu strecken und den Weg, seinen Weg, oben an den Sparren des Daches vorwärtszutasten. (Ho, 182)

Danach gehen sie am schlafenden Vater vorbei nach unten, und der Erzähler begibt sich in den Ort (Ho, 183).

In der Summe erhält man das Bild einer Familie mit einer zutiefst gestörten Kommunikation. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der mehrfach anklingende Mitteilungswille des Erzählers gegenüber der Schwester, der sich aber nicht realisiert, ebenso wie das schablonenhafte Sprechen des Vaters.

Ist das aber die ganze Geschichte? Vorausgesetzt, man akzeptiert grundsätzlich eine mimetische Lesart des Textes, könnte man auf die Idee kommen, dass dieser ein für den Erzähler ganz wesentliches Ereignis auslässt: nämlich den Grund für seine Erblindung an jenem Samstag. Ein Aspekt, der hier eine Rolle spielen könnte, ist bislang noch gar nicht erwähnt worden. Er könnte sich im Titel des Romans verbergen. Warum der Roman ausgerechnet „Hornissen“ heißt, ist eine Frage, die meines Wissens niemand bislang überhaupt auch nur gestellt hat. Dabei sind gerade die Hornissen die einzigen Insekten, die in dem Roman keinen Auftritt haben, ein Umstand, der in auffälligem Kontrast zur Titelgebung steht und nach einer Bedeutungssuche verlangt. Selbst in dem ebenfalls so bezeichneten Abschnitt, der als Du-Erzählung verfasst ist, kommen die betreffenden Insekten nicht vor.

Diese offenkundige Leerstelle könnte darauf schließen lassen, dass dadurch wiederum „allein und ausschließlich“ (Haslinger, s. o.) ein literarisches Verfahren ausgestellt wird, ohne damit eine der Konvention entsprechende Bedeutung zu verknüpfen. Doch unterstellt man dem Roman eine über die Kritik an der Konventionalität der Sprache und der Literatur hinausgehende Aussageabsicht, wofür es, wie ich angeführt habe, gute Gründe gibt, dann ist der Kontrast zwischen Titelgebung und nicht realisiertem Gehalt, kurz, das unerfüllte Titelversprechen ein Auftrag, hierfür aus dem Text eine Erklärung zu erschließen.

Welche Hinweise gibt der Text also, welche Erklärung lässt sich finden? Da keine Hornissen im eigentlichen Sinne erwähnt werden, aber allerhand andere Insekten, drängt sich die Möglichkeit einer symbolischen Bedeutung der Hornissen auf. Der Abschnitt „Die Hornissen“ (Ho, 265–270) macht jedoch kein entsprechendes Angebot. Als Du-Erzählung angelegt, handelt er zunächst von der Kommunikationsunfähigkeit des diegetischen Adressaten. „Deine Stimme ist stumm“, heißt es mehrfach (Ho, 266, 268). Das Szenario ist in der ersten Hälfte abstrakt: Das Du wird als Gehender beschrieben, der von anderen angeschaut wird. Man könnte den Bruder des Erzählers assoziieren, den „Mann mit dem Seesack“, der im Roman als jemand beschrieben wird, der unterwegs ist. Doch wird das Szenario in der zweiten Hälfte des Abschnitts konkreter. Es greift einen Schauplatz auf, der hin und wieder bereits erwähnt wurde, ohne dass ihm aber bislang eine konkrete Handlung zugeordnet werden konnte: eine „Sandgrube“ (Ho, 268). Da in diesen Fällen der Erzähler Subjekt und Objekt der Erinnerung ist, lässt sich schließen, dass das hier nicht anders ist. Mithin ist das Du der Erzähler selbst. Was er hier notiert, ist die Beobachtung eines Arbeiters in der Grube, der nach getaner Arbeit die Geräte in einer Hütte verstaut, aus der Grube heraus auf den an ihrem Rand sitzenden Erzähler zugeht und „plötzlich in einen Lauf verfällt“ (Ho, 268). Weiter ist von Schrecken die Rede, der den Mann wie den Erzähler erfasst. Vergeblich versucht der Mann aus der Grube herauszukommen, während der Erzähler erstarrt. Offensichtlich wird die Bewegung des Mannes unterbrochen. „Etwas ist nah an ihm dran und dann auf ihm drauf. Keine Bewegung erschüttert ihn mehr“ (Ho, 270).

Das Motiv der Sandgrube findet sich an vereinzelten Stellen im Roman, wobei zu beachten ist, dass es ein Motiv gibt, aber in der erzählten Welt zwei Orte, die als Sandgrube bezeichnet werden und in der Erinnerung entsprechend überblendet werden. Eine kleinere Sandgrube befindet sich vor dem Holzstapel unter dem Zimmerfenster des Erzählers. Die größere Sandgrube wird in der Erinnerung des Erzählers mit den „schwarzen Schalen einer Banane“ und dem Anblick „eines weißbauchigen Vogels“ (Ho, 149) assoziiert, ohne jedoch an dieser Stelle schon erwähnt zu werden. Zeitpunkt dieser Erinnerung ist das Warten auf das Mittagessen am Sonntag im Halbschlaf, aus dem das Rufen seines Namens weckt. Bevor er aber seinen Namen identifiziert, nimmt er den Ruf als Abfolge von Geräuschen wahr, die zunächst so beschrieben werden: „Dann prasseln Steine in dem Hohlraum, in welchem ich sitze; durch die Geräusche wird der Kopf von der Lehne des Sessels nach vorne gejocht, so daß er von einer großen Höhe auf den Hals hinabsaust und in dem langen Fall des Kopfes in den Ohren die Luft pfeift“ (Ho, 150). Die Geräusche „dringen nun in den Körper“, wo sie sich „spitzer und härter nachstoßend, heiß in den Körper einbohren“ (ebd.). Später, als er nach dem Mittagessen mit der Stiefmutter zusammen ist, assoziiert er zu der Banane und dem Vogel „einen grau verbrannten Weg“ (Ho, 180). Im folgenden Abschnitt mit der Bezeichnung „Der Wespenfalke“ (Ho, 183) verbindet er mehrere Erlebnisse miteinander, wobei er die Bananenschale nun bei der Schule verortet, „auf die später Bomben fielen“ (ebd.), und den Vogel bei einer Sandgrube, wo er ihm wohl mit einem oder beiden Brüdern Steine hinterherwarf.

Schließlich gibt es eine letzte Textstelle, die als „Tagtraum“ (Ho, 262) angekündigt wird. In diesem Tagtraum wird offenbar die Erinnerung an die Suche nach Hans heraufbeschworen, die ihn zu einer Lichtung führt. Sie kulminiert in dem folgenden Erlebnis, dessen Beschreibung am Ende wenig Zweifel lässt, um was für ein Erlebnis es sich handelt:

Dann sieht er aus der Grenze des Himmels kleine Wolken stoßen, Scharen, Schöcke, Geschwader und Schwaden von Wolken […]. Was dieses Dröhnen bedeute, will er noch fragen; mitten aber in seine Worte fällt durch die Lautsprecher die Kriegserklärung. Er duckt sich und schaut diesen Himmel an, den er zu riechen, zu schmecken und zu fühlen vermeint: er riecht nach verpufftem Benzin, er schmeckt nach fauliger Milch, er fühlt sich heiß an wie das Wasser, in das er arglos die Hand streckt. Die kleinen Wolken, die über den ganzen Himmel heranstürmen, sind Bomber. (Ho, 263 f.)

Es ist nicht wesentlich, wo der Erzähler die Bombardierung erlebt hat, bei der Sandgrube oder der Lichtung, aber der Text legt nahe, dass dies das zentrale Ereignis ist, das zu erzählen bzw. an das sich zu erinnern dem Erzähler nicht gelingt. Verknüpft man dies nun mit dem Romantitel, könnten die Hornissen ein Bild für das Bombergeschwader sein, denen das Augenlicht Gregors sowie seine Erinnerung zum Opfer fallen.

Jedoch hat seine Erinnerung keine Beweiskraft; was er ausgedacht hat, braucht nicht wahr zu sein, in dem Sinn, daß es mit den Vorgängen im Buch glaubwürdig übereinstimmt; es braucht nur möglich vorstellbar zu sein, dadurch, daß es an sich glaubwürdig ist; eine falsche unnatürliche Aussage würde von der Erfahrung ab- und zurückgewiesen. (Ho, 275)

5.5 Der mimetische Gehalt und die sprachliche Verfasstheit

Das Nicht-Erinnerte und Nicht-Erzählte des Romans ist das Vergessene oder Verdrängte, das der Erzähler umkreist. Mehr als die hier aufgeführten Hinweise stehen für die Ermittlung des Geschehens nicht zur Verfügung. Es gibt viele miteinander zusammenhängende Sachverhalte, von denen man mit guten, d. h. am Text belegbaren Gründen sagen kann, dass sie bestehen, genauso wie es mehr oder weniger gut erschließbare Sachverhalte gibt, für deren Bestehen jedoch keine guten Gründe ins Feld geführt werden können. Es spricht viel dafür, dass dies zur Kompositionsstrategie des Textes gehört. In Übereinstimmung damit äußert sich der Erzähler selbst, wenn er am Ende einen Teil seiner Erinnerungen als unklar charakterisiert.

Die oben gestellte Frage nach der Unzuverlässigkeit des Erzählers lässt sich also verneinen, weil er weder dem Leser noch sich selbst etwas vormacht. Er ist sich darüber im Klaren, wie unzureichend seine Erinnerungen sind, wenn es darum geht, ihnen einen zusammenhängenden Sinn zu verleihen. Darum beschränkt er sich auf die Einzelheiten und löst das Geschehen in Detailbeschreibungen auf. Man könnte mit einer Anleihe bei der Sprechakttheorie auch sagen, dass der assertorische Anteil der Erzählerrede zugunsten einer stärker reflexiven oder putativen Komponente reduziert ist. Der Erzähler gibt durch sein suchendes Erzählen nicht zu verstehen, dass er einen bestehenden Sachverhalt falsch darstellt. Dass es etwa einen Grund gibt für seine Erblindung, steht außer Frage. Aber was dieser Grund ist, lässt sich nur mehr oder weniger vermuten. Sein Erzählen ist nicht so geartet, dass er darüber einen falschen Eindruck erzeugt.

Anders läge der Fall, wenn die lediglich angedeuteten Sachverhalte nicht nur spekulative Deutungen (wie auf Kindesmissbrauch durch den Vater zu schließen) erlaubten, sondern stärker im Text verankert wären, so dass man für das Bestehen dieser Sachverhalte in der erzählten Welt sich auf mehr berufen könnte als nur auf die Möglichkeit, die durch eine einzige Textstelle aufgerufen wird. Unter dieser kontrafaktischen Voraussetzung hätte man gute Gründe, dass der Erzähler weniger zu verstehen gibt, als tatsächlich der Fall ist in der erzählten Welt, und mithin ein starkes Indiz für seine Unzuverlässigkeit, für deren endgültigen Nachweis man in einem zweiten Schritt eine triftige diegetische Erklärung finden müsste.

Was aber erbringt dieses Ergebnis für die Interpretation von Handkes erstem Roman? Zunächst einmal erfordert die Untersuchung eines Erzähltextes hinsichtlich der Frage, ob er unzuverlässig erzählt ist, eine gründliche Analyse der in der erzählten Welt bestehenden Sachverhalte. Die Analyse hat nicht nur ergeben, dass einige in der Sekundärliteratur kursierende Annahmen falsch sind, sondern auch, dass einzelne Angaben über die erzählte Welt so fein aufeinander abgestimmt sind, dass der Text selbst eine mimetische Deutung verlangt. Die Hornissen ist deshalb kein Roman, der ausschließlich seine Verfahren ausstellt und ansonsten nichts bedeutet. Hingegen ist die Erzählkonzeption als Erinnerungsversuch für den Roman wesentlich. Das Erinnern stellt der Text als einander ablösende und überlagernde Ausschnitte aus der Vergangenheit und Gegenwart dar, von denen einige klarer und einige undeutlicher sind, ohne dass aber die Realität des Erinnerten in Frage stünde. Innerhalb der Fiktion Fingiertes, so meine ich, spielt in dem Roman keine Rolle. Die Hornissen ist zwar ein Werk, das durchaus seine Gemachtheit ausstellt und auch die (hier sprachliche) Bedingtheit seiner erzählten Geschichte thematisiert; aber damit wird die mimetische Ebene nicht vollständig suspendiert, sondern eben nur in ihrer sprachlichen Verfasstheit vorgeführt. Auch wenn sich Durzak in einigen Details irrt, kann man sich ihm in seiner Gesamteinschätzung des Romans anschließen, der gemäß die starken Verfremdungsverfahren dazu dienen, einen gewissermaßen eigentlichen Erfahrungsgehalt (inklusive aller Unsicherheiten) sichtbar zu machen, der von den konventionellen Formen der Sprache verdeckt wird. Er ist daher, so kann man abschließend in epochengeschichtlicher Perspektive zusammenfassen, ein spätmoderner, kein postmoderner Roman, wie etwa die Interpretation von Darby (1987) nahelegt.

6 Eine weitere Zwischenbilanz

Geht man davon aus, dass die in diesem Kapitel analysierten Romane diejenigen aus der Gruppe 47 sind, die am ehesten für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit in Frage kommen, dann ist das Ergebnis, rein quantitativ gesehen, ernüchternd: Das Verfahren ist am deutlichsten in einem Roman, nämlich Walsers Halbzeit, realisiert, der heute kaum noch gelesen wird (vgl. Lorenz 2009), auch wenn sein Held, Anselm Kristlein, weiterhin einen gewissen Bekanntheitsgrad besitzt. Dieses Ergebnis stützt jedoch auch von dieser Seite her die These, dass es einen spezifischen Traditionszusammenhang des unzuverlässigen Erzählens gibt, der auffälligerweise geographisch lokalisierbar ist. Es sind Schriftsteller aus der Schweiz, in deren Werken das Verfahren stärker zur Geltung kommt als anderswo.

Qualitativ gesehen, ist das Ergebnis dieses Kapitels allemal ertragreich. Zuschreibungsversuche von Unzuverlässigkeit zwingen zu genauer Lektüre. Sie erinnern daran, dass vor aller Bedeutungssuche literaturwissenschaftlicher Textinterpretation die Notwendigkeit besteht, das zu ermitteln, wovon ein literarischer Text handelt: von einer Welt. Es ist eine Binsenweisheit, dass gerade die mimetische Basis in der Moderne von der Literatur problematisiert wird. Deshalb ist es umso dringlicher, sich darüber Klarheit zu verschaffen, was in der erzählten Welt der Fall ist und was nicht. Ein geeignetes Instrument für diese Aufgabe ist das Konzept des unzuverlässigen Erzählens, das, frei nach Descartes, den Zweifel an dem Behaupteten zur Untersuchungsgrundlage erhebt.

Gerade die strittigen Zuschreibungen wie im Falle der Blechtrommel und der Ansichten eines Clowns zeigen, wie aufwendig die Ermittlung der Voraussetzungen für die Zuschreibung bzw. die Zurückweisung einer Zuschreibung des unzuverlässigen Erzählens ist. Dabei lässt sich das Verständnis sowohl des Textes als auch der Bedingungen, die für Zuschreibungen an den Text in Kraft sind, vertiefen. Dass Oskar Matzerath in einer Heil- und Pflegeanstalt einsitzt, reicht nicht, damit man ihm Unzuverlässigkeit zuschreiben kann. Gerade wenn man ihn mit anderen Helden aus der Zeit vergleicht, könnte man ihm aufgrund dieser Eigenschaft genauso gut eine besondere Zuverlässigkeit zuschreiben, weil er als jemand, der außerhalb der Gesellschaft steht, zumal der durch den Nationalsozialismus geprägten Gesellschaft, einen umso klareren Blick auf deren Schwächen haben könnte. Diese Meinung wurde durchaus vertreten, aber da er sich darum bemüht, seine Verrücktheit zu normalisieren, gleicht er sich dem an, was vom Standpunkt des Autors als vielleicht verständlich, aber gewiss verwerflich zu beurteilen ist. Daher ist Oskar in axiologischer Hinsicht eher ein unzuverlässiger als ein zuverlässiger Erzähler. Was sich in der Gesellschaftsschilderung vermittelt, ist nicht wegen, sondern trotz Oskar axiologisch negativ zu bewerten. Noch schwieriger zu beurteilen ist Oskar in mimetischer Hinsicht, weil die unglaubwürdigen Anteile seiner Erzählungen nicht immer diegetische Erklärungen aufweisen. Vor allem seine Eigenschaft, kraft seiner Stimme Glas bersten lassen zu können, werden die meisten als wahren Bestandteil der Welt akzeptieren. Dies hat Folgen für die mimetischen Behauptungen Oskars, weil sich seine Behauptungen nicht alle an dem messen lassen können, was in unserer Welt der Fall ist. Trotzdem ergab die Analyse, dass nicht alles, was Oskar an Unwahrscheinlichem erzählt, mit Phantastik zu erklären ist, sondern eben mit seiner mimetischen Unzuverlässigkeit.

In den Ansichten eines Clowns liegen die Dinge anders, weil der Erzähler Hans Schnier eine klare ideologische Sendung hat, die für ein hohes Maß an Zuverlässigkeit sorgt. Als Clown und Künstler ist auch er einer, der weitgehend außerhalb der Gesellschaft steht. Daher wurde er von zeitgenössischen Rezipienten in eine Linie mit Oskar Matzerath gestellt (Maier 1969). Allerdings scheint mir das eine eher oberflächliche Betrachtungsweise zu sein. Schniers Auftrag ist in axiologischer Hinsicht eindeutig. Darum betreffen die in der Forschungsliteratur diskutierten Zuschreibungen von Unzuverlässigkeit andere Aspekte wie vor allem etwa Schniers Einstellung zu Marie. Doch spricht viel dafür, dass hier ein anachronistischer Maßstab an Schniers Frauen- bzw. Geschlechterbild angelegt wird. Nicht Schnier ist diesbezüglich unzuverlässig; es ist der Autor, der ein eher patriarchales Verständnis vom Verhältnis zwischen den Geschlechtern hat. Dies wurde von einer der ersten feministischen Lektüren des Textes auch noch klar gesehen (Beck 1984).

Versucht man nun, den Blick von den einzelnen Werken wegzulenken und ihn mit dem Ziel des Vergleichs zu weiten auf alle bislang untersuchten Werke, so ergibt sich ein Bild des unzuverlässigen Erzählens in Werken der Gruppe 47, das, wie schon bei den meisten Werken, die im III. Kapitel analysiert wurden, eher als Epiphänomen zu betrachten ist. Selbst bei Walser, in dessen Halbzeit es am deutlichsten realisiert ist, lässt sich Kristleins axiologische Unzuverlässigkeit nur feststellen auf der Grundlage eines Maßstabs, der gewissermaßen ex negativo an den Text anzulegen ist. Kristleins Unzuverlässigkeit ist insofern ein Beiprodukt, als es Walser darauf ankam, in Kristlein eine Figur zu kreieren, deren moralisch verwerfliches Verhalten ein Ergebnis des Zusammentreffens seiner allzu menschlichen Anlagen mit einem Milieu ist, das von jeher ein instrumentelles Verhältnis zur Moral hat. Kristleins Verhalten wird verständlich, aber nicht moralisch gerechtfertigt. Bezieht man die weiteren Romane von Walser, aber auch von Grass und den anderen ein, so erhärtet sich dieses Ergebnis. Für eine Weile wird das mimetische Erzählen immer stärker problematisiert, wenn auch nicht völlig aufgegeben, wie man an Handkes Hornissen sehen kann. Damit scheidet das unzuverlässige Erzählen als nennenswerte Option für diese Phase weitgehend aus.

Wie die beiden folgenden Kapitel jedoch zeigen, gilt das keineswegs für alle. Mit den beiden Romanen von Gabriele Wohmann und Alfred Andersch werden zwei Werke ausführlich analysiert, die gegensätzlichen Richtungen zugeordnet werden können. Anderschs Efraim lässt sich mit großer Sicherheit der Frisch-Tradition zuordnen. Wohmanns Abschied für länger dagegen knüpft an den Nouveau Roman an (gegen den sich Andersch mit Efraim explizit zur Wehr setzt), aber hält die Verbindung zum mimetischen Erzählen, mit der Folge, dass seine Erzählerin in bestimmter Hinsicht als unzuverlässig zu betrachten ist.