1 Einführung: Zu Autor und Handlung

1.1 Der Autor und das Buch im Überblick

Otto F. Walter war nicht nur Autor, sondern auch einflussreicher Verleger und als solcher u. a. Begründer der Sammlung Luchterhand. Als Sohn des katholischen Verlagsgründers und Politikers Otto Walter 1928 in der Nähe von Olten geboren, wuchs Otto F. Walter mit acht älteren Schwestern in einer bücherfreundlichen Umgebung auf.Footnote 1 Eine von ihnen war die Dichterin Silja Walter, die ihn früh mit ihren literarischen Versuchen konfrontierte. Als jüngstes Kind bekam er den psychischen Verfall des Vaters mit seinen regelmäßigen Alkoholexzessen direkt mit. Nach dem erzwungenen Schulabbruch in einem Benedektinergymnasium begann Otto F. Walter seine Verlagskarriere als Lehrling in einer Zürcher Buchhandlung. Auf ein Volontariat in einer Kölner Druckerei folgte 1951 der Eintritt in ein Tochterunternehmen des väterlichen Walter Verlages, wo er ab 1956 dessen literarisches Programm leitete. Gleich förderte er moderne, künstlerisch ambitionierte Literatur. Bereits mit Alfred Anderschs Sansibar oder der letzte Grund (1957) gelang ihm ein verlegerischer Erfolg. Auch Wolfdietrich Schnurre, Gabriele Wohmann und Helmut Heißenbüttel nahm er ins Programm auf. Er begründete die Serie „Walter-Drucke“ mit H. C. Artmanns das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken und Peter Bichsels Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen als ersten Bänden. In dem katholischen Verlag wurde es jedoch zunehmend schwerer für ihn, sich mit seinen literarischen Vorstellungen durchzusetzen. Mit der Publikation von Ernst Jandls Laut und Luise (1966) kam es zur Trennung. Gemeinsam mit dem Lektor Urs Widmer und einer Reihe von Autoren wechselte Otto F. Walter zu Luchterhand, den er bis 1973 leitete. Der Verlagsarbeit blieb er in reduziertem Maße auch weiterhin treu, nahm sich aber nun mehr Zeit für seine eigene literarische Arbeit. Bis zu seinem Tod 1994 folgten vier seiner insgesamt sieben Romane.Footnote 2

Leider wird Walters zweiter Roman Herr Tourel in Literaturgeschichten nur erwähnt, aber nicht gewürdigt, teilweise auch sonderbar charakterisiert – so wird er ohne weitere Erklärung mit Frischs Homo faber in Verbindung gebracht (vgl. Durzak 2006, 642). Tatsächlich war er im Vergleich zu Walters Erstling Der Stumme (1959) beim Publikum nicht sehr erfolgreich.Footnote 3 Das mag an dem sperrigen Text liegen, dem wie auch Johnsons Mutmassungen über Jakob unverkennbar William Faulkner Pate gestanden hat.Footnote 4 Um diesem Missstand zu begegnen, wurde der Roman 2008 von Peter von Matt neu aufgelegt. Aber das Echo muss man wohl nach wie vor als verhalten beschreiben.

Walters Mikrokosmos ist der fiktive Ort Jammers, der auch in anderen seiner Werke eine Rolle spielt. Das Jammers im Herrn Tourel ist tatsächlich ein bejammernswertes Städtchen, zumindest der Teil unweit der Aare am Stadtrand, an dem die Handlung vor allem verortet ist. Hier erhebt sich ein mächtiges Zementwerk, das die Umgebung nicht nur durch seine schieren Ausmaße zu erdrücken scheint, sondern auch durch seine akustischen, optischen und olfaktorischen Emissionen. Die Gegend wird alle paar Minuten von dem Gerassel fallender Steinbrocken erfasst, die, von Loren transportiert, in das Mahlwerk geschüttet werden (HT, 16). Es herrscht fortwährender Lärm. Tourel registriert ihn immer wieder; genauso wie den überallhin sich legenden Staub, der nicht nur die Oberflächen der Dinge bedeckt (HT, 15, 323), sondern auch in die Augen und Lungen der Bewohner gelangt und dort für Entzündungen und sicher auch Schlimmeres sorgt.

Tourel ist Fotograf. Als solcher ist er – potentiell – eine Künstlerfigur. Da Tourel außerhalb der Gesellschaft steht und auch eine Szene geschildert wird, in der eine der Figuren, Frau Castell, seinen Fotografien verständnislos gegenübersteht, ist es nicht abwegig, in ihm einen „ausgebürgerte[n] Künstler“ zu sehen (Schild-Dürr 1992, 33). In der Tat beschreibt sich Tourel einmal selbst als jemand, der mit großer Sorgfalt fotografiert. Andererseits steht für Tourel das Handwerkliche im Vordergrund. Selbstausdruck oder Verwirklichung anderer künstlerischer Intentionen scheinen für ihn keine Rolle zu spielen. Es geht ihm um technische Probleme wie das Ziel, einer maximal scharfen Aufnahme, deren Präzision auch in der Vergrößerung erhalten bleibt. In einer anderen Passage preist er das bannende Element der Fotografie – es könnte durchaus sein, dass dieser Zugang Tourels zu seinem Beruf ihn gerade auch als Anti-Künstler ausweist. Dazu mehr im Schlussabschnitt dieses Kapitels, der sich mit der Interpretation befasst.

Vordergründig präsentiert sich Herr Tourel als polyphoner Roman, in dem mehrere autonome Stimmen (um im Bild zu bleiben) erklingen, von denen der Ich-Erzähler nur eine ist. Freilich ist die Stimme des Ich-Erzählers dadurch herausgehoben, dass sie durch ihre grammatisch-syntaktische Wohlgeformtheit mehr Autorität beansprucht als die anderen Stimmen, die nur fragmentarisch und teilweise miteinander verflochten präsentiert werden. Doch spricht, wie im Abschnitt „Erzählkonzeption“ verdeutlicht wird, einiges dafür, dass die Figurenrede als Quasi-Zitate des Ich-Erzählers zu verstehen sind und aus diesem Grunde nicht als völlig autonom aufgefasst werden können (auch wenn sie mit dem Anspruch angeführt werden, sie unverfälscht wiederzugeben). Umgekehrt genießt der Ich-Erzähler dadurch zwar das klassische Privileg der narrativen Instanz, die gesamte Verantwortung für das Erzählte zu tragen; doch wird er dieser Aufgabe nicht gerecht, weil er unzuverlässig ist.

1.2 Die Handlung auf den ersten Blick

Ehe aber darauf sowie auf andere Eigenschaften der narrativen Tektonik näher eingegangen werden kann, sei in groben Zügen die Handlung zusammengefasst, wie sie unabhängig von den narrativen Finessen präsentiert wird, und die Ausgangssituation beschrieben. Der Ich-Erzähler, der sich bald auch als Titelfigur zu erkennen gibt, kommt in die Stadt seiner Kindheit zurück. Es handelt sich um das fiktive Jammers am Fuß des Jura in der westlichen Schweiz.Footnote 5 Den Ort als seine Heimat anzusprechen, wäre allerdings verfehlt. Tourel kommt nicht etwa in sein Elternhaus, sondern findet Unterschlupf in einem verlassenen Bootshaus an der Aare, dem nicht-fiktiven Fluss. Von seiner Kindheit berichtet er nur, dass er öfter im Keller eines Hauses in der Altstadt eingesperrt wurde. Von Eltern ist dabei nicht die Rede, aber von seiner Großmutter und einer weiteren Person namens Rosa (HT, 9, 91, 326 f.). Mit elf Jahren kommt er, wie er in einem kurzen autobiographischen Abriss erzählt (HT, 13), in ein Internat, dann macht er in Fahris eine Ausbildung zum Fotografen und arbeitet längere Zeit weiter in dem Geschäft. Seine Anstellung dort gibt er „[v]ier Tage vor [s]einem 32. Geburtstag“ (HT, 14) auf, um einige Zeit in Jammers zu verbringen. Das liegt ein Jahr zurück, und damit setzt ein Teil der Handlung – nennen wir sie die Vergangenheitshandlung – ein. Im ersten Kapitel berichtet er aber zunächst von seiner zweiten Ankunft in Jammers, die am Vortag der Erzählgegenwart stattgefunden haben muss. Hauptsächlich zwischen diesen beiden Zeitebenen schwankt fortan die Erzählung. Die Gegenwartshandlung endet mit seiner Abreise aus Jammers nach ungefähr neun Tagen (HT, 321) und besteht neben Tourels wenigen Erlebnissen und Reflexionen in dieser Zeit vor allem aus den Gesprächs- und Redefragmenten, die er bei seinen Spaziergängen und im Biergarten aufschnappt und jeweils am nächsten Morgen notiert. Sie enthalten Informationen teils darüber, was in Tourels Abwesenheit passiert ist, und teils darüber, was ihn unmittelbar betrifft, er aber offenbar nicht wahrhaben möchte.

Die Vergangenheitshandlung besteht zu einem Teil aus Tourels Erlebnissen in Jammers vor einem Jahr (Juni bis November 1960) und zum anderen Teil aus seinen Erlebnissen danach, als er im Schweizer Jura unterwegs ist. Auf dieser Reise lernt er anscheinend einen gewissen Albert kennen, der schon von Beginn an immer wieder Adressat seiner Rede ist. Das Leben, das er auf der Reise führt, ist das eines Vagabunden ohne festen Wohnsitz. Es ist geprägt von Alkoholexzessen, Diebstahl und Gewalt, ohne dass Tourel dies jedoch explizit erzählt. Demgegenüber verlief sein Leben während des Aufenthalts in Jammers vor seiner Reise vergleichsweise gesittet ab. In der Vergangenheitshandlung wohnt er in einer Waschküche, die ihm zugleich als Fotoatelier dient. Einer seiner Kontakte ist der möglicherweise autistische Schneckensammler Mohn. Tourel fotografiert für die Besitzerin der den Ort prägenden Zementfabrik und hat ein Verhältnis mit Beth, der Nichte des ehemaligen Motorradrennfahrers und Spanienkämpfers Julian „Juuli“ Jeheb, der einen kleinen Bier- und Benzinverkauf in der Nachbarschaft betreibt. Außerdem ist er in die Vorbereitungen eines Streiks der Zementarbeiter verwickelt. Warum Tourel Jammers im November recht unvermittelt verlässt, ist nicht völlig klar. Deutlich wird hingegen, dass Jeheb seine vermutlich schwangere Nichte in einen Verschlag im Haus sperrt, aber seinen Kunden mitteilt, dass er sie zu ihrer Tante Lucie nach Pruntrut, einem abgelegenen Ort an der französischen Grenze, geschickt habe. Wie aus den Redefragmenten der Figuren schließlich hervorgeht, ist es der hochschwangeren Beth gelungen, sich zu befreien und in einem Autowrack, das sich Mohn eingerichtet hat, niederzukommen. Die Geburt überlebt sie nicht, und auch Jeheb stirbt kurz vor Tourels zweiter Ankunft, als die Bewohner, die von einem Missbrauch ausgehen, ihn zur Rede stellen. Die erzählte Geschichte endet mit Tourels erneuter Abreise per Anhalter Richtung Pruntrut, wohin das Neugeborene gleich zu Tante Lucie gekommen ist.

Zur besseren Übersicht seien die Handlungsebenen nach den im Text gegebenen Daten tabellarisch zusammengefasst:

Vorgeschichte

Geb. 9. Juni 1928 in Jammers, mit elf Jahren in Klosterschule, dann [ab ca. 1943] vier Jahre Photographie-Lehre in Fahris, ein Jahr [ca. 1947] Volontär in einem Photo-Atelier in Aubonne, ein halbes Jahr Rekrutenschule, schließlich [ab 1948] zwölf Jahre Angestellter im Atelier in Fahris (HT, 13, 67)

Vergangenheitshandlung

5./6. Juni 1960 [Pfingsten]: Umzug von Fahris nach Jammers, wo er in der Waschküche von Immanuel Kuppers unterkommt (HT, 14)

August: Erste Streikversammlung (HT, 114)

Ende Aug. (HT, 144): Zeugung in der Bootshütte (HT, 78 ff.)

Anfang Okt.: Streikversammlung (HT, 173)

Okt.: abgebrochene Abtreibung bei Schühl (HT, 193)

Nov.: Abreise Tourels aus Jammers über Hallbach nach Kehrbrugg, wo er drei Wochen bleibt (HT, 155)

Nov./Dez.: Lyß

4. Jan. 1961: Erwacht in Ausnüchterungszelle; versetzt seine Kamera und reist Richtung Aarberg ab (HT, 216); trifft den Bauern Marty aus Le Landeron (HT, 223/251)

5. Jan.: Abreise nach Neuchâtel mit Hinweis auf den Verkauf seiner Fotoausrüstung und unsicherer Zeitangabe (HT, 264); verbringt ca. sechs Wochen dort und wohnt zur Miete in der Rue Jacob (HT, 307)

Nach Mitte Februar: „Vorfrühlingswetter“, „oberhalb von Dombresson“ (HT, 302); nach Auseinandersetzung mit dem Weinhändler Mitfahrt Richtung Pruntrut, aber Ausstieg a. d. „Kreuzung von Les Reussilles“, um nach Tramelan zu kommen (HT, 306)

Nach 21. Mai (Pfingsten): Beth kurz vor Niederkunft bei Mohn (HT, 80)

25. Mai/1. Juni: Beths Ausbruch, Jeheb sucht nach ihr (HT, 271)

26. Mai/2. Juni: Beths Tod bei der Geburt (HT, 270)

26. Mai/2. Juni: Neuerlicher Streik, Tod Jehebs (HT, 183)

8. Juni 1961: von Nuglar nach Jammers per Autostopp (HT, 319, 321)

Gegenwartshandlung

8. Juni 1961, kurz vor 18 Uhr: erneute Ankunft in Jammers (HT, 15), wo er um 19 Uhr in der Bootshütte an der Aare Quartier bezieht (HT, 12) und von wo aus er später im Dunkeln zu Coppa geht (HT, 20) und Andeutungen über die polizeiliche Untersuchung registriert, ohne sie als solche zu kommentieren oder auch nur zu kennzeichnen (HT, 23); auf dem Heimweg trifft er zwischen 23 u. 0 Uhr (HT, 30) Mohn (HT, 43)

9. Juni: Erste Aufzeichnungen, 33. Geburtstag

10. Juni: Bei Coppa (HT, 56), wo er mehr über Jeheb und Beth hört (HT, 58–64) und den für die Arbeiter miserablen Ausgang des Streiks (HT, 64–67)

11. Juni: Beginnt 2. Kapitel am Abend (HT, 57) und berichtet vom Streik und vom letzten Abend bei Coppa sowie vom letzten Spätsommer mit Mohn und Beth (HT, 67–80)

14. Juni: Kap. „Mittag“, nach sechs Abenden bei Coppa (HT, 279)

Ca. 16. Juni o. später: Kap. „Nachmittags“, Tourels letzter Tag in Jammers (HT, 321)

2 Das versteckte System: Erzählkonzeption

2.1 Allgemeines zur Gliederung und zur Erzählsituation

Walters zweiter Roman wird gelegentlich in Kontrast zu seinem Erstling Der Stumme (1959) gesehen.Footnote 6 Während er hier noch „eine objektivierende Romanstruktur Ordnung in die Unüberschaubarkeit der fiktiven Erzählwelt“ gebracht habe, sei die Welt des zweiten Romans nur durch „ein Wirrwarr von Stimmen“ gegeben (Pezold 2007, 248), das ein chaotisches und widersprüchliches Bild der Romanwelt vermittle. Dieser Eindruck erweist sich bei näherer Betrachtung als unzutreffend.

Gegliedert ist der Roman in sieben Kapitel, die allerdings nicht ganz einheitliche Bezeichnungen tragen. Die ersten vier sind mit Datumsangaben versehen: 9. Juni, 11. Juni, 12. Juni und 13. Juni, die letzten drei sind mit Tageszeiten überschrieben: Vormittag, Mittag, Nachmittag. Zu vermuten ist, dass es Tageszeiten verschiedener Tage sind, da Tourel im Kapitel „Mittag“ davon spricht, inzwischen „sechs Abende“ bei Coppa verbracht zu haben (HT, 279), und im Kapitel „Nachmittag“ die Anzahl der Tage, die er wieder in Jammers sei, auf neun beziffert (HT, 321).

Insgesamt besteht der Roman aus 28 Unterabschnitten. Das ergäbe vier Abschnitte pro Kapitel. Tatsächlich ist das die vorherrschende Struktur. Fünf der Kapitel bestehen aus vier Abschnitten, zwei Kapitel jedoch weichen davon ab. Das vierte Kapitel „13. Juni“ besteht aus fünf, das letzte Kapitel „Nachmittag“ aus drei Abschnitten. Es ist also auch hier eine Struktur zu erkennen, die dem anfänglich als „Wirrwarr“ erscheinenden Text eine Ordnung verleiht. 28 Abschnitte sind verteilt auf sieben Kapitel, wobei zwei der vier Abschnitte pro Kapitel die Rede des Ich-Erzählers präsentieren und die anderen zwei jeweils Figurenrede. Dass das vierte und das siebte Kapitel von der Struktur abweichen, lässt sich interpretatorisch ausbeuten. Während der überzählige Abschnitt des vierten Kapitels eine Schlüsselpassage ist und wichtige Informationen enthält, die insbesondere den zeitlichen Zusammenhang der geschilderten Ereignisse auf eine sichere Basis stellen, profiliert das siebte Kapitel mit seinen bloß drei Abschnitten das offene Ende des Romans und zeigt zugleich, dass das Manuskript unvollständig ist. Tourels eigene Rede bricht unvollendet ab (HT, 331).Footnote 7

Wie aus der am Anfang des Abschnitts erwähnten literaturgeschichtlichen Kurzcharakterisierung hervorgeht, ist auf den ersten Blick nicht ganz klar, wer in dem Text wann spricht. Die skizzierte Struktur hilft hier aber weiter. Der Text lässt sich in zwei verschiedene Arten von Passagen unterteilen und damit auch zwei Arten von Rede-Instanzen zuordnen. Die Passagen und ganzen Abschnitte der ersten Art gehören dem homodiegetischen Ich-Erzähler namens Kaspar Tourel; sie sind syntaktisch wohlgeformt, wenngleich seine Erzählung zunächst keine inhaltliche Stringenz zu besitzen scheint. Das liegt vor allem daran, dass der Erzähler teils von seiner Gegenwart berichtet, teils von länger zurückliegenden Ereignissen, ohne dies jedoch in einen ordentlichen Zusammenhang zu bringen.

Die Passagen der zweiten Art sind demgegenüber nicht syntaktisch wohlgeformt. Interpunktion taucht in ihnen nur spärlich auf, teilweise brechen Absätze ohne Satzschlusspunkt ab, Sätze gehen ineinander über, Redebegleitsätze, Figurenrede und Adressatenanrede sind nur mit einiger Anstrengung voneinander zu unterscheiden. Die Redeinstanzen dieser Passagen sind unterschiedlich. Einige lassen sich einzelnen Individuen zuordnen, andere eher Figurenkollektiven, deren einzelne Sprecher zum Teil anonym sind. Zwischendurch wird deutlich, dass diese Passagen als Figurenrede zu deuten sind, die der Erzähler vernimmt und reproduziert. Durch diese Erzählkonzeption ergibt sich, ganz im Gegensatz zum ersten Eindruck, bald doch ein (weitgehend) kohärentes Bild sowohl der Vermittlungsstruktur als auch der erzählten Welt.

Die Passagen des Ich-Erzählers sind anfangs als Selbstgespräch gekennzeichnet: „Mein Jammers-Deutsch vertreibt mir immerhin die Marder. Wirklich, seit ich rede, bleiben sie weg“ (HT, 9, vgl. auch 93). Die Marder lösen eine Kindheitserinnerung aus. Der Erzähler wurde als Kind in einen Keller gesperrt und vertrieb durch Reden die Marder, vor denen er sich ängstigte. Bald jedoch entschließt er sich, „die Dinge in aller Ruhe zu notieren“ (HT, 30). Später ist auch von Manuskripten die Rede (HT, 97, 195, 223), so dass seine zunächst als Selbstgespräch charakterisierte Rede auch als niedergeschriebenes Selbstgespräch aufzufassen sein könnte. Das ist die wahrscheinlichere Variante.

Bei den Manuskripten handelt es sich um zwei Konvolute. Das eine, das er im Bootshaus versteckt, enthält „meine Klarstellungen“ (HT, 195), die anderen Aufzeichnungen, die er in einer Ledertasche mit sich trägt (HT, 195, 341), „stellen den Versuch einer möglichst wörtlichen Wiedergabe von Geschichten dar, die mir durch die Leute hier […] fast jede Nacht zugetragen werden“ (HT, 196). Er notiert also getrennt sowohl seine Gedanken als auch das Gerede der anderen (vgl. HT, 17, 30), das er fragmentarisch mitanhört, als er abends im Biergarten des italienischen Gastronomen Coppa sitzt oder auf der Straße Passanten begegnet. Die zwei genannten Arten von Rede (Erzähler- und Figurenrede) scheinen also genau den beiden Manuskripten zuzuordnen zu sein, die in der Romankomposition jedoch nicht als abgeschlossene Einheiten, sondern in Teilen alternierend präsentiert werden.

In den Abschnitten, die aus dem Mitangehörten bestehen, kommen Anwohner zu Wort, deren Namen den jeweiligen Sprechern nicht immer eindeutig zuzuordnen sind. Darum ist von kollektiven Figuren die Rede: von den Arbeitern des Zementwerks und von ihren Frauen. Die wichtigste dieser Figurenreden gehört aber einem Individuum. Es handelt sich um einen jungen Mann namens Mohn,Footnote 8 der offenbar geistig nicht voll entwickelt oder autistisch ist, sich aber gut mit Schnecken auskennt und – übrigens wie Tourel selbst auch – über ein aufnahmefreudiges Gedächtnis verfügt (vgl. HT, 31, 43, 115, 168). In seinen schwer verständlichen, grammatisch und syntaktisch nicht wohlgeformten Erzählungen ist von einer weiteren Figur die Rede, die er ihrerseits in (verdeckter, d. h. durch Interpunktion nicht kenntlich gemachter) Figurenrede zu Wort kommen lässt: Elisabeth Ferro, von Mohn meist Contessabeth genannt und von den anderen Beth.

Während die Passagen der kollektiven Figuren dialogisch sind, sind die Passagen, die Mohn und Beth zuzuordnen sind, monologisch, wobei Mohn als sekundärer (bzw. intradiegetischer Erzähler) fungiert und Beth als tertiäre Erzählerin.Footnote 9 Mohn begreift die Situation, die er schildert, nicht, und Beths Rede setzt sich zusammen einerseits aus Hinweisen auf die wahre Situation und andererseits aus Passagen, die man nur als Fieberphantasien deuten kann. Dass es sich so verhält, ist dem Text nicht von vornherein abzulesen. Um die übereinander und ineinander gelegten Stimmen der Figuren zu entwirren, muss man erst eine ungefähre Vorstellung von den Ereignissen der Geschichte haben. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann die einzelnen Passagen zuordnen und vollständiger verstehen.

Das eine Problem für die Interpretation ist, dass das, worum es geht, nicht eindeutig bezeugt wird, sondern nur durch Meinungen und Vermutungen, die die Figuren hegen, angedeutet wird; das andere Problem ist die Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers Kaspar Tourel, die die Rekonstruktion dessen, wovon die Rede ist, ebenfalls erschwert. Bei ihm muss unterschieden werden zwischen eindeutig falschen Aussagen und falschen Vermutungen, auch zwischen Täuschungen und Irrtümern, die als falsche entlarvt werden können, auf der einen Seite und ungenauen Sachverhaltsdarstellungen, deren Gehalt nicht mit Bestimmtheit ermittelt werden kann, auf der anderen Seite.

2.2 Die Rede des Erzählers

„Das war ziemlich genau vor einem Jahr. Am 5. Juni des letzten Jahres. Vier Tage vor meinem 32. Geburtstag“ (HT, 14). An diesem Datum hat Tourel Fahris verlassen. Wie erst sehr viel später deutlich wird, handelt es sich um das Jahr 1960. Die Gegenwartshandlung findet demnach 1961 statt, Erzählgegenwart des 1. Kapitels ist der 9. Juni, Tourels 33. Geburtstag.

Gegenwarts- wie Vergangenheitshandlung werden in retrospektiver Rede präsentiert. Dennoch gibt es einen wichtigen Unterschied: Die Vergangenheitshandlung ist zum Zeitpunkt des Erzählens bereits abgeschlossen, die Gegenwartshandlung jedoch nicht. Markiert durch temporal-deiktische Ausdrücke wie „gestern“ (HT, 14/15), werden Abschnitte der Gegenwartshandlung erzählt, von der der Erzähler zum jeweiligen Zeitpunkt des Erzählens noch nicht wissen kann, wie sie endet. Demgegenüber kennt er das Ende der Vergangenheitshandlung, die er im selben Zeitraum notiert. Dieser Zeitraum wird durch die Daten der Kapitelüberschriften umrissen. Die Daten markieren zugleich die verschiedenen Erzählgegenwarten.

Wie aus den Zitaten im 3. Unterkapitel deutlich werden wird, unterscheidet sich Tourels Redestil deutlich von dem der Figurenrede. Er hat eine Vorliebe für wohlformulierte Sätze, deren (evtl. aufgesetzt wirken sollende) Eleganz nicht durchgehend, aber immer wieder aufblitzt. Seine Rede wirkt vor allem deshalb so exquisit, weil der Redestil einen starken Kontrast zu der äußeren Figur, die Tourel ist, und der Situation bildet, in der er steckt. Der Redestil trägt dazu bei, einen Eindruck von Bürgerlichkeit zu erwecken und aufrecht zu erhalten, der den Tatsachen in Tourels Leben überhaupt nicht (mehr) entspricht. Auch sein alter ego Albert hält ihm vor, „geschwollen“ zu reden (HT, 77).

2.3 Die Rede der Figuren

Der Schweizer Autor Werner Bucher unterstellt Otto F. Walter in einem Interview (1971, 233), dass er „aus Gründen der Realistik den debilen Mohn nur in Assoziationen reden“ lasse.Footnote 10 Sieht man sich diese Passagen näher an, wird man schnell zu der Überzeugung gelangen, dass Buchers Charakterisierung in die falsche Richtung weist. Assoziativ wäre Mohns Rede, wenn die Übergänge von einem Gedanken zum anderen nur oder doch hauptsächlich durch die Ähnlichkeit der Redegegenstände motiviert wären. Tatsächlich erzählt Mohn aber von Situationen, die er erlebt hat, und gibt darüber hinaus Beths Rede wieder. Da insbesondere die Reden dieser beiden Figuren durch Weglassen von Interpunktion ineinander überzugehen scheinen und da die Rede beider Figuren fragmentarisch bzw. sprunghaft ist, mag der Eindruck entstehen, sie seien assoziativ organisiert. Sie sind aber nur schwer verständlich. Hat man erst einmal ihr Organisationsprinzip durchschaut, ergeben sie mehr Sinn als das bloße Aneinanderreihen von Ähnlichkeiten.

Die Figurendialoge sind demgegenüber etwas leichter zu verstehen, weil sie nicht geschachtelt sind wie die jeweiligen Monologe von Beth und Mohn. Aber auch sie sind nicht vollständig, weil Tourel ja nur Wort- und Satzfetzen mitbekommt, so dass die eine Rede mitten in einem Satz endet und von einer anderen abgelöst wird, deren Anfang fehlt. Die Figurenrede dient zwar dazu, bestimmte Aussagen Tourels zu korrigieren. Das heißt jedoch nicht, dass sie immer zuverlässig wäre. Auch in der Figurenrede werden widersprüchliche Angaben gemacht.

2.4 Das Schicksal der Aufzeichnungen

Wie erwähnt, scheint es für die Verschiedenartigkeit der Textpassagen eine Erklärung im Text selbst zu geben. Naheliegend scheint folgende Vermutung zu sein: Die notierte Figurenrede bildet das eine Manuskript, die Ich-Erzählung das andere. Es ist nicht ganz klar, welches der beiden Konvolute für Albert gedacht ist. Man sollte annehmen, dass es die Ich-Erzählung ist, da sie ja immer wieder an Albert adressiert ist. Andererseits schreibt Tourel an einer Stelle, dass er auch das Konvolut der Gesprächsnotizen Albert schicken möchte (HT, 196), und an anderer, dass „das andere [Bündel] für mich oder für die Öffentlichkeit“ bestimmt sei (HT, 223). Hier stößt die Erzählkonzeption an eine Grenze. Tourel scheint sich selbst nicht völlig klar darüber zu sein, was mit den Manuskriptbündeln geschehen soll. Es gibt allerdings im Text Hinweise darauf, was mit ihnen tatsächlich geschieht. Die im Bootshaus versteckten Blätter mit Tourels „ganz persönlichen Klarstellungen“ (HT, 318) werden von Kindern entdeckt und zu Papierschiffchen verarbeitet, die sie die Aare hinuntertreiben lassen. Es bleibt ihm also nur das für Albert bestimmte Manuskript (ebd.). Die erste Vermutung muss also revidiert werden. Die Ich-Erzählung und die notierten Figurenreden bilden zusammen ein Konvolut. Das harmoniert auch damit, dass Tourel in dem vorliegenden Text zwar ständig die ihn betreffenden Gerüchte erwähnt, ihre Widerlegung aber mehr ankündigt als durchführt.

Aber auch das zweite Konvolut erreicht seinen Adressaten nicht – einerlei ob er nun existiert oder nicht. Die Arbeiter nehmen es dem in dieser Situation offensichtlich apathischen Tourel ab (HT, 341 f.), und es gelangt zu Mohn, der es (oder Teile davon) noch am selben Tag in Form von angefeuchteten Papierschnitzeln an seine Schneckenzucht verfüttert (HT, 343), ein Motiv, das lange vorher bereits angekündigt wird (HT, 76, 82).

An dieser Stelle erlaubt sich der Roman einen Bruch. Die Manuskripte Tourels hören in der erzählten Welt auf zu existieren. Trotzdem können wir sie lesen. Mancher wird das als unlogisch empfinden, vor allem dann, wenn man als Folie an Herausgeberfiktionen denkt, die als vermeintliches Bindeglied zwischen Fiktion und Realität dienen und den fiktionalen Text als realen präsentieren. Dem verweigert sich Herr Tourel, indem die Texte Tourels innerfiktional vernichtet werden und daher nicht vorgeben, irgendwie real zu sein. Durch den Kunstgriff der innerfiktionalen Vernichtung der in der Fiktion realen Texte behalten sie in der außerfiktionalen Wirklichkeit ihren Charakter als fiktionale Texte.

Dazu gehört auch, dass Tourel nicht das letzte Wort hat. Der letzte Abschnitt handelt von Tourels Abreise aus Jammers und gibt die Perspektive der Arbeiterfiguren wieder, die sich über den schreienden Tourel wundern (HT, 335 ff.). Wenn all die anderen Figurendialoge von Tourel notiert worden sind, so ist das bei diesem nicht der Fall.

Während der letzte Abschnitt insofern jenseits der Erzählkonzeption liegt, als er nicht als ein Abschnitt aus Tourels Aufzeichnungen interpretiert werden kann, so fällt noch ein weiterer Abschnitt aus der Konzeption heraus, allerdings aus anderen Gründen. Dieser Abschnitt ist eine Sie-Erzählung über Beth und der einzige Abschnitt, der nicht als Figurendialog oder homodiegetische Erzählung Tourels angelegt ist (HT, 141–150). Die erzählte Zeit ist der Spätnachmittag, als sich Beth bereit macht, um sich mit Tourel „am Uferweg zur alten Grube“ zu treffen (HT, 143). Es ist vermutlich der Abend, an dem sie im Bootshaus miteinander schlafen, was mit Tourels Worten so eingeleitet wird: „mag sein, daß ich beabsichtigte, sie in die Arme zu nehmen, sie zu küssen“ (HT, 78). Die spätere Passage, die von der Zeit unmittelbar davor handelt, ist weitgehend auf Beth fokalisiert. An Jeheb denkt sie mit den Worten „Onkel Juuli“. Es ist davon die Rede, was sie wahrnimmt und was sie denkt: „Ich habe genickt, fiel ihr wieder ein, so, wie dies alles ihr nun schon die ganze Nacht und diesen ganzen Tag über einfiel; sie hatte genickt, und jetzt mußte sie hingehen, da gabs nichts mehr dran zu ändern; sie hatte plötzlich gesehen, wie dieser Mann unter dem Sonnenschild mit den Augen wartete, bis Onkel Juuli nicht mehr da war. Morgen, hatte er dann gesagt“ (HT, 143). Beth hat zwar Ängste, zieht sich aber schließlich ein hübsches Kleid an und geht beschwingt zu dem Rendezvous. Tourel ist ihr ja nicht mehr völlig unbekannt; sie hat sich bereits von ihm fotografieren und sich von seinen Erzählungen für ihn einnehmen lassen.

Beth ist die heimliche Heldin dieser Geschichte, die einzige menschenfreundliche, allerdings wohl auch viel zu gutgläubige Figur, die an diesem Abend lächelnd ihrem Untergang entgegen geht. In der Erzählung Tourels ist sie nur ein Objekt, hier in dieser Passage aber wird sie als empfindender Mensch dargestellt.

3 Strittige Sachverhalte: Die Diagnose der Unzuverlässigkeit

Dass Tourel, dem Erzähler, nicht zu trauen ist, steht nicht in Frage. Aber inwiefern man ihm nicht trauen kann und warum nicht, ist noch nicht eingehend untersucht worden. Das soll nun in diesem Abschnitt auch deswegen in sehr detaillierter Weise erfolgen, weil zur Rekonstruktion der Ereignisfolge im Text weit auseinanderliegende Passagen in einen Zusammenhang gebracht werden müssen. Um das in nachprüfbarer Weise vorzunehmen, bedarf es akkurater Angaben der vereinzelten Textstellen.

Der Text weist derart viele Anomalien auf, dass eine Liste auf mehr als zwanzig strittige Sachverhalte kommt. Es ist daher ratsam, diese Zahl zunächst durch Systematisierung etwas übersichtlicher zu machen. Man kann die strittigen Sachverhalte in einige Gruppen zusammenfassen und dann exemplarisch betrachten.

Es gibt Sachverhalte, in Bezug auf die sich Tourel direkt explizit selbst widerspricht. Offenkundig ist der Widerspruch, den er sich leistet, als er den Adressaten seiner Rede, Albert, gegen Ende als Erfindung deklariert. Es ist dabei nicht nur so, dass er mit seiner fortwährenden Anrede die Existenz Alberts indirekt voraussetzt; er nimmt darüber hinaus auch Bezug auf Gespräche mit ihm und erzählt von gemeinsamen Erlebnissen. Wäre es also wahr, dass Albert eine Erfindung Tourels ist, wäre davon auch eine ganze Reihe weiterer Sachverhalte betroffen, die ebenso als Erfindung gelten müssten: die Geschehnisse in Kehrbrugg, wo er Albert kennenlernt (HT, 156), sowie der Plan, die für Albert bestimmten Aufzeichnungen nach Tramelan zu schicken, wo Alberts Schwester (angeblich) eine Bierwirtschaft, das „Restaurant Bierquelle“, führt (HT, 195).Footnote 11

Die meisten anderen Fälle sind hingegen so geartet, dass Tourel sich nicht direkt widerspricht, sondern Situationen auf eine Weise beschreibt, dass sie mit bestimmten anderen Umständen, die er ebenfalls schildert, in Konflikt sind. Die Widersprüche, die dadurch entstehen, liegen nicht ganz so offen zu Tage wie eine explizit kontradiktorische Behauptung. Dazu gehört etwa sein Vorhaben, sich eine neue Existenz als Fotograf aufzubauen, in der Überzeugung, er verfüge auch über die dafür nötigen Mittel (HT 166, 307). Das ist aber nicht der Fall. Ein indirekter Widerspruch liegt auch vor, wenn Tourel zunächst von Frauenbekanntschaften spricht und zugleich seine Beziehung zu Beth verleugnet, in Wirklichkeit aber ein Kind mit ihr gezeugt hat.

Zu dieser Gruppe von falsch dargestellten Sachverhalten zählen schließlich jene, die sich aus der von Tourel selbst betriebenen Konfrontation mit den Meinungen von anderen ergeben. Hier widerspricht er sich also nicht selbst, sondern seinen Mitmenschen. Da er jedoch die Instanz ist, die die fremde Rede der anderen Figuren in den Text einspeist, besteht kein kategorialer Unterschied zwischen diesen und den zuvor genannten Fällen. Daher handelt es sich auch um implizite Selbstwidersprüche.

Ein wiederkehrendes Motiv in Tourels Ich-Erzählung ist, dass er sich gegen Gerüchte, die angeblich gegen seine Person gerichtet sind, zur Wehr setzen möchte.Footnote 12 Nicht zuletzt gehören hierzu die meisten Schilderungen seiner Erlebnisse auf der Reise durch den Schweizer Jura. Charakteristisch für den Text ist, dass die meisten dieser Gerüchte nicht durch die anderen Figurenreden, die er ja hört und notiert, belegt sind, sondern nur durch seine Andeutungen. Das heißt, die Gerüchte mögen zwar in der erzählten Welt sein, aber sie gelangen in den Text nur durch Tourel. Was den Text angeht, ist er ihr Urheber. Man wüsste nichts von ihnen, wenn er sie nicht als solche anspräche. Die Frage ist: Sind die angeblichen Gerüchte tatsächlich nur Gerüchte, also üble Nachrede, die unwahr ist? Oder treffen sie zu, was Tourel jedoch nicht wahrhaben will?

Eine letzte Gruppe von Sachverhalten ist dadurch charakterisiert, dass nicht ermittelbar ist, ob sie bestehen oder nicht bestehen. Dies betrifft zumeist Sachverhalte, die nur in Figurenrede angesprochen werden und daher nicht alle unmittelbar mit der Unzuverlässigkeit des Erzählers in Verbindung stehen. Sie werden in die Analyse einbezogen, weil durch die unterschiedliche Sachverhaltsdarstellung Tourels Unzuverlässigkeit plastischer beschrieben werden kann. Der auffälligste von ihnen ist der Sachverhalt, mit welchem Fahrzeug Tourel bei seiner ersten Rückkehr in Jammers angekommen ist. Es zählen aber auch widersprüchliche Alters- bzw. Jahresangaben dazu sowie die Frage nach der Farbe von Tourels Sonnenschild. Eine Untergruppe von Sachverhalten ist schließlich nicht durch unauflösbare Widersprüche bestimmt, sondern durch unzureichende Informationen.

In den folgenden Abschnitten werden diese verschiedenen Arten von strittigen Sachverhalten vorgestellt und näher beschrieben.

3.1 Existiert der Adressat? Tourels explizite Revision des Sachverhalts

Nachdem Tourel Albert mehrfach angesprochen und immer wieder Zwiesprache mit ihm gehalten hat, nachdem er auch festgelegt hat, dass ein Teil seiner Notizen für Albert bestimmt ist, und nachdem er schließlich noch von gemeinsamen Erlebnissen mit ihm berichtet hat, heißt es im letzten Abschnitt, in dem Tourel zu Wort kommt (auf den noch zwei weitere Abschnitte in Figurenrede folgen, in denen zum einen Beths letzte Minuten und zum anderen Tourels Abschied von Jammers aus der Perspektive der Arbeiter geschildert werden), also fast gegen Ende des Buches, plötzlich bekenntnishaft:

Zu verschweigen habe ich nichts. Im Gegenteil: sollen die [Leute, „gewisse Kreise“] ruhig einmal offen herankommen, – ich werde ihnen endlich in voller Lautstärke die Wahrheit klar machen. Ich brauche sie nicht zu fürchten. Ich kann mir sogar leisten, offen und ehrlich meine Fehler einzugestehen. Wer von uns lebt schließlich fehlerlos? Das Ganze muß in höherem Zusammenhang gesehen werden. Ein Wort Alberts. Albert sagte einmal, für mich unvergeßlich: Mensch, sagte er, was regst du dich auf? Erbsünder sind wir alle. Das sagte er. Wir waren damals, ich gebe zu, nicht wenig betrunken, und ich erinnere mich, wie seine Worte bei mir einen wahren Lachkrampf auslösten. Heute finde ich das nicht mehr so komisch, jedenfalls: ich meine, wir sollten den Mut haben, unsere Fehler zuzugeben. Albert. Das wär gerade so ein Fall. Wirklich, warum soll ich ihn verschweigen? Warum soll ich mir nicht leisten, hier in aller Offenheit diese Lüge zu bekennen. Albert, wenn ich so sagen darf, ist, – nun, Albert ist eine Erfindung von mir, ja, so ist das: eine reine Erfindung, ein Spaß, eine – Lüge wäre bereits zu viel gesagt, ja, Albert ist ein Spaß von mir gewesen. (HT, 329)

Für die Sekundärliteratur ist damit klar, dass „Albert eine Erfindung Tourels“ ist (Mattes 1973, 54). Und tatsächlich spricht einiges dafür. Aber wieso soll man Tourel ausgerechnet an dieser einen Stelle glauben und dafür die vielen anderen Aussagen verwerfen, in denen der Erzähler von Albert als seinem Kumpan berichtet und damit zu verstehen gibt, dass Albert als Mensch aus Fleisch und Blut existiert? Und was heißt das für die Episoden, in denen Tourel gemeinsame Erlebnisse mit Albert schildert?

Dafür, dass man Tourels Bekenntnis Glauben schenken sollte, sprechen einige Gründe, die sich ebenso am Text belegen lassen wie die Existenzbehauptungen. Im Gegensatz zu diesen sind die Gründe, die gegen Alberts Existenz sprechen, aber nicht ganz so leicht dem Text zu entnehmen, da die Erzählerrede in den betreffenden Passagen sprunghaft wird. Der Aufwand an Annahmen, die nötig sind, um Alberts Existenz zu rechtfertigen, ist größer als der Aufwand an Annahmen, die für die Rechtfertigung seiner Nichtexistenz sprechen. Es lassen sich mehr Aussagen Tourels mit der Nichtexistenz Alberts vereinbaren als umgekehrt.

Tourel selbst liefert im Anschluss an die zitierte Passage gleich mehrere Begründungen, von denen wenigstens eine – diejenige, die er herunterspielt – überzeugend klingt. Dass ihm „einfach der Name gefallen“ habe (ebd.), mag zwar zutreffen, aber dass er ihn deshalb erfunden habe, klingt ebenso wenig überzeugend wie das vermeintliche Eingeständnis, dass die Erfindung Alberts ein „Spaß“ (ebd.) gewesen sei. Anders verhält es sich jedoch mit dem dritten Grund, den er anführt, wonach er nämlich „unter der Tatsache einer gewissen Einsamkeit“ gelitten habe (ebd.). Das spielt er anschließend herunter, denn das, so behauptet er, sage er „nur nebenbei, die Sache hat weiter keinerlei Bedeutung“ (HT, 330). Sie hat es wohl doch. Tourel hört die Stimmen der anderen, aber spricht nur mit sich selbst. Albert ist dazu da, ihm etwas Abwechslung zu verschaffen.

Tourel liefert aber auch indirekt Gründe, die dafür sprechen, dass er an dieser Stelle die Wahrheit sagt und Albert nicht existiert. In einer Passage spricht Tourel ihn als sein „Gewissen“ an (HT, 195). Das ist ein, wenngleich recht undeutlicher, Hinweis darauf, dass Albert ein Teil von Tourels Ich ist, mit dem er Zwiesprache hält.Footnote 13 Stärker noch ist der Umstand, dass die konkreten Begegnungen mit Albert, die Tourel schildert, sich jeweils ereignet haben, als Tourel volltrunken war. Angeblich lernt er Albert in Kehrbrugg kennen, der zweiten Etappe seiner Reise, wo er etwa drei Wochen verbringt, nachdem er die erste Station, Hallbach, Hals über Kopf verlassen hat. Sie „waren die letzten Gäste in der Waadtländer Halle“ (HT, 156), einer Gastwirtschaft, in die es ihn auch in den nächsten Tagen immer wieder zieht. Dass sie „die letzten Gäste“ waren, ist zwar nur eine sehr vage Andeutung, die allein sicher nicht aussagekräftig genug wäre, aber Tourels übermäßiger Alkoholgenuss lässt sich durch zahlreiche Textstellen belegen, und die Geschichte, die er in Kehrbrugg erlebt, lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass er selbst viel stärker an ihr beteiligt war, als er zugibt.

Tourels Darstellung zufolge verging sich Albert an einer Metzgerstochter (wie weit, wird nicht klar), was zur fluchtartigen Abreise beider aus Kehrbrugg führt. Verließe man sich auf Tourels Schilderung, müsste man annehmen, dass es für ihn selbst überhaupt keinen Anlass zur Flucht gegeben habe, sondern nur für Albert. Da er aber flieht, kommt man zunächst zu dem Schluss, dass er Albert für etwas verantwortlich macht, was er selbst verbrochen hat. Und vor dem Hintergrund, dass Albert gar nicht existiert, wird diese Deutung sogar noch plausibler. Die zweite Begegnung mit Albert findet in der Bahnhofsgaststätte in Lyß statt, wohin sich beide nach ihrer Flucht aus Kehrbrugg begeben. Der Aufenthalt dort endet damit, dass Tourel volltrunken randaliert und in einer Ausnüchterungszelle landet, während von Albert nicht mehr die Rede ist (HT, 205–219).Footnote 14

Albert ist also nicht nur eine Hypostasierung seines Gewissens zum Zwecke der Selbstvergewisserung und des Erträglichmachens seiner Einsamkeit, sondern, zumindest zeitweise, auch Ergebnis von Tourels Strategie, einen Teil seines Ichs abzuspalten und damit negative Handlungen, die kein anderer als er selbst zu verantworten hat, zu leugnen. Seine diesbezügliche Unzuverlässigkeit durchzieht den ganzen Text. Ihre Diagnose führt dazu, eine ganze Reihe von Annahmen zu revidieren. Außer den genannten zählt auch dazu, dass die Absicht, der zufolge ein Teil seiner handschriftlichen Notizen für Albert gedacht ist, nun in einem neuen Licht erscheint. Da Tourel die ganze Zeit über weiß, dass Albert nicht existiert, ist auch die Bekundung dieser Absicht von der unwahren Existenzbehauptung betroffen. Es stellt sich die Frage, wer sonst die Notizen erhalten könnte. Die Antwort lautet wohl schlicht: niemand.

3.2 Indirekte Selbst-Widersprüche: Was Tourel nicht wahrhaben will

Tourel behauptet kurz nach seiner zweiten Rückkehr nach Jammers,

daß meine finanziellen Verhältnisse als geordnet bezeichnet werden müssen; auch wenn ich zur Zeit meinen Beruf als Photograph nicht oder nur sehr sporadisch ausübe und meine Apparate auf der Reise verkaufte, darf ich sagen, das alles entspricht meinen Plänen. Weder sie noch diese, zugegeben, merkwürdige Art meiner Kleidung haben mit meiner materiellen Situation zu tun. (HT, 15)

Tatsächlich ist Tourel völlig heruntergekommen. Da er seine Ausrüstung versetzt hat, kann er keine Fotos mehr machen. Er hat keinen festen Wohnsitz, sich vor drei Wochen das letzte Mal rasiert und trägt eine Jacke, die ihm viel zu groß ist und über die Passanten offenbar abfällige Bemerkungen machen: „der Komische mit dieser Faltbootjacke“, zitiert eine der Frauen ihren Mann, der ihm auf dem Heimweg begegnet ist (HT, 111). Auch am Ende wird Tourel von den anderen anhand seiner auffälligen Jacke identifiziert: „und wie wir weiter vorgingen, sehen wir den mit der Jacke“ (HT, 336), „den Jackenkerl“ (HT, 337), „die ist ihm noch genauso zu groß, wie sies vor ein paar Tagen, hab ich zu Kessler gesagt“ (HT, 339). Schon als Tourel am ersten Abend nach seiner Rückkehr im Biergarten sitzt, hört er die Arbeiter des Zementwerks über ihn sprechen und meint, dass sie sich über ihn bzw. sein abgerissenes Aussehen lustig machten (HT, 29). „Meine Jacke, gewiß, sie ist nicht das Neueste. Ich hab sie mir mit dem Lohn meiner Hände Arbeit, wenn ich so sagen darf, vor Jahren gekauft“ (HT, 30). Auch das stimmt wohl nicht. Als er erwähnt, dass er sie nachts als Decke benutzt, nennt er jedenfalls einen anderen Zeitpunkt und andere Umstände ihres Erwerbs:

Die Jacke stammt von Albert. Gegen meinen Belichtungsmesser hat er sie mir damals überlassen, Ende November muß das gewesen sein, ich war leichtsinnigerweise ohne Mantel auf meine winterliche Reise aufgebrochen. Sie ist beileibe kein Prunkstück, aber mir genügt sie; wer wie ich viel gereist ist, lernt dem Schönen das Praktische vorziehen. Natürlich, es kommt vor, daß man mir auf der Straße nachschaut. Aber aus fremder Leute Meinungen habe ich mir noch nie etwas gemacht. (HT, 166)

Zwar kann auch das nicht ganz richtig sein, wenn Albert eine Erfindung ist. Es ist aber immerhin so viel sicher, dass er sich in einer materiell äußerst prekären Situation befindet. Wenn er vor dem Hintergrund dieser Situation die „Absicht“ äußert, „mir demnächst an geschäftlich aussichtsreicher Lage eine neue Existenz aufzubauen“ (HT, 166), dann steht diese Auffassung in Widerspruch zu seiner aktuellen Situation. Tourel möchte sie nicht wahrhaben und redet sie sich schön.

Die Absicht, ein Geschäft zu eröffnen, fasst Tourel nicht erst zu diesem späten Zeitpunkt der Geschichte. Schon bei seiner Abreise aus Jammers im Vorjahr spricht er davon. Als ihn der Fahrer des Holztransporters, der ihn mitgenommen hat, fragt, wohin er wolle, erwidert Tourel: „Nach – Kehrbrugg, sagte ich, da mir für den Augenblick nichts anderes einfiel. Daß ich diese Reise nur angetreten hatte, um mir, wenn ich so sagen darf, irgendwo eine neue Existenz aufzubauen, konnte ich schließlich nicht erzählen“ (HT, 99). Auch aus dieser Passage geht seine Planlosigkeit hervor.

Als Tourel nach seiner Tour durch den Jura nach Jammers zurückkommt, fühlt er sich durch das abfällige Gerede über seine äußere Erscheinung angegriffen. „Für einen Augenblick überlegte ich, ob ich hineingehen und den Herren einmal klar mache sollte, wie unfein es ist, wenn Menschen sich über Leute wie mich glauben lustig machen zu müssen“ (HT, 29). Das tut er aber nicht. Stattdessen notiert er, was er aufschnappt, denn mit schriftlichen Dokumenten „kann der Verfolgte sich schützen“ (HT, 30). Man muss den Eindruck bekommen, dass Tourel unter einer Art Paranoia leidet. „Verleumdungen, Gerüchte, die selbst, wenn sie scheinbar Belangloses über mich erzählen, mich treffen sollen“ (ebd.).

Es ist an dieser Stelle noch nicht klar, wie viel Tourel zu Beginn seines letzten Aufenthalts in Jammers von dem weiß, was sich dort zugetragen hat. Möglicherweise hat er noch mehr gehört, als er bis jetzt notiert hat, denn aus dem folgenden Zitat geht hervor, dass er mehr weiß, als er ausspricht: „Warum gibts anscheinend schon wieder Versuche, mich mit Dingen in eine Verbindung zu bringen, die ich nicht kenne“ (HT, 31). Aus den bei Coppa mitgehörten Unterhaltungen weiß er, dass es eine polizeiliche Untersuchung gibt. Darauf bezieht sich sein Leugnen: „Mit Juuli Jeheb ist also etwas passiert inzwischen. Nur gut, hatte ich weder mit ihm noch mit ihr zu tun. Genau genommen müßte gesagt werden, ich kannte sie nicht einmal“ (ebd.). Worauf sich die weiblichen Personalpronomina beziehen, kann man nicht wissen, denn Tourel führt die Person, auf die sie sich beziehen, vorher nicht ein. Auch die folgende Aufklärung ist modal stark abgetönt, dass man Tourel so verstehen muss, er kenne die Person nicht: „Sie soll die Nichte des Alten [Jeheb] sein. Wurde damals behauptet“ (ebd.). Wenn man nun sorgfältig weiterliest, kann man feststellen, dass die „Verbindung“, von der vorher die Rede war, die zwischen Tourel und dieser Nichte sein soll, denn Tourel fügt einen Nebensatz an, den er unvollständig lässt: „Jedenfalls, bevor man Legenden über mich in die Welt setzt“ (ebd.).

Der von Tourel behauptete Sachverhalt ist also der, dass er Jehebs Nichte nicht oder allenfalls vom Sehen kennt. Später jedoch stellt sich heraus, dass er sie besser kennt. Nicht nur hat er sie fotografiert (HT, 64, 131, 288–290, 294) und ihr seine Aufnahmen gezeigt (HT, 190), er hat auch ein Kind mit ihr gezeugt. Dass er sie nicht kenne, stimmt also nicht. Allerdings sagt er das nirgendwo explizit, auch nicht in der ausführlichen Schilderung der Fotosession mit ihr. Man kann es nur erschließen, zum einen aus den Informationen, die er selbst gibt, und zum andern aus der Figurenrede, die er zitiert, namentlich der in Mohns eingebetteten Figurenrede Beths.

Zunächst aber zu den Indizien, die sich in Tourels Rede finden: „[…] es gab schließlich auch für einen Mann wie mich, […] wenn ich so sagen darf[,] Damen oder Mädchen oder wie immer, weibliche Wesen, mit denen ich gern ein paar Stunden verbrachte“ (HT, 77). „Ich traf mich gelegentlich mit einer meiner Bekannten mehr oder weniger zufällig oben auf dem Aaresteg“ (ebd.). Auch später erwähnt er nur „eine lose Verabredung mit einer Bekannten von mir“ (HT, 141) und stellt jegliche Beteiligung an Beths Schicksal in Abrede: „[Julian Jeheb] müßte gewiß besonders peinlich sein, mit Mohns Erzählung der dunklen Abenteuer seiner Nichte in Verbindung gebracht zu werden. Aber wer auch immer, ich darf feststellen, ich jedenfalls hatte nichts damit zu tun. Was für ein Schurkenstreich jenem armen Geschöpf gegenüber“ (HT, 227).

Doch was für eine Bekannte soll das sein, mit der er sich trifft, wenn das einzige weibliche Wesen, das dafür in Betracht kommt, Beth ist? Als Beth verschwindet und Jeheb (der sie in Wahrheit eingesperrt hat, um ihre Schwangerschaft zu verheimlichen) sagt, sie sei zu ihrer Tante Lucie Ferro „in die Pruntruter Gegend“ gefahren, heißt es von Tourel, dass er „am selben Mittag noch weggefahren“ sei (HT, 121). Schließlich leugnet Tourel, jemals Schühls Dienste erkauft zu haben und „mit meiner Bekannten – ich darf sie hier ruhig meine damalige Freundin nennen – in seiner Werkstatt“ gewesen zu sein (HT, 205). Allerdings lässt sich Beths Fiebermonologen entnehmen (HT, 186–193), dass er, den sie ihren „Bräutigam“ nennt, mit ihr bei Schühl gewesen ist, um das Kind abzutreiben, was sie jedoch vereitelt. Und auch Schühl selbst lässt sich als Zeuge anführen, denn er erpresst Tourel „für mein Schweigen“ oder möchte noch lieber gleich „die Sache in Ordnung“ bringen (HT, 228). Später erwähnt Beth, dass ihr Bräutigam einen Sonnenschild trägt (HT, 300) und dass er sie zwölfmal fotografiert habe (HT, 294), was Tourel zuvor bereits aus seiner Perspektive geschildert und als missglücktes Experiment bezeichnet hat (HT, 289 f.).

Was Tourel leugnet, ist für die Geschichte und damit für den Roman von zentraler Bedeutung. Im 4. Unterkapitel werde ich der Frage nachgehen, ob über das Verleugnen hinaus mehr über Tourels Beziehung zu Beth herauszufinden ist und, wenn ja, welcher Art diese Beziehung ist. Ist Tourel ein gewissenloser Verführer?

Die Antwort hat zu tun mit seiner Reise durch den Jura, auf die er sich recht überstürzt begibt zu einer Jahreszeit, in der man lieber einen festen Wohnsitz hat, als einen solchen aufzugeben. Wie wir wissen, hat er nicht einmal einen Mantel mitgenommen. Sein die wahren Begebenheiten verschleierndes Erzählen geht weiter. Die erste Passage, in der Tourel von seiner Abreise aus Jammers berichtet, wird von der entsprechenden Frage Alberts, seines eingebildeten Kumpans, eingeleitet, warum er aus Jammers abgereist sei (HT, 96). Diese Frage aufgreifend, wehrt sich Tourel einmal mehr gegen die vermeintlichen Gerüchte, „auch darüber Unwahrheiten zu verbreiten“ (HT, 97). Sein Bericht beginnt damit, dass Mohn ihn begleiten möchte, er ihn aber zurück nach Jammers schickt. Es ist ein windiger „Novembervormittag“ (HT, 98), als Tourel sich von einem schweigsamen Fahrer eines Holztransporters mitnehmen lässt. „Jene Fahrt dann, alles wäre soweit gut gelaufen, der Motor wärmte, der Fahrer selber war ein schweigsamer Mensch, wir kamen über eine weite Strecke kaum an einem Weiler vorbei […] immer südostwärts, irgendwann am frühen Nachmittag tauchte Waldenburg vor uns auf, später Olten, wieder später Schöftland“ (HT, 98). Tourel lehnt an der Jacke des Fahrers, die neben dem Beifahrersitz hängt, und spürt darin die Brieftasche (HT, 99), die nicht umsonst erwähnt wird. Zunächst aber verdichtet sich der Nebel, und die Fahrt zieht sich hin. Bald ist es dunkel, die Sicht wird immer schlechter. Während eines Überholmanövers durch einen anderen Wagen kommt es zu einem schweren Unfall, bei dem der Transporter halb vom Fahrbahndamm kippt. Tourel prallt gegen die Windschutzscheibe und kommt schwer benommen zu sich, der Fahrer aber rührt sich nicht. „Ob er schlief? Ich tippte ihn an“ (HT, 102), doch erhält er keine Antwort. Er birgt ihn aus der Fahrerkabine. Aber „[n]och immer schwieg er“ (ebd.). Tourel hört auf den Atem und den Herzschlag, vernimmt aber nur das Rauschen eines Bachs in der Nähe. „Ich erinnerte mich, schon einmal die Bewegungen, die man mit den Armen eines Bewußtlosen machen mußte, gesehen zu haben“ (ebd., meine Kursive, MA). Doch nach wenigen Versuchen gibt er es auf, denn ihm fehlt, wie er sagt, „jedes Samariterkurstalent“ (ebd.). Tourel vermeidet offenkundig jeden Gedanken daran, dass der Fahrer tot sein könnte. Er spricht auch nicht von Wiederbelebungsversuchen. Ebendeshalb kann man an dieser Stelle nicht mit Sicherheit sagen, dass der Fahrer den Unfall nicht überlebt hat. Dass es sich anders verhält, erfährt man erst durch die leicht verklausulierte Erzählung der nachfolgenden Begebnisse in Hallbach, die nicht unmittelbar im Text anschließt, sondern erst fünfzig Seiten später erfolgt.

Die anderen am Unfall beteiligten Fahrzeuge sind offenbar weitergefahren, Tourel ist allein, holt seine Sachen und die Jacke des Fahrers. „Ich nahm die Jacke des Fahrers ins Freie und breitete sie über ihn aus“ (HT, 103). Von der Brieftasche ist nicht die Rede, und man muss den Eindruck haben, dass er selbst daran nicht denkt, sondern immer noch benommen ist. Auch ist er am Kopf verwundet. Er geht im Dunkeln zu dem nahen Flüsschen, wo es heller ist, und folgt ihm nach Hallbach. Hier bricht diese erste Passage ab (HT, 105).

Fortgesetzt wird sie am Ende des nächsten Kapitels, das mit einem Satzfragment beginnt, das man noch nicht verstehen kann. Es handelt sich um eine offenbar spontane Erinnerung Tourels: „In Hallbach damals dieses lange Peugeotgesicht“ (HT, 150). Tourel ist etwa eine Stunde mit seinem Koffer durch das Erlengehölz den Wasserlauf entlang gegangen und hat immer wieder ausruhen müssen. Natürlich ist er nach dem Unfall und dem anschließenden Fußmarsch erschöpft, „ein Glück, daß sie ein Zimmer frei hatten, und warum schließlich hätte ich mir nicht auch einmal zwei Kalbskoteletten mit Spiegelei leisten sollen und jene eine Flasche Bordeaux“ (HT, 150). Ja, denkt man, warum nicht? Er leistet sich sogar „noch einen Kaffee mit Schnaps“, und plötzlich ist, unerwartet und der ersten Formulierung zum Trotz, sogar von einer „zweiten Flasche Bordeaux“ die Rede (HT, 151). Bald füllt sich der Gastraum, und nun versteht man, wer mit jenem Gesicht gemeint ist, das Tourel seltsamerweise an Mohns Kastenwagen erinnert (den er diesmal für einen Peugeot hält, während vorher von einem Dodge die Rede war [HT, 94]).Footnote 15 Es ist ein Mann, der der gerade eben stattgefundenen Bergung des Holztransporters beigewohnt hat, bei der herauskam, dass ein Mitfahrer dabei gewesen sein muss, der vermutlich das Geld und die Papiere des toten Fahrers an sich genommen hat. Dabei fixiert der Redner immer wieder Tourel, dessen Blessuren im Gesicht der Unfall unschwer abzulesen sein muss (was er aber nicht erwähnt). Er fühlt sich angesprochen und sieht sich wieder einmal verleumdet, denn „die Brieftasche ging mich nichts an, und wenn der Peugeot in seinem Herüberstarren irgendwelche Andeutungen machen wollte, so kam das allmählich einer Verleumdung gleich“ (HT, 153).

Abrupt fährt er im nächsten Absatz fort: „Der Wein tat mir gut. Auf alle Fälle hatte ich plötzlich wieder Lust, noch ein paar Kilometer weiter zu kommen. Ich ging hinauf, legte mein Geld im Zimmer auf den Tisch, und zehn Minuten später kam ich durch die leeren Gemüsebeete hinter der Kneipe auf einen Fußweg“ (ebd.). Nun ist es deutlich, dass er flüchtet, immerhin oder angeblich nicht ohne zu zahlen!

Er gibt mit seinen Worten zu verstehen, dass er die Brieftasche nicht genommen hat. Dem steht jedoch die Aussage eines Zeugen der Unfallstelle entgegen, dass der Fahrer keine Papiere und kein Geld bei sich gehabt habe. Außerdem kann sich Tourel plötzlich ein reichhaltiges Essen leisten und überdies zwei Flaschen Wein und Kaffee mit Schnaps. Abgesehen davon, dass Alkohol ohnehin sein ständiger Begleiter ist, deutet es darauf hin, dass Tourel in Bezug auf die genannten Sachverhalte die Unwahrheit sagt. Es ist wohl nicht so, dass ihn die Brieftasche nichts anging. Außerdem fühlt er sich von dem Mann, dessen Gesicht Tourel an ein Auto erinnert, angegriffen, aber es ist nicht klar, ob er meint, man halte ihn auch für verantwortlich für den Tod des LKW-Fahrers.

Während in diesem Fall Tourels Sachverhaltsdarstellung durch eine andere Figur, die er zitiert, (inklusive weiteren Aspekten der Situation) widerlegt werden kann, gibt es aber auch Sachverhalte, die vermutlich bestehen, obwohl Tourel das Gegenteil behauptet. Für solche Sachverhalte gibt es keine Zeugen, und dass sie nicht bestehen, kann man nicht mit fremder Figurenreden begründen, sondern nur aus dem sonstigen Erzählverhalten Tourels extrapolieren. Ein Beispiel ist die kurze Episode, die auf seine Flucht aus der Gaststätte folgt. Er stößt bald auf ein leeres Ferienhaus und sucht dort Unterschlupf:

Da das Fenster auf der Seeseite, wie sich herausstellte, offen war, das heißt, die Läden waren nur vorgelegt und man brauchte kaum ein wenig dran zu zerren und sie gingen wie von selber auf und auch die Fensterscheibe dahinter war zweifellos früher schon in die Brüche gegangen, durfte ich annehmen, der Besitzer erlaube mir einen kurzen Schlaf. (HT, 154)

„Zweifellos“! – Das Wort signalisiert im Rahmen von Tourels inzwischen bekannter Redeweise natürlich das Gegenteil. Umso drolliger wirkt es übrigens, dass er zugibt, am nächsten Morgen ein Fahrrad mitgenommen zu haben, und sich Vorwürfe macht, dass er es dem Eigentümer nicht zurückgeschickt hat, angeblich weil er sich die Adresse nicht aufgeschrieben hatte (HT, 155).

Tourels nächste Station ist am Mittag Kehrbrugg, eine fiktive kleine Industriestadt am Jurafuß, wo er drei Wochen bleibt und, wie er meint, ein Geschäft hätte eröffnen können, wenn er „nicht mit Peduzzi in Verbindung gekommen“ wäre (HT, 156). In Kehrbrugg lernt Tourel angeblich Albert kennen, „gleich am ersten Abend nach meiner Ankunft“, beide „die letzten Gäste in der Waadtländer Halle“ (HT, 156), einer Kneipe, wie sich erst später herausstellt. Peduzzi ist ein Italiener, der in dem Haus zur Untermiete wohnt, in dem sich Tourel einmietet. Auch Albert soll dort wohnen. Aufgrund der plausiblen Annahme, dass Albert nur in Tourels Phantasie existiert (worüber man, wie ausgeführt, allerdings erst gegen Ende des Romans einige Gewissheit erlangt), sowie der Information, dass Tourel der letzte Gast in einer Kneipe war, kann man schließen, dass er sich dort betrunken hat. Mit Albert teilt er eine Abneigung gegen die Italiener. Tourels Fremdenfeindlichkeit kommt auch an anderen Stellen deutlich zum Ausdruck (HT, 56, 319) und kann – das sei nur nebenbei bemerkt – als axiologische Unzuverlässigkeit gewertet werden.

Es gibt den Hinweis, dass Peduzzi ein ehrenwerter Mensch ist, der „jeden Monat mehr als die Hälfte seines Lohns der Familie nach Italien“ schickt (HT, 157), wie Tourel von der Vermieterin weiß, deren christliche Einstellung er hervorhebt. „Unwahrscheinlich, aber wie dem auch sei“ (ebd.), kommentiert er, und es spricht Bände, dass er Peduzzi dafür verantwortlich macht, allabendlich in Kneipen gehen zu müssen, um seiner Gesellschaft zu entkommen. Dann erwähnt er schon, dass „mein Kollege Albert einen Fehler“ begangen habe (HT, 157), denn „der Kleinen aus dem Metzgerladen sei etwas angetan worden, wie man so sagt“ (ebd.). Die folgende Passage ist zwar gewohnt wohlformuliert, aber noch inkohärenter als selbst für Tourel üblich. Er glaubt nämlich Albert nicht und verdächtigt zugleich den Italiener als Quelle des Gerüchts, Albert habe die Minderjährige in seine Wohnung gelockt. Anschließend schildert er den Rachefeldzug des Vaters, der mit Begleitern den Übeltäter zur Verantwortung ziehen will, „und am liebsten hätte ich mich auf den Dachboden in einen windgeschützten Winkel verzogen“ (HT, 158) – offensichtlich eine spontane Erinnerung seiner Angst. Dann aber ist wieder von Albert die Rede, der angeblich gerade in seinem Zimmer schläft, und davon, dass er den Metzger weiter nach oben schickt zum Italiener. Er selbst ist es also, der verleumdet. Danach beschließt er, wieder in die Waadtländer Halle zu gehen, bricht sein Vorhaben jedoch ab und registriert Peduzzis Flucht. Tourel kehrt zurück, holt den vermeintlichen Albert, der inzwischen aufgewacht ist, und verabredet mit ihm die getrennte Weiterreise nach Lyß. Es ist Ende November. Das Kapitel schließt mit der Information, dass Peduzzi zusammengeschlagen worden sei.

Man muss noch einmal daran erinnern, dass man als Erstleser immer noch davon ausgehen muss, dass Albert existiert. Tourel gibt in dieser Passage keinen Hinweis auf sich selbst als Täter, sondern lenkt den Verdacht auf Albert und entlastet ihn paradoxerweise zugleich, weil er ihn für einen Aufschneider hält. Dies dient der Verschleierung der wahren Ereignisse in Kehrbrugg. Dass er die Vergeltungsaktion des Metzgers als Anlass zur Weiterreise nutzt, könnte man zunächst als Ausdruck der Solidarität mit Albert deuten oder auch als Reaktion darauf, dass er den unbescholtenen Italiener verunglimpft und ihm nun lieber aus dem Weg geht. Erst auf der Grundlage der Erkenntnis, dass Albert eine Erfindung und ein abgespaltener Teil seines Selbst ist, fällt der Verdacht auf Tourel als Missetäter.

Die nächste Station seiner Reise erreicht Tourel per Anhalter am Abend desselben Tages – etwas anderes anzunehmen gibt der Text nicht her. Es müsste also noch immer November sein. Die Episode wird im strukturell salienten fünften Abschnitt des vierten Kapitels dargeboten und ist daher als Schlüsselpassage einzustufen. Man erfährt, dass Tourel schon mehrmals mit der Polizei zu tun gehabt und keine gute Erfahrungen mit ihr gemacht hat. Angeblich ist er um sechs Uhr aus Kehrbrugg abgefahren (HT, 161). Um viertel nach acht ist er schon eine Weile am Bahnhof von Lyß (HT, 206), wo er und Albert sich für zehn Uhr verabredet haben. Um halb zehn trifft sein vermeintlicher Kumpel dann ein (er ist mit einem motorisierten Fahrrad unterwegs, auf dem er angeblich Vertreterwaren transportiert), offenbar bereits gehörig angetrunken (HT, 207 f.). Mit Albert sitzt er in der Bahnhofskneipe und spricht ebenfalls dem Alkohol zu. Er berichtet von einer erregten Diskussion über ihre verschiedenen Dialekte (Albert kommt aus dem Juraort Tramelan an der Sprachgrenze), und es folgt eine Passage, die Tourels Bewusstseinszustand andeutet.

Ich jedoch hatte auf solche fruchtlose Diskussionen mit ihm jetzt einfach keine Lust mehr. Laß das, versuchte ich ihn mehrere Male zu beruhigen, ich war zu müde, zumal das Serviermädchen die Polizeistunde ausrief, ich hatte ihn, hatte sein Hagergesicht drei-, viermal übereinandergeschoben vor mir, drei vier Münder schrien mich an, wo war Albert nur hingekommen, Spiegelung oder vervielfachtes oder zumindest drei-, viermal gespaltenes und doch immer wieder vollständiges Menschen- oder Fuchsgesicht, mochte der Teufel es wissen, mir ging dieser ganze Lärm, Serviermädchengezeter und des vervielfältigten Albert betrunkene Rechthaberei auf die Nerven, ich stemmte mich, so guts eben ging, vom Tisch hoch, schwang mir kreiselnd die Ledertasche über, bekam auch den Griff des Koffers zu fassen, fegte dreihundert Marder und weißderhimmel wieviele Saaltöchter aus meiner Bahn, Stühle polterten zu Boden, ich wanderte durch verglaste, verspiegelte Türen, schob eine Wand weg, stand endlich im Freien. Es regnete. (HT, 210)

Kurz darauf erleidet Tourel etwas, das man einen Filmriss nennen kann. Er wacht in einer Zelle auf und hört eine Schreibmaschine. Seine Personendaten werden aufgenommen. Offenbar diktiert ein Polizist dem andern handschriftliche Notizen in die Maschine. Diese Angaben lassen auf das Jahr rückschließen, in dem sich die Ereignisse in Jammers zugetragen haben: 1960 (HT, 212). Und als Tourel wenig später die Ausnüchterungszelle verlässt, nennt er das Datum: den 4. Januar (HT, 216). Er versetzt einen seiner drei Fotoapparate und verlässt Lyß auf der Straße nach Aarberg.

Tourel ist der Überzeugung, dass Albert ihn an die Polizei verraten habe. Tatsächlich war er in Begleitung einer zweiten Person, die laut dem Polizeiprotokoll auf ihn eingeschrien hat (HT, 213). Beim ersten Lesen geht man selbstverständlich davon aus, dass es sich um Albert handelt, aber in Tourels Erinnerung ist nicht von ihm die Rede. In seiner Erinnerung taucht ein fremdes „Weintrinkergesicht“ auf (HT, 213), das er im Augenblick seines allmählichen Erwachens in der Zelle für das Gesicht des Polizisten hält, den er sich in seiner Vorstellung als beleibten Mann ausmalt. Das ist er aber nicht. Tourel erkennt wenig später, dass er sehr hager ist. Das Gesicht, das ihm zuvor erschienen ist, könnte der Mensch sein, mit dem er zusammen getrunken hatte. Wichtiger ist indes ein anderer Umstand, der dem Protokoll zu entnehmen ist. Tourel hat in der Nacht zuvor von Beth erzählt, dass sie zu ihrer Tante gereist sei, aber die Polizisten können keinen Zusammenhang herstellen und wissen nicht, wer mit „Contessa“ und „Juuli“ gemeint ist, und als sie ihn nun, da er wieder nüchtern ist, erneut fragen, blockt Tourel alles ab. Als Leser wissen wir aber nun, dass ihn Beths Schicksal zu beschäftigen scheint.

Was wir jedoch nicht wissen, ist, wo der Dezember geblieben ist. Möglicherweise hat Tourel mehr Zeit in Lyß verbracht, als ihm selbst in Erinnerung geblieben ist. Anders kann es gar nicht sein, wenn man die Zeitangaben für die Rekonstruktion der Ereignisse zugrunde legt. Zu vermuten ist, dass er nicht nur eine Nacht in Lyß verbracht hat, wie seine Darstellung vorgibt, sondern sich den gesamten Dezember über in Lyß aufgehalten und vor allem dem Alkohol zugesprochen hat. Dass mittlerweile Januar ist, bestätigt sich während des anschließenden Fußmarsches, als er „westwärts“ unterwegs ist und irgendwann über die Sprachgrenze gelangt (HT, 223).

In der Nähe von Le Landeron nimmt ihn ein Bauer auf seinem Traktor zu seinem Hof mit. Tourel gibt sich als Geologe aus, der „in einer Sondermission“ (HT, 254) auf der Suche nach Bodenschätzen ist, und übernachtet bei der Bauernfamilie namens Marty. Am nächsten Tag gibt er vor, seiner Arbeit nachzugehen. In seiner Abwesenheit forschen die Gastgeber in seinem vermeintlichen Amt nach und finden heraus, dass er ein Betrüger ist. Die Frau unterstellt ihm, es auf ihr Geld abgesehen zu haben. Das erbost ihn. Schon vorher hat er als erzählendes Ich seinen Betrug durch seinen „Humor“ motiviert (HT, 253) und so getan, als habe er den „Spaß“ frühzeitig von sich aus auflösen wollen (HT, 262). Er fühlt sich offenbar im Recht, bemeistert aber angeblich seinen Zorn und verlässt den Bauernhof, um der angedrohten Gewalt durch den Bauern zu entgehen, Richtung Neuchâtel.

Wie man nach dem überzähligen fünften Abschnitt des vierten Kapitels feststellen kann, sind die Reisepassagen sämtlich Analepsen in Bezug auf die Gegenwartserzählung – oder Prolepsen in Bezug auf die Ereignisse davor. Von der Reise wird in der Regel chronologisch erzählt. Mit einer Ausnahme. Was Tourel in Neuchâtel erlebt hatte, erzählt er erst, nachdem er von dem ersten Vorfall nach seiner Abreise aus Neuchâtel berichtet hat. Demgemäß hat er in der Stadt seine restliche Fotoausrüstung versetzt, eine Wohnung gemietet und sich sechs Wochen lang vergeblich nach der Möglichkeit, ein Geschäft zu eröffnen, umgeschaut (HT, 307). Letzteres ist falsch. Er gibt vor, aussichtsreiche Standorte gesucht zu haben, wobei ihm ausgerechnet die Straße besonders attraktiv erscheint, wo sich das Geschäft befindet, in dem er seine Ausrüstung versetzt hat. Jetzt spricht er nur noch von 870 Franken (HT, 308), während er bei der ersten Erwähnung 300 Franken mehr angegeben hat, die er für seine Ausrüstung erhalten haben will (HT, 264). Schließlich erzählt Tourel, dass er seine Kamera zurückgekauft habe. „Das war übrigens am Tag meiner Abreise von Neuchâtel“ (HT, 310).

Gemäß Tourels vorletzter Nachricht über seine Reise steht er in Dombresson, unweit von Neuchâtel, am Straßenrand. Er spricht von „Vorfrühlingswetter“ (HT, 302). Nach den sechs Wochen in Neuchâtel dürfte es Mitte oder Ende Februar sein. Viele Autos fahren an ihm vorüber, ohne anzuhalten, was er angeblich „gelassen zu ertragen“ imstande ist (ebd.) – wären da nicht einige Fahrer und Beifahrer, die ihm, vielleicht höhnisch, zurückwinken. Das erbost ihn immerhin, so dass er ihnen mit gereckter Faust, wie er betont, „harmlose“ Schimpfworte nachruft (HT, 303). Einen Stein habe er aber niemanden hinterhergeworfen. Das hält ihm ein Weinhändler später vor, dessen Wagen eine Delle im Kofferraumdeckel hat. Es kommt zu einer tätlichen Auseinandersetzung, die Tourel so beschreibt, dass er dem Walliser Weinhändler auf die Schulter klopft. Daraufhin läuft er weg und fährt mit einem LKW Richtung Pruntrut. Es scheint ihm allerdings ratsamer, unterwegs auszusteigen, als bis Pruntrut durchzufahren. An einer Kreuzung biegt der Lastwagenfahrer nach Saignelégier ab und Tourel geht ein paar Kilometer zu Fuß ins nahe Tramelan, das wir bereits als Heimat von Albert kennen, wo er sogleich eine Wirtschaft aufsucht, in der er, wie es der Zufall will, auf Albert trifft, der über seine Situation überraschend gut Bescheid weiß. Er, Tourel, habe „keinen großen Vorsprung“ (HT, 312), meint Albert, und solle gleich weiter fliehen, auch wenn er unschuldig sei. Auf Alberts motorisiertem Fahrrad fährt er weiter nach Moutier, wo angeblich ein Schwager von Albert wohnt. Doch dort kann er nicht lange bleiben und begibt sich später über Dornach und Gempen, wo er ein „paar Wochen verbrachte“ (HT, 319), nach Nuglar, von wo aus er Albert eine rätselhafte Ansichtskarte schreibt (HT, 312 f.). Hält man sich an die Zeitangaben, muss man von Monaten ausgehen, die verstreichen, bis er seine Reise fortsetzt. Darüber, was in dieser Zeit geschieht, äußert sich Tourel nicht.

Nuglar ist der Ort, von wo aus er – im Juni – nach Jammers zurückgekommen ist (HT, 15, 319), obwohl er als Ziel Pruntrut angibt. Ist er nur aus Versehen nach Jammers zurückgekommen? Er erwähnt „die Behauptung, wonach ich betrunken gewesen sein soll“ (HT, 319). Und was hat er die ganze Zeit über gemacht? Seltsamerweise besteht er darauf, nie in Pruntrut gewesen zu sein, und verknüpft diese Behauptung mit der anderen Behauptung, „auch nie im Gefängnis gewesen“ zu sein, „wenn man von jenem kleinen unglücklichen Zwischenfall in Lyß einmal absehen will“ (HT, 320). Wiederum auf der Basis seines allgemeinen Redegebarens sowie des ungefüllten Zeitlochs könnte man schließen, dass er eben doch im Gefängnis gesessen hat für den mutmaßlichen Raubüberfall auf das Fotogeschäft in Neuchâtel, denn er weiß zu berichten, dass zwei Leute seine Spuren bis nach Tramelan verfolgt haben (HT, 318).

Festzuhalten ist nach alldem, dass mit den vielen Ungereimtheiten, die die verschiedenen Episoden seines Reiseberichts ausmachen, nach seinen Lügen mit Bezug auf Beth und seiner Erfindung von Albert ein dritter zentraler Bestandteil seiner Aufzeichnungen äußerst unzuverlässig erzählt ist. Das ist nicht alles, wovon Tourel berichtet – ein gescheiterter Streik, an dessen Vorbereitungen er beteiligt gewesen sein will, wird hin und wieder erwähnt. Aber es sind die für Tourels Erzählung bedeutsamsten drei Themen, so dass man konstatieren kann, dass seine Unzuverlässigkeit den ganzen Text durchdringt, und zwar so stark wie in kaum einem anderen mir bekannten Text. Es ist erstaunlich, dass der Text es bei einem solch hohen Maß an Widersprüchen trotzdem zulässt, dass man die Sachverhalte rekonstruieren kann, wenngleich es Geduld und gleichsam detektivischen Spürsinns bedarf, um den Text angemessen zu durchdringen.

3.3 Stärker unbestimmte Sachverhalte und unaufgelöste Widersprüche

Schon in der ausführlichen Dokumentation von impliziten Widersprüchen Tourels habe ich hin und wieder auf unaufgelöste Widersprüche hingewiesen, so auf Tourel, der vor seiner plötzlichen Abreise aus dem Gasthof in Hallbach sagt, er habe für seine Mahlzeit bezahlt. Möglich, dass er das getan hat, um nicht noch mehr Anlässe für Verfolgung zu schaffen. Es könnte aber auch sein, dass er sich entschlossen hat, das Geld zu sparen. Einen direkten Widerspruch gibt es in diesem Fall nicht, aber einen indirekten: zwischen dem, was er sagt (er habe bezahlt), und dem, was wahrscheinlich der Fall ist (dass er nicht bezahlt hat, weil er es eilig hatte und es auch sonst nicht immer so genau nimmt mit fremdem Eigentum).

Auch der Brand des Bauernhofes gehört in diese Reihe. Am Ende des Abschnitts über seinen Aufenthalt beim Bauern Marty in der Nähe von Le Landeron liest er in der Zeitung, dass ein Bauernhof in Flammen aufgegangen sei. Schon vorher hat Tourel erwähnt, dass der Bauer Angst habe, sein ehemaliger Knecht, der seltsamerweise ebenfalls Kaspar heißt, könne einen Brand legen, wobei Tourel zwischendurch erwähnt, dass „später behauptet wurde, diesen Kaspar habe es nie gegeben“; das seien „bewußt gegen mich gerichtete Verdrehungen von Tatsachen“ (HT, 256).

Hier ist es so, dass die Angaben, die den Sachverhalt ‚Abfackeln des Bauernhofs‘ betreffen, derart inkohärent sind, dass sich kein eindeutiger Schluss ziehen lässt. Es spricht trotzdem einiges dafür, dass Tourel den Brand gelegt und später den Knecht sowie die Kontrollgänge des Bauern erfunden hat. Denn warum sonst wird dieser Vorfall überhaupt zur Sprache gebracht? Schon während seines Aufenthalts erwähnt er die Angst des Bauern vor Brandschatzung sowie den Umstand, dass der Knecht pyromanische Neigungen gehabt habe. Unzuverlässig ist er auch, weil er für einen Scherz hält, was offenkundig keiner ist. Da bis zur nächsten Reiseetappe wieder einige Zeit vergeht, könnte man denken, dass sich Tourel als Knecht verdingt hat. Diese Version harmoniert allerdings schlecht mit den geschilderten Ereignissen, wonach er sich als Geologe ausgegeben hat, was keinen Raum dafür lässt, dass er als Knecht gearbeitet hat. Auch bringt er sich sonst selbst nicht in Zusammenhang mit einer Vorliebe für Zündelei. Daher ist es wohl am wahrscheinlichsten, dass er den pyromanischen Knecht erfunden hat, um zu verschleiern, dass er den Brand aus Rache für seinen Rauswurf gelegt hat, den er als schwere Demütigung erlebt hatte.

Es lassen sich also nicht alle Sachverhalte, die Tourel zur Sprache bringt, aufklären; aber mit Hilfe der von ihm selbst eingestreuten Hinweise lässt sich die Mehrheit doch rekonstruieren. Die Aufklärung der zuletzt genannten strittigen Sachverhalte ist allerdings mit größerer Unsicherheit behaftet.

Davon zu unterscheiden ist eine andere Gruppe von Sachverhalten, die für den Gang der Handlung weniger relevant sind, also, mit Barthes gesprochen, catalyses oder, mit Tomaševskij, freie Motive.Footnote 16 Sie dokumentieren nicht Tourels Unzuverlässigkeit, sondern die Unzuverlässigkeit der Figurenrede bzw. -erinnerung.

Ein wiederkehrendes Motiv ist die Kappe, die Tourel während seines ersten Aufenthaltes in Jammers trägt. Für die einen ist der „Sonnenschild“, wie sie die Schirmmütze nennen, grün (HT, 25, 62), für die anderen gelb (HT, 112, 244, 336). Klarerweise unterscheidet sich dieser Widerspruch von jenen, die sich Tourel fortwährend leistet. Ob die Kappe grün oder gelb ist, spielt letztlich keine Rolle. Die widersprüchlichen Angaben sind nicht darauf angelegt, dass man herausfinden muss, welche von ihnen wahr ist – im Gegensatz zu den mannigfaltigen Widersprüchen in Tourels Verlautbarungen. Von Bedeutung ist allein, dass die Farbzuschreibungen unterschiedlich sind. Damit kommt die Vagheit der Figurenaussagen zum Ausdruck, die Vagheit ihrer Erinnerung oder auch die Vagheit ihres Farbempfindens. Möglich ist aber auch, dass der Gelb- bzw. Grünton der Kappe ins jeweils andere Farbspektrum hinüberspielt und dem menschlichen Auge keine eindeutige Farbzuweisung erlaubt. In jedem Fall zeugt dieses Motiv von der unsicheren Beziehung zwischen der Welt, wie sie ist, und der menschlichen Wahrnehmung.

Ähnlich uneins sind sich die Bewohner des Viertels über Tourels erste Ankunft in Jammers. Genauer gesagt, gibt es unterschiedliche Angaben über das Verkehrsmittel, mit dem Tourel angereist ist. Von einem Güterwagen ist die Rede, aus dem er gestiegen sein soll – so berichten es jedenfalls Augenzeugen, die bei Jeheb sitzen und Karten spielen (HT, 25 f.). „So ist er hergekommen, muß ein Samstag gewesen sein, Ende Mai“ (HT, 27), heißt es weiter, wobei die Angabe des Wochentags sich wiederholt. Auch die Frauen, deren Unterhaltung Tourel später lauscht, erinnern sich seiner Ankunft. Danach ist Tourel aber in einem Lastwagen angekommen. Ein „schwerer Öltanker mit Anhänger dran“ habe „vor der Werkeinfahrt“ gehalten, um Tourel aussteigen zu lassen (HT, 118). Nun ist auch von einem anderen Ort die Rede, und die Zeitangaben sind vager und weichen noch stärker ab. Von „Juli oder August“ ist die Rede (ebd.).

Beide Versionen widersprechen Tourels eigener Angabe, der behauptet, sich am 6. Juni [1960] in Jammers einquartiert zu haben (HT, 14). Das war in jenem Jahr Pfingstmontag. Es gibt keinen Grund, warum Tourel diesbezüglich die Unwahrheit sagen sollte; im Gegenteil, da er gerade seine Anstellung aufgegeben oder verloren hat, könnte er das Datum besonders zuverlässig im Gedächtnis behalten haben, zumal er dieser Tage auch Geburtstag hat. Über den Zeitpunkt irren sich die Kartenspieler also wahrscheinlich, erst recht die Frauen. Demgegenüber ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die Kartenspieler sich über das, was sie gesehen haben, in der Erinnerung irren. Tourel nimmt die Behauptung wenig später auf und leugnet die Richtigkeit dieser Darstellung. Er sei von einem Bekannten von Fahris mit dem Auto mitgenommen worden und am Güterbahnhof ausgestiegen (HT, 32). Auch das Wetter ist anders, wobei sich Tourel hier selbst widerspricht. Während nach der Darstellung durch die Kartenspieler Nebelwetter mit Sprühregen herrschte, spricht Tourel zunächst von „Hitze“ (HT, 33), kurz darauf aber registriert er „die Wagendächer“, die „stumpf vom Sprühregen“ sind (HT, 35). Auch später kommt er auf seine Ankunft noch einmal zurück und bestätigt den Nebel und das „Sprühregenwetter“ (HT, 91), das nach zwei Tagen von der „Frühsommerhitze“ vertrieben wird.

Dieser Widerspruch kann folgendermaßen aufgelöst werden: Tourel möchte am Anfang seiner Aufzeichnungen den wahren Anlass seiner Ankunft verschleiern. Er besteht auf einem bürgerlichen Leben und möchte daher dem Eindruck entgegenwirken, er sei ein Vagabund und Schwarzfahrer, dazu noch in einem Güterzug. Dass er in diesem Zusammenhang von Hitze spricht, obwohl er selbst wie auch die Kartenspieler Sprühregen erwähnen, könnte ein Hinweis darauf sein, dass seine Angabe, er sei mit dem Auto angereist, falsch ist. Schlecht dazu passt die Darstellung der Frauen, die zeitlich falsch liegen und auch einen ganz anderen Ankunftsort angeben. Es mag sein, dass Tourel später einmal in einem Lastwagen gesessen hat und bei der Werkseinfahrt ausgestiegen ist, aber wohl nicht bei seiner ersten Ankunft.

Möglicherweise sind es mit Bezug auf diesen Sachverhalt nicht die Wahrnehmungen der beteiligten Figuren – also der Frauen – selbst, die zur Disposition stehen, sondern die Zuordnungen, die sie treffen. Generell gibt es bei Zeit- und Altersangaben geringere Abweichungen, die wiederum die Ungenauigkeit der Figurenangaben bezeugen sollen. So hat das Motorradrennen in Monza, an dem Jeheb als junger Mann teilgenommen hat, entweder 1924 stattgefunden (HT, 59) oder 1923 (HT, 144). Auch die Altersangaben von Beth und Jeheb schwanken. Einmal heißt es, Beth sei „noch nicht einmal zwanzig“ (HT, 58), später „kaum neunzehn Jahre alt“ (HT, 148) bzw. „bald zwanzig, oder auch neunzehn sicher“ (HT, 237), während Tourel, ohne sie beim Namen zu nennen, sie auf „wenig über zwanzig“ schätzt (HT, 285). Jeheb wiederum müsste nach seinen eigenen Angaben Jahrgang 1891 sein, weil er 1924 dreiunddreißig Jahre alt war (HT, 59). Tourel gibt ihm „siebzig oder wieviel Jahre“ (HT, 39). Beth sieht „Onkel Juulis siebzigjähriges und zorniges Gesicht“ (HT, 146). Laut einer späteren Unterhaltung ist Jeheb „fünfzig Jahre älter“ als seine Nichte Beth, und man solle sich vorstellen, man sei „ein dreiundsiebzigjähriger Mann“ (HT, 236). Eine andere Gesprächsteilnehmerin wiederum spricht von ihm als „einem bald siebzigjährigen Mann“ (HT, 240), wobei sich diese Altersangabe wohl auf ihn in der Vergangenheit bezieht, als Beth noch nicht bei ihm wohnte. Hier geht es wiederum nicht so sehr um Widersprüche als um die Vagheit der Angaben, die ohnedies nur minimal voneinander abweichen.

Am Schluss dieses Abschnitts seien die Angaben zur Chronologie überprüft. Es ist davon auszugehen, dass die Zeitangaben zumeist akkurat sind und als Grundlage dienen, Ordnung in das Chaos von Tourels Schilderungen zu bringen. Dennoch gibt es auch diesbezüglich widersprüchliche Angaben, so dass sich keine einwandfreie Chronologie herstellen lässt.

Aus Tourels Angaben kann man erschließen, dass er am 8. Juni nach Jammers zurückgekommen ist. Wie sich gemäß dem schon mehrfach erwähnten fünften Abschnitt des vierten, „13. Juni“ betitelten Kapitels sagen lässt, handelt es sich um das Jahr 1961. Das erste Kapitel trägt die Überschrift „9. Juni“. Das Datum bezieht sich auf die Erzählgegenwart, die mit der Niederschrift zusammenfällt. Das ist die origo, von der aus der Erzähler sich mehrfach mit dem Wort „gestern“ auf den Ankunftstag in der Bootshütte bezieht (HT, 12, 14, 15, 20). Dieser Angabe widersprechen die Biergartenbesucher, deren Gespräche Tourel mithört und fragmentarisch notiert. Danach haben sie ihn bereits „vorgestern“ gesehen (HT, 27, 29), und die Frauen bestätigen das einen Tag später, als sie unter Berufung auf Karl die Begegnung „vor drei Tagen“ zeitlich verorten (HT, 110). Das Wort „vorgestern“ wird in einem Einwortsatz hervorgehoben und wiederholt. Da es am 8. Juni geäußert wird, könnte man daraus schließen, dass Tourel bereits am 6. Juni 1961 in Jammers eingetroffen ist und zwei Aufenthaltstage verschweigt.

Was würde er in diesem Fall verschweigen? Eine Hypothese wäre, dass er bereits in Jammers ist, als sich die tragischen Tode von Beth und ihrem Onkel ereignen. Das aber ist nicht durch die anderen Zeitangaben gedeckt, denen gemäß Beth in der Woche nach Pfingsten niederkommt, das 1961 am 21./22. Mai war.Footnote 17 Genauer gesagt, hat sich Beth am Donnerstag danach befreit und ist am folgenden Tag bei der Geburt verstorben (HT, 270). Das ist also viel zu früh für die beiden Tage, die Tourel möglicherweise früher in Jammers ist. Die starke Betonung des „vorgestern“ liest sich zwar wie ein Fingerzeig. Aber mir ist es nicht gelungen, den Widerspruch aufzulösen bzw. einen Grund dafür zu finden, warum Tourel verschleiert, dass er schon ein paar Tage früher zurückgekehrt ist.

Nun gibt es aber auch mit Bezug auf das Datum der Geburt bzw. der Todesfälle noch andere Angaben, die im Widerspruch zu dem Datum stehen, das man auf der Basis von Mohns Rede rekonstruieren kann. Nach diesen Angaben liegt der Tag der Katastrophe genau eine Woche später, also am 2. Juni – was aber immer noch zu früh ist für die Bestätigung der Hypothese, Tourel wollte seine Anwesenheit an diesem Tag verschleiern.

Wie aus verschiedenen Andeutungen hervorgeht, läuft am Anfang von Tourels zweitem Aufenthalt in Jammers noch eine polizeiliche Untersuchung, die am Ende eingestellt wird (HT, 270, 278). Die Ermittler befragen die Zeugen, die bei Jehebs Tod zugegen waren und ihm „Blutschande“ (HT, 243, 271, 276) vorwerfen in der Annahme, er habe seine Nichte nicht nur über sieben Monate eingesperrt, sondern auch missbraucht. In einer der Passagen wird angedeutet, dass sich eine Lynchstimmung bildet (HT, 244), ein Mob von vierzig bis fünfzig Leuten habe sich vor Jehebs Haus versammelt (HT, 243). Laut der Zeugenaussagen ist Jeheb aber gestolpert und von allein die Treppe heruntergefallen, was zu seinem Tod geführt hat: „[…] und nicht den kleinsten Stups hat ihm einer von uns gegeben“ (HT, 278). Trotzdem war die Stimmung offenbar so aufgeheizt und aggressiv, dass man nicht ganz ausschließen kann, jemand habe nachgeholfen, zumal die Polizei sogar einen Beteiligten in Gewahrsam nahm, schließlich aber wieder freilassen musste (ebd.).

Jeheb stirbt am Abend desselben Tages, an dem Beth stirbt, denn Mohns Geschrei erregt so viel Aufsehen, dass sich die Anwohner bald alle auf den Weg zu Jeheb machen. In einem anderen Zusammenhang heißt es, dass wegen Jehebs Tod ein neuerlicher Streik im Vorfeld vereitelt wurde, was zehn Tage her ist und von Tourel am 13. Juni notiert wurde (HT, 183). Bleibt es dabei, dass er einen Tag später aufschreibt, was er am Vorabend gehört hat, müssten Beth und ihr Onkel am 2. Juni gestorben sein.

Es gibt also eine Abweichung von einer Woche. Pfingsten 1961 ist der Geburtstermin, den Beth errechnet hat, aber Mohn weist darauf hin, dass Pfingsten gerade vorbei ist, „am letzten Montag“ (HT, 80), während sich aus der Angabe eines der Arbeiter ein Datum ergibt, das genau eine Woche später liegt.

Im Gegensatz zu den sonstigen Widersprüchen drängt sich keine diegetische Erklärung für diese fehlende Woche auf – es sei denn eine reichlich spekulative Erklärung wie die, dass Mohn sich vertan habe o. dgl. Ich bin hier also geneigt, diesen Chronologiefehler für ein Versehen des Autors zu halten.

Am Schluss dieses Abschnitts möchte ich noch zum Zwecke der theoretischen Abgrenzung auf Sachverhalte eingehen, die Tourel nicht falsch darstellt, aber auch nicht eigentlich behauptet. Einer dieser Sachverhalte ist, dass er ein Alkoholiker ist. Nirgendwo behauptet er, dass er stets nüchtern sei. Zwar sträubt er sich gegen das Gerücht, er sei bei seiner zweiten Ankunft in Jammers betrunken gewesen (HT, 15), aber das bezieht sich lediglich auf einen Einzelfall. Andererseits sagt er nirgendwo, dass er ein Alkoholproblem habe. Das herauszufinden bleibt dem Leser überlassen. Ist er auch deswegen unzuverlässig? Ich würde sagen: Nein. Immer wieder ist von seinem regelmäßigen, teils auch übermäßigen Alkoholkonsum die Rede. Welche Ausmaße er hat, kann man nur erschließen. Wenn Tourel nicht sagt, dass er ein Alkoholproblem habe, dann heißt das so viel wie, dass er nicht explizit zu verstehen gibt, dass er eines hat; wohl aber implizit. Implizit gibt er durch häufige, aber stark verstreute Erwähnungen seiner Trinkgewohnheiten zu verstehen, dass er Alkoholiker ist. Ihm stellt sich allerdings gar nicht die Frage, ob er Alkoholiker ist. Er versucht jedenfalls auch nicht, diesen Eindruck zu zerstreuen.

Ähnlich verhält es sich mit der Streikangelegenheit. Tourels verstreute Äußerungen sind recht vage, vor allem lässt er den Grad seiner Beteiligung an den Vorbereitungen im Dunkeln. Aber es ist auch überhaupt nicht klar, was er damit eigentlich zu verstehen geben möchte und a fortiori ob er damit etwas Falsches zu verstehen gibt, denn es gibt in diesem Fall kein potentielles Korrektiv, das geeignet ist, seine Äußerungen zu widerlegen. Das einzige, worüber er in diesem Zusammenhang lügt, ist, dass er in der ersten Zeit in Jammers wahrscheinlich eine Art Spion war, denn die Arbeiter haben den Verdacht, dass er für die Fabrikbesitzerin die Arbeiter auskundschaftet. Das streitet er ab, aber wie in den vergleichbaren Fällen, wie ich sie in diesem Abschnitt dokumentiert und analysiert habe, gibt es auch hier wieder reichlich Anlass, dem zu misstrauen.

4 Tourel als Opfer und Täter: Zur Interpretation

Die detaillierte Aufarbeitung von Tourels Erzählverhalten und seiner irreführenden Angaben zeigt, wie stark das unzuverlässige Erzählen den gesamten Text durchdringt. Es betrifft nicht nur einige zentrale Sachverhalte, sondern fast alles, was Tourel zu sagen hat. Dennoch lassen sich einige Angaben als richtig annehmen, auf deren Grundlage sich die Falschheit der anderen erschließen lässt. Geht man davon aus, dass Tourels Datumsangaben korrekt sind und Albert eine Erfindung ist, ergibt sich ein kohärenter Ablauf dessen, was Tourel erlebt. Ohne diese Annahmen wäre das nicht der Fall; man bräuchte andere, voraussetzungsreichere Annahmen, um aus den Angaben eine kohärente Geschichte zu rekonstruieren.

Wie man sieht, sind nicht alle Sachverhalte mit demselben Maß epistemischer Sicherheit oder Gewissheit rekonstruierbar. Möglicherweise lässt sich dahinter eine Logik entdecken. Zu prüfen ist die Hypothese, dass die Abnahme der Gewissheit mit einer Veränderung von Tourels Geisteszustand korreliert. Unabhängig von dieser Frage wird allemal deutlich, worauf es der Werkkomposition ankommt: auf die Darstellung eines notorischen Lügners. An dieses erste, nach den Erkenntnissen des vorangegangenen Abschnitts nicht sehr überraschende Ergebnis knüpft sich eine Reihe von interpretatorischen Fragen, die es nun zu stellen und dann zu beantworten gilt.

  1. a)

    Warum wählt Walter Tourels Perspektive, um sein Lügen darzustellen? (Poetik)

  2. b)

    Warum lügt Tourel?

  3. c)

    Was sagen die von Tourel falsch dargestellten Sachverhalte über ihn?

  4. d)

    Welche Entwicklung macht er durch?

  5. e)

    Wie einheitlich sind Tourels Eigenschaften?

4.1 Zum Zusammenhang zwischen Unzuverlässigkeit und ästhetischer Konzeption (Poetik)

Otto F. Walter ist ein Autor, der den Anspruch hat, mit seiner Literatur „die Realität sichtbar und erkennbar zu machen“ (Bucher/Ammann 1971, 228). Aber, meint er, „Realität ist diffus“ (ebd.). Für ihn ist es die Sprache, die dies bedingt, und doch ist es zugleich gerade die Literatur, die es vermag, erlebte Realität in Worte zu fassen. Dabei wendet er sich in diesem Zusammenhang gegen traditionelle Verfahren wie den „allwissende[n] Erzähler“. Nach Walter haben sich „alle absoluten Instanzen als unglaubwürdig zu erweisen“ angefangen (ebd.). Daher erscheint die Hinwendung zum unzuverlässigen Erzählen als konsequente Weiterentwicklung der von Walter favorisierten „Haltung des nicht-allwissenden Erzählers“ (ebd.).

Damit ist die erste der oben gestellten Fragen bereits beantwortet. Walters Entscheidung für die nicht nur begrenzte, sondern auch verzerrende Perspektive Tourels ist ästhetisch motiviert. Sie hängt mit dem Zeitgeist der skeptischen Moderne zusammen. Liegt die Betonung auf „Zeitgeist“, so könnte man auf die Idee kommen, dass Walter nur einer Mode folgt.Footnote 18 Diese Mode bestand darin, dass sich ihre Anhänger von dem, was als kanonisch galt, abzusetzen strebten. Das sog. allwissende Erzählen war damals noch viel dominanter, und gerade solche Werke wie etwa diejenigen Thomas Manns, von denen man heute weiß, dass es mit ihrer vorgeblichen Auktorialität nicht sehr weit her ist, galten als exemplarische Repräsentanten dieses allwissenden Erzählens. Herr Tourel markiert sehr deutlich die Abkehr von dieser Erzählweise.

Doch man würde diese Angelegenheit verkürzen, wenn man die Beurteilung des Werks darauf beschränkte, es bloß als Teil einer Mode zu sehen, die darin besteht, anders als vorher zu erzählen. Mit der Wahl der zwar nicht völlig neuen, aber auch nicht allzu sehr verbreiteten Erzählverfahren verbindet sich mehr als das Streben, es anders zu machen als die Alten. Dieses „mehr“ verbirgt sich in dem Epitheton „skeptisch“, das ich mit Bedacht gewählt habe. Die Verfahren des unzuverlässigen Erzählens drücken eine Haltung aus, die Gewissheiten in mehreren Bereichen nicht mehr akzeptiert. Wie die Welt beschaffen ist, muss erkannt werden, aber eine grundlegende Erfahrung der Moderne ist, dass Erkenntnisprozesse und -leistungen nicht selten stark divergieren.Footnote 19 Wie aus den Zitaten Walters hervorgeht, sind es nicht nur die Wahrnehmungen verschiedener Menschen, die nicht immer zu demselben Ergebnis kommen, obwohl es um denselben Gegenstand geht, sondern gerade auch die Versprachlichungen dieser Wahrnehmungen bzw. die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Versprachlichung und die Vagheit der damit verknüpften Bedeutungen, die einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor in der Erkenntnis der Welt, wie sie ist, und deren Kundgabe ausmachen. Daneben sind es nicht zuletzt die ideologischen Gewissheiten, die in der skeptischen Moderne aufgegeben werden. Walter erteilt „absoluten Instanzen“ (s. o.) eine Absage, die solche Ideologien und Haltungen zum Ausdruck bringen. Seine Poetik ist also eine des In-Frage-Stellens, und er benutzt dafür eine literarische Figur, die alles andere ist als ein unverstandener Held. Tourel selbst steht in Frage, und daher ist es die Aufgabe der weiteren Interpretation, seinen Beweggründen und Eigenschaften näher zu kommen. Wie oben bereits erwähnt, ist Tourel zuallererst ein Lügner, worauf Walter selbst hinweist (vgl. Bucher/Ammann 1971, 236). Er hat Kaspar Tourel offenkundig als unzuverlässigen Erzähler angelegt, auch wenn er selbst nicht differenziert zwischen Erzählern mit lediglich begrenztem Wissen („nicht-allwissende Erzähler“) und Erzählern wie Tourel, die Unwahrheiten von sich geben.

Das heißt aber nicht, dass sich alle Ereignisse im Herrn Tourel nur im Ungefähren bewegten. Es ist gerade nicht so, dass darin „alles zwischen Lüge und Wahrheit in der Schwebe bleibt“, wie Werner Bucher meint (Bucher/Ammann 1971, 228). Diese Auffassung wird öfter über den Roman geäußert, greift aber trotzdem zu kurz. Wie im letzten Abschnitt deutlich wurde, gibt es zwar Sachverhalte der erzählten Welt, von denen nicht klar wird, ob sie bestehen oder nicht bestehen. Aber das sind keineswegs alle. In den meisten Fällen lässt sich durchaus bestimmen, wie es sich verhält in der erzählten Welt, so dass „wahr und falsch, Schuld und Unschuld“ gerade keine „müssigen Unterscheidungen“ sind (Schild-Dürr 1992, 27). Auch wenn die Wahrheit für den Erzähler ein Problem ist, wird sie vom Werk nicht suspendiert. Sie kann ja nur zum Problem werden, wenn es sie gibt und wenn sie wenigstens teilweise erkennbar ist. Die Erkennbarkeit dessen, was vorgefallen ist, ist zugleich die Voraussetzung dafür, den Erzähler als unzuverlässigen Erzähler zu erkennen. Anders sieht es mit dem Unterschied zwischen Schuld und Unschuld aus. Hier sind nur Tendenzen auszumachen. Sicher ist Tourel schuld an der Verführung Beths. Aber welche Motivation ihn leitet und welche Rolle gesellschaftliche Konventionen oder Zwänge bei seinem Scheitern spielen, ist durchaus fraglich. Dies wird hier später unter der Frage verhandelt, ob er nur ein Täter ist oder auch ein Opfer. Ehe ich aber zur Axiologie des Werks komme, versuche ich noch etwas mehr darüber herauszufinden, was in der Welt des Romans der Fall ist.

4.2 Warum Tourel lügt

Auf diese Frage gibt der Autor eine Antwort – oder zumindest den Beginn einer Antwort. Für Walter ist sein Protagonist jemand, „der als Lügner vor sich selber versucht, seine Vergangenheit und Gegenwart umzustilisieren in eine Welt, in der er großartig abschneidet, obgleich er ein geschlagener und gehetzter Außenseiter und Versager geworden ist“ (Bucher/Ammann 1971, 236). Das Lügen hat also auch einen Grund in der erzählten Welt. Er möchte sich nicht eingestehen, dass er eine gescheiterte Existenz ist – darum auch betont er mehrmals, dass er eine „neue Existenz“ als Fotograf aufbauen wolle. Das sagt er rückblickend über seine erste Ankunft in Jammers, wo er diesen Plan allerdings nicht verwirklicht, weil er – angeblich – Freude am Provisorium entwickelt und sich „in Muße der zweckfreien Photographie widmen“ möchte (HT, 42). Auch behält er diesen Plan auf seiner Reise bei, auf der er, wie geschildert, in Neuchâtel wochenlang nach einer geeigneten Geschäftslage sucht (HT, 307). Allerdings ist dieser Plan hier nur noch ein Vorwand dafür, das Atelier zu beobachten, in dem er seine Fotoausrüstung versetzt hat. Und dennoch kommt er auch in der Erzählgegenwart während seines zweiten Aufenthaltes in Jammers wieder auf die geplante Geschäftsgründung zu sprechen, die nunmehr nur noch eine fixe Idee ist (HT, 166).

Schon von Beginn an ist es ihm sehr darum zu tun, den Schein zu wahren, dass alles, was er unternimmt – und was den Mitmenschen seltsam vorkommt und in Wahrheit schiefläuft bzw. nicht in seiner Macht steht –, seinen Plänen entspricht (HT, 15). Seine narrative Agenda besteht also durchaus nicht nur darin, unliebsame Ereignisse zu verschweigen, sondern vor allem darin, die Kontrolle über sein Leben zu behaupten, die ihm längst entglitten ist, wenn er sie denn überhaupt je hatte. Liest man Walters zuletzt zitierte Aussage dazu genau, so fällt auf, dass er Tourel nicht für einen Versager von vornherein hält, sondern dass er ihn als einen bezeichnet, der ein „Versager geworden ist“ (s. o., meine Hervorhebung). Tourel war nicht immer ein Vagabund. Da er anfangs über eine Fotoausrüstung nicht nur verfügt, sondern auch mit ihr umzugehen weiß, wird er wenigstens einen Teil seiner Vita wahrheitsgemäß wiedergegeben haben. Die weitergehende Frage ist, warum er das geworden ist, was er so hartnäckig leugnet.

Die Antwort fällt nicht eindeutig aus. Einesteils gibt es Hinweise, die auf die Verantwortung der Gesellschaft deuten; andernteils aber auch Hinweise darauf, dass es in seinem Charakter begründet liegt. Sein Lügen wäre demnach nicht nur die Folge seines gesellschaftlichen Abstiegs, den er eben durch Lügen nicht wahrhaben möchte, sondern auch der Grund für seinen Abstieg.

Zunächst: Was spricht für die Verantwortung der Gesellschaft? Ein wiederkehrendes Motiv ist Tourels Erinnerung an ein Kindheitstrauma, das zugleich das einzige ist, was wir über seine Kindheit erfahren. Er wurde in den Keller gesperrt – und das offenbar regelmäßig und über längere Zeit, denn er zitiert die dafür Verantwortliche namens Rosa, die zu seiner Großmutter sagt: „wir sperren ihn heute erst gegen Abend ein“ (HT 326). Sein Text setzt mit dieser Erinnerung ein, und sie gehört auch zu den letzten Dingen, von denen er erzählt. Dieses sich wiederholende Kindheitserlebnis hat er wohl lange verdrängt: „Komisch, wie sehr ich das alles vergessen konnte“ (HT, 12). Seine Erinnerung wird ausgelöst von den Mardern, die er in der Bootshütte sieht und die ihn auch in jenem Keller belästigten.Footnote 20 Traumatisiert ist er aber auch durch die wahnhaften Reden, mit denen Rosa ihn in den Keller begleitete. Der Keller befand sich in unmittelbarer Nähe zur Aare, deren Wellen hinter dem Gemäuer glucksten, „und Rosa sagte, das seien jetzt die Fäuste der ertrunkenen Selbstmörder“ (HT, 9). Die Marder erschrecken ihn so sehr, dass er schreit. Bald aber hält er sie sich vom Leib, indem er redet, redet ohne Unterlass. Mit den Mardern assoziiert ist außerdem Albert, sein eingebildeter Kumpan, dessen eng beieinander liegende Augen er mehrfach mit einem Marderblick in Zusammenhang bringt.Footnote 21

Ob Tourel in seiner Kindheit Liebe erfahren hat, lässt sich nicht sagen. Davon ist jedenfalls nicht die Rede. Daher ist anzunehmen, dass es dieses Trauma ist, das ihn zu dem hat werden lassen, der er ist: ein einsamer, in permanenten Selbstgesprächen um sich selbst kreisender Mensch, der nie eine Chance hatte, sich anderen Menschen zu öffnen und normale Beziehungen aufzubauen. Er ist, kurz gesagt, das Produkt einer fortgesetzten Kindesmisshandlung und eines offensichtlichen Liebesentzugs.

Warum aber wurde er eingesperrt? Es mögen die alten Sitten gewesen sein, Kinder einfach wegzusperren, wenn sie störten, aber darüber lässt sich nur spekulieren. Eine einzige Andeutung, die als Hinweis auf einen möglichen Grund für eine Strafe verstanden werden könnte, besteht darin, dass Tourel Konservenbüchsen im Keller erwähnt, „in denen Rosa, wie sie etwa sagte, die abgeschnittenen Zungen von Lügnern aufbewahrte“ (HT, 326). Sollte also schon Tourel als Kind ein Lügner gewesen sein? Das wäre zugleich ein Indiz, das darauf hindeutet, dass Tourel schon immer so war. Andererseits: Welches Kind lügt nicht? Und ist das Wegsperren in einen dunklen, feuchten Keller die angemessene Reaktion darauf?

Hier wird die Interpretation notgedrungen vage, weil der Text diesbezüglich zu wenig Informationen bietet. Festzuhalten bleibt indes, dass die Erinnerung an den Keller, die sowohl am Anfang als auch am Ende von Tourels Erzählung steht, ein ihn offensichtlich prägendes Erlebnis darstellt und dass sich Tourel darin als eine in seiner Kindheit misshandelte Person zeigt, die damit Züge eines Opfers seiner Umgebung aufweist.

4.3 Was die von Tourel geleugneten Sachverhalte über ihn sagen

Einer der für Tourel und den Roman zentralen Sachverhalte ist sein Verhältnis zu Beth. Die Bewohner bringen ihn mit ihr in Verbindung (HT, 238, 287), und er streitet dieses Gerücht später ab: „Die Behauptung, ich hätte sie [die photographischen Versuche] als Vorwand benutzt, um eine Frau wie das eben erwähnte Modell in dunkle Schlingen zu locken […,] ist aus der Luft gegriffen“ (HT, 292). Wie schon in den anderen Fällen, so ist das, was die anderen laut Tourel sagen, auch hier eben nicht völlig aus der Luft gegriffen. Während er sie fotografiert, erzählt er ihr Geschichten aus seinem Leben sowie von seinen Plänen (HT, 289), die sie später in ihren Fieberphantasien aufgreift und ausschmückt. Man könnte demnach annehmen, dass er ihr unhaltbare Versprechungen macht, an die sie naiv glaubt. Trotzdem ist es zu simpel, immer nur das Gegenteil von dem für wahr zu halten, was Tourel sagt. Es ist ja nicht alles falsch, was er äußert. Und in diesem Fall kann er sie geschickt verführt haben, aber trotzdem auch für sich damit mehr verbunden haben als nur ein einmaliges sexuelles Abenteuer.

Warum also leugnet er das Verhältnis zu Beth? Ein Grund liegt auf der Hand: Er hat sie verführt und geschwängert. Betrachtet man vorehelichen Geschlechtsverkehr als Konkubinat (oder Vorstufe dazu), zog er in der damaligen Deutschschweiz rechtliche Konsequenzen nach sich. „Mehr oder weniger repressive Gesetze gab es Mitte der 1970er Jahre in 14 Kantonen (Deutschschweiz und Wallis)“ (Head-König 2007). Überdies wollte Tourel sie zu einer illegalen und vor allem nicht-fachmännischen Abtreibung überreden. Aber es gibt weitere Gründe, die mir tiefer zu liegen scheinen. „Wenn ich hier ihren Namen preiszugeben nicht gewillt bin, so hat das lediglich mit der jedem Angehörigen meines Berufs selbstverständlichen Wahrung der Diskretionspflicht zu tun“ (HT, 287). Das ist ebenso vorgeschoben, wie seine früheren Beteuerungen, seine Bekannte sei eine von mehreren (HT, 77), unwahr sind. Mit beiden Ausreden versucht Tourel, seine Faszination oder Verliebtheit zu verleugnen. Er gibt immerzu vor, ihr gegenüber gleichgültig zu sein bzw. nur ein professionelles Interesse an ihr zu haben, lässt sich dann aber seitenweise über ihr Äußeres aus, dessen Details sich unauslöschlich in sein Gedächtnis geprägt haben (HT, 287 f.).

Wenn auch Tourels Gefühle für Beth tiefer sind als die eines Verführers, der nur auf rasche Befriedigung sexuellen Begehrens aus ist, so muss man doch auch konstatieren, dass die altruistische Komponente in Tourels Gefühlsökonomie nicht sonderlich ausgeprägt ist. Eher ist es die verklemmte Einsamkeit eines Menschen, der sich anderen, und insbesondere Frauen, nicht öffnen kann, welche ihn dazu bringt, Beths Nähe zu suchen.Footnote 22 Dabei dringt er aber – Fotograf, der er ist – nicht durch Beths Oberfläche, sondern scheint ganz auf ihr Aussehen fixiert zu sein.

Tourel beschreibt seinen eigenen Werdegang als Fotograf dergestalt, dass er sich zunächst mit unbelebten Gegenständen und dann erst mit Menschen fotografisch befasst habe (HT, 280). Das ist zwar nicht ganz richtig, erwähnt er nebenbei doch eine Anita, deren Aufnahme in seinem Zimmer in Fahris hing. Aber für seine Fotografie in Jammers trifft es zu. Hier beschäftigt er sich anfangs mit Industriefotografie, indem er immer wieder das Werk ablichtet, bis ihm eine in seinen Augen exzellente Aufnahme von der Südseite der Fabrik gelingt (HT, 132–140, 280). Doch zu mehr bringt er es nicht. Das hängt mit seiner allgemeinen Einstellung zusammen, die nicht geeignet ist für Kunst von Menschen. Er kann sich nicht auf ihre Andersartigkeit einlassen, lässt sich nicht von ihnen inspirieren, weil er an der Fotografie seinen autoritären Charakter auslebt: „Gelegentlich wechselte ich einzelne Bilder aus. Das war eine Welt, die ich bestimmen konnte, hier war mir wohl, nichts blieb mehr, was mich daran hätte stören können, und was wichtig war: sie blieb unveränderlich, blieb so, wie ich sie aufgenommen hatte“ (HT, 70).

Mit seinem fotografischen Experiment, Beths Bild zwölfmal übereinander zu belichten und somit mehr als einen Gesichtsausdruck von ihr auf ein einziges Bild zu bannen, ist Tourel jedoch nicht zufrieden. Daher verliert er das Interesse an der Fotografie, wie er selbst bekennt, was sich auch als metaliterarischer Kommentar des Autors auffassen lässt: „Sie [die Knipserei] begann mich ein wenig zu langweilen, das wohl schon. Sie machte mir die Dinge oder auch Menschen zu eindeutig, zu fertig […]“ (HT, 291). Insbesondere aufgrund des Nachsatzes, der eine fundamentale Eigenschaft des literarischen Textes aufruft, lässt sich an dieser Stelle noch ein weiterer Schluss auf die Poetik ziehen: Für den Autor ist es gerade die Mehrschichtigkeit des literarischen Textes, seine Uneindeutigkeit, mit der sich die Komplexität der Wirklichkeit angemessener erfassen lässt als mit hergebrachten, sozusagen zweidimensionalen Abbild- bzw. Mimesistechniken, die er – hier durchaus mit (dem späten) Tourel auf einer Linie – für langweilig hält. Tourel aber ist gerade nicht fähig, diese ästhetische Mehrschichtigkeit mit den Mitteln seiner Kunst herzustellen. Er sieht sie wohl – personifiziert in Beth – als erstrebenswertes Ziel an, kann dieses aber nicht erreichen.Footnote 23

Zwar könnte man auf den Gedanken kommen, Tourel als verkannte Künstlerfigur zu verstehen, denn er befindet sich am Rande der Gesellschaft und hat als einzige Figur zumindest künstlerische Neigungen und Ideen. Auch verstehen nicht alle seine Kunst, wie an Frau Castells deutlich wird, die für Mohn sorgt und einmal seine Fotografien mit einigem Befremden begutachtet (HT, 114, 131). Gegen die Hypothese vom verkannten Künstler jedoch spricht, dass Tourel immer nur sein technisches Interesse betont und eben letztlich daran scheitert, mehr als nur eine eindeutige Oberfläche aufs Fotopapier zu bringen.Footnote 24

Was ihm also fehlt, sowohl hinsichtlich der Frauen wie Beth als auch hinsichtlich der Fotografie, ist Empathie, ist der Sinn für den anderen als anderen, der Sinn für das Fremde (man beachte seine ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit). Daher kann er auch kein wahrer Künstler sein, jedenfalls nicht in Walters Verständnis. Trotzdem ist Tourel eine Art Künstler, sogar eine Art moderner Künstler, d. h. ein technokratischer Künstler, dessen einziger Held das Verfahren ist und der ebendarum künstlerisch zu kurz springt, weil ihm das Wesentliche fehlt: der Bezug zum Nächsten. Hier kommt der christliche Hintergrund des Autors ins Spiel, der der Romanwelt jedoch weitgehend fehlt und eben durch seine Abwesenheit zugleich das Manko dieser Welt charakterisiert.

Ich bin so eindeutig christlich imprägniert, daß ich – bei all meinem entschiedenen Widerspruch gegen das ganze pervertierte offizielle Christentum – eine gewisse Vorliebe für den ursprünglich revolutionären und mystischen Kern dessen, was Christus verkörpert hat, wohl immer behalten werde. (Bucher/Ammann 1971, 239)

Tourels Nächster ist einzig Albert, der in Wahrheit ein Teil seiner selbst ist. Tourel ist ein Egozentriker, dessen einzige Entschuldigung die sein könnte, dass er durch seine verkorkste Kindheit zu dem gemacht worden ist, der er ist, und nicht von Natur aus unrettbar in sich selbst gefangen und brutal seinen Mitmenschen gegenüber.

Was könnte es sein, das ihn aus dieser Situation erlöst? Gibt es im Roman den Hinweis auf eine Rettung? – Ja. Es ist sein Sohn, dessen Existenz ihm offenbar nicht völlig gleichgültig ist. Wie das Ende andeutet, macht er sich auf den Weg nach Pruntrut. Aber, so muss man wohl extrapolieren, es ist unwahrscheinlich, dass ein abgerissener, völlig entwurzelter Mensch mit großer Neigung zum Alkohol eine Chance hat, eine Beziehung zu seinem neugeborenen Sohn aufzubauen. Das Welt- und Menschenbild, das sich in den Figuren aus Jammers kundtut, ist alles in allem pessimistisch. Der Name – das ist nicht weiter überraschend – ist Programm: es ist eine bejammernswerte Welt.

Sind aber alle Figuren negativ? Gibt es keine Hoffnung, die sich in Figuren manifestiert, die aus dem Ensemble aus Ressentiment und Kleinbürgerlichkeit herausfallen? – Meiner Meinung nach sind es außer Beth die beiden Vermieterfiguren, die, wiewohl vollkommen randständig, anders sind als die anderen. Gemeint ist die von Tourel als „Kirchenmaus“ (HT, 156, 280) apostrophierte Vermieterin in Kehrbrugg, die nicht nur dem italienischen Arbeiter Peduzzi Obdach gewährt, sondern auch dem dubiosen Tourel selbst. Desgleichen der Südfrüchtehändler Kupper, der ein bisschen verrückt ist und seitenweise Bibelverse rezitiert, aber eben auch die Faulenzerei seines Untermieters duldet, der in seinem ersten Sommer in Jammers gern auf der Matratze im Hof liegt und Valpolicella trinkt (HT, 72). Er erhält ihn wie einige andere Lebensmittel auch eine Zeitlang von Kuppers „zu verbilligten Sonderpreisen“ (HT, 41).Footnote 25

4.4 Tourels Entwicklung

Betrachtet man die Chronologie der Ereignisse, so ist eine deutliche Verschlechterung von Tourels Situation zu beobachten. Scheint er am Anfang noch Geld zu verdienen und seine Miete bezahlen zu können, so lässt er mit der Zeit auch anschreiben. Bei seiner Abreise resp. Flucht aus Jammers ist er nahezu mittellos. Er nimmt das Geld des Fernfahrers an sich und kann davon eine Weile leben. Danach versetzt er seine Fotoapparate und kommt irgendwie über die Runden. Aber bei seiner zweiten Ankunft in Jammers ist er ein komplett mittelloser Obdachloser. Was geschieht dann? Die Gegenwartshandlung besteht im Wesentlichen darin, dass er zuhört und das fragmentarisch Gehörte aufschreibt. Aber es geschieht auch etwas mit ihm selbst. Das Geschriebene entgleitet ihm, wie ihm die Welt entgleitet. Schon im Kapitel mit der Überschrift „12. Juni“ hört er offenbar Stimmen in seinem Kopf – und nicht mehr nur in Coppas Biergarten oder auf der Straße:

[…] aber sie [wohl: die Stimmen] blieben mir treu, sie umschwirrten mich, das wird offenbar jede Nacht schlimmer, und was ich am meisten allmählich hasse: ich brauche, um sie zu hören, schon nicht einmal mehr zu Coppa hinüber oder in die Tripolisstraße zu gehen: das Summen ist da, kaum daß ich den Kopf an die Bretterwand lege, es umschwirrt mich, Mohns Stimme oder die Stimme der Staubluft, der Häuser, die Hornissenstimme, was weiß ich, wirklich, ich hör sie deutlich, und auch gestern, als ich schon da oben den Steg erreicht und den Uferweg wieder genommen hatte, konnte ich mir vorstellen, wies weitertönte […]. (HT, 124)

Er fühlt sich verfolgt und verleumdet, er hört Stimmen und kann Phantasie und Wahrheit immer weniger unterscheiden (wobei er aber am Ende immerhin Albert als Erfindung offenbart). Trotzdem: „Habe ich nicht Freunde?“ (HT, 330) phantasiert er in seiner letzten Rede. „Wie, wenn ich sie zusammenrufen würde, sie alle, die sie mich damals kennenlernten? Meine Zeugen. Sie werden erscheinen. Sie werden zu zwanzig, zu fünfzig, sie werden hundertstimmig hinter mich treten […]“ (ebd.). Am Ende schreit er nur noch herum, wie die Zementarbeiter bezeugen (HT, 336).

Sucht man für diese Figur nach literarischen Vorbildern, so kann man leicht bei Dostoevskij fündig werden, den Walter neben Faulkner und anderen als einen seiner Geistesverwandten nennt. „Die Heroen meiner Jugend im Wald der Literatur sind aber die Maßlosen gewesen, und sie sind es vielleicht noch heute: die besessenen, vitalen, geschlagenen Schriftsteller des Protests“ (Walter 1964, 42). Wie sehr sich der Autor selbst mit seiner Figur identifiziert, mag man an den biographischen Daten Tourels ablesen, nicht zuletzt an dem Geburtstag, der fast mit dem des Autors zusammenfällt. Aber das heißt, wie im nächsten Abschnitt dargelegt wird, natürlich nicht, dass der Held ein alter ego des Autors sei. Die Figur lässt sich nicht festlegen, wie an den widersprüchlichen Angaben über seine Motivation zu seiner ersten Abreise bzw. Flucht aus Jammers deutlich wird.Footnote 26

4.5 Wie einheitlich Tourels Eigenschaften sind: Bleibende Ambivalenzen

Peter von Matt (2008, 293) stellt in seinem Nachwort zur Neuausgabe angesichts des offenen Endes des Romans – Tourel auf dem Weg nach Pruntrut, wo er inzwischen seinen Sohn weiß – die Frage: „Bekennt er sich jetzt zu ihm [seinem Sohn], dessen Mutter er verraten hat und verderben ließ?“ Ob er sich zu seiner Verantwortung bekennt, liege außerhalb des Romans im Möglichkeitsbereich jenseits seines offenen Endes. Der Nebensatz macht aber deutlich, dass von Matt Tourel schuldig spricht. Meine bisherigen Ausführungen haben indes gezeigt, dass die im Text verstreuten Hinweise auf Tourels Kindheit dazu geeignet sind, ihn jedenfalls teilweise zu entschuldigen. Im Folgenden soll weiteres entlastendes Material präsentiert werden, das mildernde Umstände geltend macht. Überdies soll aber auch der Schuldspruch in Zweifel gezogen werden, da nichts darauf hinweist oder es jedenfalls nicht so eindeutig ist, dass er sie „verraten hat und verderben ließ“. Wessen er schuldig ist: Nicht mit dem Leben zurecht zu kommen und sich nicht zu ihr zu bekennen, als es zu spät ist. Was wiederum für ihn spricht, ist seine sofortige Abreise, als er erfährt, dass Beth zu ihrer Tante gefahren sein soll.

Auch von Matt hebt die Ambivalenz der Darstellung hervor, aber seine Deutung bleibt – das mag auch dem Genre des Nachworts geschuldet sein – inkonsequent, denn Tourels Lügen kann sich ja nur als solches erweisen, wenn gewiss ist, was fiktional wahr ist. (Darum habe ich im 2. Unterkapitel zwischen Unwahrheiten und Spekulationen unterschieden.) Man muss außerdem zwischen den empirischen Sachverhalten und den moralischen Einschätzungen unterscheiden. Nur die letzteren bleiben unklar, während sich die meisten empirischen Sachverhalte der Fiktion aufhellen lassen. Von Matt aber wendet seine Interpretation immer wieder ins Negative für Tourel: „Dieser Künstler ist aber nicht das Opfer der Gesellschaft, er tut nur so“ (2008, 298). Das scheint mir sehr viel weniger klar zu sein, als von Matts Formulierung insinuiert. Andererseits hat er recht, wenn er dennoch feststellt, dass Tourel als Figur ambivalent geschildert ist.

Von Matt hält Tourel, dem Schuft, zu gute, dass er ein „Ausgelieferter“ sei (ebd., 297), mehr aber auch nicht. Stattdessen gibt er den suggestiven Hinweis, dass der Name „Tourel“ nur zwei Buchstaben vom Wort „Teufel“ entfernt sei.Footnote 27 Mag sein. Nur muss man dazu auch bemerken, dass Teufelsmotive im Roman keine prominente Rolle spielen – wenn überhaupt. Alberts Fuchsgesicht kann einem einfallen. Von Matt bleibt konkrete Hinweise schuldig und weist auf religiöse Motive wie die Erbsünde hin. Den religiösen Subtext gibt es in der Tat. Aber dieser hat seinen Schwerpunkt auf der Christusfigur, die der 33jährige Tourel mindestens so gut verkörpert. Deutlich passender ist die Semantik des Namens, der auf das Reisemotiv anspielt, das im Text so prominent realisiert ist. Tourel ist der, der auf Reisen ist, ein Unbehauster schon seit seiner Kindheit, der niemals ankommen, nie zur Ruhe kommen wird.Footnote 28

Und evidenter als eine Teufelsallusion ist auch die Anspielung, die der Vorname leistet: Kaspar Hauser ist ein Motiv, das über den Vornamen hinaus durch weitere Hinweise im Text belegt und damit deutlich stärker realisiert ist. So ist er wie Kaspar Hauser am Pfingstmontag in der Stadt aufgetaucht, am 6. Juni 1960 (HT, 14), und hat keinen geringen Teil seiner Kindheit einsam in einem Keller verbracht. Wie bei Hauser ist seine Herkunft ansonsten ungewiss. Hinzu kommt noch ein Detail, das ihn auch mit Kaspar Hauser verbindet, der, jedenfalls nach Jakob Wassermanns Roman, wegen der für ihn ungewohnten Helligkeit mit einem „grünen Papierschirm“ ausgestattet ist (Wassermann 1908, 48). Tourels Kindheit im Keller entlastet ihn und relativiert den Richtspruch und die Schuld. Er ist ein misshandeltes, verwaistes Kind. Wenn man so will, ein Mensch ohne Gott.

Gibt es einen Hinweis darauf, warum er aus Fahris weggezogen ist? War es eine Affäre in dem Atelier? Zuerst schreibt er recht unvermittelt vertraulich, dass „selbst Anita im Laden“ über seine Ablichtungskunst erstaunt war, und dann beschreibt er sein Zimmer, das er nach und nach mit seinen Fotografien vollgehängt hat, und die Aufzählung spricht für sich:

Zwei Jahre dauerte es, bis dann auch der letzte Fetzen Tapete hinter einem Bild verschwand, – vom Fußboden bis zur Decke, beidseits des Fensters hoch, über die Tür und horizontal an die Decke geheftet, hingen Kiesel und Zahnräder und Fensterkreuze, aufgenommen im Gegenlicht, hing Anitas Mund, ihre Nackenpartie, hingen auch Milchkrüge, der geschlachtete Kopf eines Hahns, zwei Frösche und mehrere Aufnahmen von Drahtrollen, auch Autopneuprofile. (HT, 70)

Dies ist, soweit ich sehe, der einzige Hinweis auf sein Vorleben in Fahris, der zugleich als Anspielung auf ein Verhältnis zu einem weiblichen Wesen verstanden werden könnte, dessentwegen Tourel hatte gezwungen gewesen sein können, Fahris zu verlassen. Überdies ist die zitierte Passage in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Aufnahmen von Anitas Mund und Nackenpartie nennt Tourel in einem Atemzug mit unbelebten Gegenständen, von denen auch „der geschlachtete Kopf eines Hahns“ eine gewisse Beachtung verdient. Tourel möchte damit den Eindruck erwecken, dass Anita für ihn auch keine andere Bedeutung hat als Zahnräder, Tierkadaver oder Frösche. Das ist von zwei Seiten aus seltsam. Einerseits offenbart es sein Verhältnis zu Menschen bzw. Frauen, die für ihn nur ein Objekt sind. Er ist möglicherweise unfähig, sie anders als unbelebte Gegenstände wahrzunehmen. Andererseits ist es doch auffällig, dass er gerade Aufnahmen von Anita erwähnt (und nicht etwa eine seines Chefs oder seiner männlichen Kollegen). Das kann nur heißen, dass er zu ihr ein uneingestanden näheres Verhältnis hat. Die erste Seite zeigt seine dubiose Einstellung gegenüber Frauen, also seinen grundsätzlichen axiologischen bias, die zweite seine spezielle mimetische Unzuverlässigkeit in Bezug auf seine Vergangenheit unmittelbar vor seiner Ankunft in Jammers.

Demgegenüber ist er in der Axiologie des Werks insofern eher positiv, als er sich nach Pruntrut begeben will, wo er zunächst Beth wähnt und am Schluss das Kind weiß: Er bricht auf, kaum dass er erfährt, dass sie zu ihrer Tante Lucie „in die Pruntruter Gegend“ gefahren sein soll (HT, 121). Diesen Plan verfolgt er selbst dann noch, als er am Ende seiner Reise ist und, wohl ohne dass er es geplant hätte, wieder in Jammers landet, denn „in Nuglar beschloß ich erneut, nach Pruntrut zu gehen“ (HT, 319), und er gelangt doch nach Jammers, weil er „mehrere Male auf jener Fahrt in Schlaf [fiel]“ (ebd.). Seine Reise durch den Jura wäre in Wahrheit eine Reise nach Pruntrut. – Allerdings: Er fährt, als er Jammers verlässt, zunächst „südostwärts“ (HT, 98), Richtung Huttwil oder Luzern. Das ist genau die entgegengesetzte Richtung, was wiederum eher für eine Flucht spricht. Auch seine spontane Antwort, dass er nach Kehrbrugg wolle, spricht nicht dafür, dass er einen Plan habe, sondern hauptsächlich aus Jammers wegkommen möchte.Footnote 29 Schließlich sitzt er, Monate später, bei seiner Flucht aus Neuchâtel in einem Lastwagen, der nach Pruntrut fährt, aber er steigt unterwegs aus, um, wiewohl erfolglos, seine Spuren zu verwischen.

Zudem gibt es andere Hinweise, die darauf hindeuten, dass Tourel abreist, weil sich seine Situation auch in anderer Hinsicht zuspitzt. In der Zementfabrik kündigt sich ein Streik an, den er angeblich mit angestoßen hat. Zugleich steht er aber im Verdacht, für die Fabrikbesitzerin spioniert zu haben. Das könnte ihm den Zorn der Arbeiter eingetragen haben, vor dem er sich nun in Sicherheit bringen will. Nach von Matt (2008, 301 f.) hat er „die Arbeiter […] zu einem dilettantischen Streik ohne gewerkschaftliche Abstützung aufgehetzt und sich schließlich vor aller Verantwortung durch Abhauen gedrückt.“ Dass der Streik dilettantisch organisiert war, lässt sich nicht ohne weiteres behaupten. Ob er deswegen verschwunden ist oder wegen der Information, Beth sei nach Pruntrut zu ihrer Tante gefahren, bleibt offen.

5 Schluss

Die Unzuverlässigkeit Tourels ist nicht nur ein narrativer Trick, um modernes Erzählen zu illustrieren. Die Funktion dieses den gesamten Text durchdringenden Erzählverfahrens besteht auch darin, Tourels Charakter darzustellen. Poetologisch gesehen, macht die Unzuverlässigkeit den Text opak. Das heißt aber nicht, dass der Text damit die Pseudo-Weisheit vermittelt, es gebe keine Wahrheit in dieser Welt. Dass Tourels Erzählmanier den Text opak macht, bedeutet keineswegs, dass sich nichts hinter dem trüben Schleier seiner Unzuverlässigkeit verbirgt, und auch nicht, dass dieser Schleier sich nicht lüften lässt. Wie man nach diesem Kapitel sehen kann, lässt sich eine Menge rekonstruieren. Nicht jeder bestehende Sachverhalt lässt sich bis ins kleinste Detail aufhellen. Aber die meisten Fragen zum Ablauf und zu den Handlungsmotiven lassen sich klären.

Tourels Unzuverlässigkeit ist nicht das einzige Verfahren, das diesen Roman prägt. Es wird unterstützt von einem weiteren Motiv, das zugleich eine wichtige Eigenschaft der erzählten Welt ist: vom Staub der Zementfabrik, der sich auf die ganze Umgebung legt. Er trübt nicht nur die Sicht und macht die verschiedenen Gegenstände nahezu gleichfarbig, er dringt auch in die Atemwege und Augen ein und ist ein Anlass für den Streik. Nicht zuletzt stört er Tourels Fotografie, wie er selbst sagt.Footnote 30

Mehrere weitere prominente Motive müssen hier noch erwähnt werden, Tiermotive, von denen die einen – Marder – in Verbindung mit Tourel bzw. Albert stehen und die anderen – Schnecken – mit einer Figur, die als intradiegetischer Erzähler eine wichtige Position in der Vermittlungsstruktur besetzt. Die Marder lassen sich als Hypostasierungen von Tourels Ängsten auffassen. Als Kind wurde er in den Keller gesperrt und schrie vor Angst, als er sie entdeckte (HT, 327), an die Schnecken verfüttert Mohn am Ende Tourels Manuskript. Auch Hornissen sind wichtig. Sie stehen mit Beth bzw. Jehebs Haus in Verbindung sowie mit dem Gerede der Leute, das in Tourels Kopf als Gesumme ankommt.

Man kann daran leicht sehen, dass die komplexe Vermittlungsstruktur, die in diesem Kapitel detailliert analysiert wurde, nicht alles ist, was diesen Roman ausmacht, der damit noch längst nicht ausinterpretiert ist. Otto F. Walter ist ein Autor, dessen Werk noch zu entdecken ist.