Unzweifelhaft haben Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt der Literatur der Schweiz nach 1945 zu internationalem Ansehen verholfen. Ihre besondere Stellung innerhalb der Schweiz verdankt sich nicht zuletzt ihrer kritischen Haltung gegenüber in der Schweiz weithin anerkannten politischen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Die nächste Autorengeneration, die nicht nur in der Schweiz, sondern überall aufmüpfiger war, konnte daran anknüpfen. So gesehen, lässt sich von einer Tradition kritischer Literatur sprechen, die mit Frisch und Dürrenmatt einsetzte.

Dieses und das nächste Kapitel sollen zeigen, dass einige Vertreter dieser Autorengeneration, wie Walter M. Diggelmann, Walter Vogt und Otto F. Walter, auch das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens nutzen.Footnote 1 Darin kann man ein Indiz dafür erblicken, dass sich die Traditionsbildung nicht nur auf die gesellschaftskritische Haltung der Autoren erstreckt, sondern auch auf die erzähltechnischen Mittel, deren Konzentration in der Schweizer Erzählliteratur offenbar viel stärker als anderswo ist. Gleichwohl haben die Autoren, um die es jetzt geht, kaum über die Schweiz hinaus gewirkt. Die folgenden Untersuchungen zeigen, dass ihre Werke durchaus für ein breiteres Interesse taugen.

Im vorliegenden Kapitel stelle ich drei Werke von Diggelmann und Vogt vor, im nächsten gehe ich in der ersten von drei Detailstudien ausführlich auf einen Roman von Walter ein, Herr Tourel aus dem Jahr 1962. Auch wenn sich die Analysen in ihrer Ausführlichkeit unterscheiden, gleicht sich die Vorgehensweise. Wie in der Detailanalyse des VI. Kapitels arbeite ich auch in den folgenden Kurzanalysen auf der Basis von Angaben zur Erzählkonzeption einige Anomalien heraus, aus denen sich die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz ergibt, und gebe anschließend Hinweise zu einer Interpretation, die diese Ergebnisse berücksichtigt.

1 Problematisierung der Wahrheit bei Walter M. Diggelmann

Bekannt geworden ist Walter Matthias Diggelmann als Autor politisch engagierter Literatur, dessen Romane wie Die Hinterlassenschaft (1965) mit Hilfe dokumentarischer Verfahren zur Aufklärung fragwürdiger politischer und ökonomischer Kooperationen in der Schweiz beitrugen und der aufgrund provokativer Thesen wie der Parallelisierung von (deutschem) Faschismus und (schweizerischem) Antikommunismus oder zur Beteiligung der Schweiz am geraubten Nazi-Vermögen und zu ihrer Asylpolitik in dieser Zeit schweren Anfeindungen ausgesetzt war. Bei wem die politische Botschaft eindeutig ist, weil im Vordergrund der Romanhandlung und weil leicht zu entdecken, bei dem kann es mit der Kunst nicht weit her sein, mögen viele denken. Doch so einfach sollte man es sich nicht machen. Zumindest zwei frühere Romane sind für den Literaturwissenschaftler auch jenseits des Interesses an dokumentarischen Verfahren interessant, da in ihnen der Wahrheitsbegriff in Verbindung mit dem Erzählen verhandelt wird. Beide Romane, der frühere Roman Geschichten um Abel (1960) – nach … mit F-51 überfällig (1955) und Die Jungen von Grand-Dixence (1959) Diggelmanns dritter insgesamt – wie auch der folgende Das Verhör des Harry Wind (1962), verknüpfen autobiographische Elemente mit zeitkritischen Aspekten, wobei insbesondere der letztere auf die politische Thematik der weiteren Romane Diggelmanns vorausweist.Footnote 2

1.1 Von der existentiellen Bedeutung des Erzählens: Geschichten um Abel (1960)

Da dieser Roman eher untypisch für Diggelmann ist, wurde er bislang wenig beachtet. Schon seine äußere Anlage weist eine gewisse Schwierigkeit auf, weil es sich, wie man den Titel zunächst verstehen könnte, um verschiedene Geschichten handelt, also einen Band mit Erzählungen und nicht um einen Roman. Doch sind die Geschichten durchaus nicht nur locker um eine sie verbindende Figur namens Abel gruppiert. Wie im Folgenden herausgearbeitet wird, geht es nicht um ein paar zufällige Geschichten im Sinne von willkürlichen Impressionen, die das Leben des Protagonisten charakterisieren, sondern um Versionen eines Lebens – und das vier Jahre vor Frischs Mein Name sei Gantenbein.Footnote 3

Dem Roman liegt eine Rahmenstruktur zugrunde, in die insgesamt acht Geschichten eingebettet sind. Bis auf die letzte Geschichte sind die intradiegetischen Erzählungen durch Überschriften im Text abgehoben. Rahmen- und Binnenerzählungen haben denselben Urheber. Beider Ich-Erzähler ist Carl Joseph Abel, der in den eingelagerten Geschichten sein Leben und dessen Vorgeschichte rekapituliert und in der Rahmenerzählung darüber und über seine Beziehung zu einigen seiner Mitmenschen sinniert. Die Rahmenerzählung ist im Wesentlichen identisch mit der Erzählgegenwart, die mit dem Ende des Romans zum Abschluss kommt. Sie ist durch Zeitangaben strukturiert und erstreckt sich von 16 Uhr bis 11 Uhr am nächsten Tag. Die Binnenerzählungen sind demnach retrospektiv angelegt, die Rahmenerzählung sukzessiv.

Auch über das Verhältnis von Rahmen- und Binnenerzählungen lässt sich etwas sagen. Zwischendurch kommt Abel innerhalb der Rahmenerzählung auf seine Geschichten zu sprechen: „Und seit ich nun da sitze, mein Leben rekapituliere“ (GA, 67), heißt es nach Ende der vierten intradiegetischen Erzählung. Daraus kann man schließen, dass Abel in der Erzählgegenwart diese Geschichten denkt. Doch soll man sie sich nicht als spontane Einfälle vorstellen. Vorher bezieht er sich schon proleptisch auf diese Geschichten. Er berichtet von seiner Arbeit und davon, dass er Klienten „aus meinem eigenen Leben“ erzähle: „Die Geschichte meiner Herkunft, oder die Geschichte mit den Briefen an Sandra, oder die Geschichte vom Krieg“ (GA, 12). Wie man nach und nach erfährt, müssen das genau die Geschichten sein, die er in der Folge präsentiert. Daraus ergibt sich, dass die Geschichten keine ad hoc gebildeten Produkte sind, sondern abgeschlossene und inhaltlich festgelegte Geschichten, die er bereits erzählt hat. Die Spanne der Geschichten reicht von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu der Nacht, sieben Jahre vor der Erzählgegenwart, als Abel seine künftige Frau Warja kennenlernt.

Hier schließt sich der Kreis, denn der Roman setzt ein mit der Information (innerhalb der Rahmenerzählung), dass dieselbe Warja den Erzähler verlassen will. Zur Begründung gibt sie an, dass sie „Angst“ habe vor ihm (GA, 6). Die Reaktion des Erzählers ist verhalten. „Was sollte ich darauf antworten? Ich konnte nichts anfangen mit ihrem Geständnis“ (ebd.). Er beschreibt sich selbst als Gewohnheitstier, das sich jeden Samstag im Anschluss an den Nachmittagsschlaf um 16 Uhr einen Filterkaffee zubereitet und zwei Zeitschriften liest. Anders als gewöhnlich trinkt er diesmal aber auch Beaujolais, den er sonst erst abends zu sich nimmt, und zwar durchaus reichlich, wie er später bekennt: „mir nichts dir nichts einen bis zwei Liter am Abend“ (GA, 56). Zugleich besteht er darauf: „Ich bin kein Alkoholiker“ (ebd.). Es lässt sich damit eine erste Anomalie notieren, die auf eine mangelhafte Selbsterkenntnis hindeuten könnte. (Sicher ist es indes nicht, da regelmäßiger Alkoholkonsum nicht unbedingt mit Alkoholismus gleichgesetzt wird.) Ähnlich zweideutig ist auch seine anschließende Verlautbarung über sein Verhältnis zu Geld: „Ich bin auch nicht verschwendungssüchtig, obwohl ich das Geld leicht ausgebe“ (ebd.). Später, in der Nacht, erwähnt er die fast leere Weinflasche vor sich auf dem Tisch. „Aber ich bin nicht betrunken“ (GA, 150), beeilt er sich zu sagen, um dann festzustellen: „Ich bin doch betrunken“ (ebd.). Es ist dadurch immerhin mit einer zunehmenden Verwirrung seiner Sinne zu rechnen.

Es gibt weitere Hinweise, dass Abel seine Situation nicht angemessen einschätzt. Auffällig ist, dass er nicht nach Gründen für Warjas Entschluss sucht, sondern angibt, was vermutlich nicht der Grund war: „Ich glaube nicht, daß in solchen Fällen immer ein anderer Mann oder eine andere Frau dahinter stecken muß“ (GA, 6). Als Warja sich verabschiedet, sagt sie, dass sie ins Kino gehen und sich dann mit einer Freundin treffen wolle, aber Abel vermutet, dass sie sich mit Hanno treffe, seinem „Jugendfreund“ (GA, 8), wie er ihn kurz darauf nennt, und jetzigen Geschäftspartner. Wiederum lässt sich eine Anomalie konstatieren: Einerseits vermutet er, dass Warja ihn belügt, weil er meint, sie treffe sich nicht mit einer Freundin, sondern mit Hanno; und andererseits streitet er ab, dass ein anderer Mann der Grund für Warjas Trennung sei. Und noch etwas ist seltsam: Warja kündigt an, in der Nacht zurückzukommen. Abel solle sich um Oliver, den gemeinsamen Sohn, kümmern und ihn rechtzeitig ins Bett schicken. Tatsächlich aber kehrt sie nicht zurück. Am nächsten Morgen kommt Abels Schwiegermutter und holt Oliver ab. Sie bestätigt, dass Hanno und Warja ein Paar sind, wenngleich diese Information Abel mehr oder weniger implizit erreicht. Warjas Mutter erklärt, dass sie Hanno und Warja „in letzter Zeit immer auszureden versucht“ habe, Abel sei „ein gefühlskalter Mensch“ (GA, 170). Damit widerlegt sie zugleich seine Selbsteinschätzung, die er am Anfang gegeben hat.

Dies ist das Szenario, das Abels mimetischer Unzuverlässigkeit zugrunde liegt. Sie besteht zunächst in einer falschen Einschätzung seiner Situation. Warja verlässt Abel seines Freundes und Geschäftspartners Hanno wegen und hat ihn wohl schon eine ganze Weile hintergangen. Das ist etwas, das Abel sich nicht eingestehen kann. Auch seine Geschichten, in denen Hanno immer wieder vorkommt, deuten nicht darauf hin. Insofern gibt er mit Bezug auf sein Verhältnis zu Hanno bis zu dem abschließenden Gespräch mit seiner Schwiegermutter etwas Falsches zu verstehen.Footnote 4

Ebenso unzutreffend ist, wenn er zu verstehen gibt, dass er sich für gleichgültig hält. Angesichts der Trennungsabsicht Warjas meint er: „Die Wahrheit aber ist, daß ich schon längst aufgehört habe, mich aufzulehnen. Ich habe gelernt, das Leben als eine Kette von ‚Abschied nehmen müssen‘ zu betrachten. Ich bin nicht für den Aufschub. Das ändert die Welt nicht“ (GA, 7). Hier und anderswo gibt sich Abel als Zyniker und Fatalist, dem nichts etwas auszumachen scheint. Zugleich aber ist Warjas Ankündigung, wie bereits erwähnt, Anlass, bereits am Nachmittag mit dem Trinken zu beginnen und „eine Gauloise nach der anderen“ zu rauchen (GA, 6). Sein Verhalten spricht offenbar eine andere Sprache, und seine Schwiegermutter könnte also mit ihrer Einschätzung, dass er nicht gefühlskalt sei, recht haben. Damit entspräche auch sein Selbstbild nicht der Wahrheit. Eine weitere Textstelle bestätigt dies. Ihr zufolge hat er in Warja eine Gleichgesinnte gesehen, „mein Spiegelbild“ (GA, 68). Aus seinen Worten wird deutlich, dass er ihr gegenüber nicht gleichgültig ist, sondern sein Herz an sie gehängt hat. Die Wahrheit ist, dass er die Demütigungen seines Lebens laufend verdrängt und eine Mauer um sich herum errichtet hat, um den Schmerz, der ihm zugefügt wird, nicht an sich herankommen zu lassen. Die meisten anderen, selbst seine Nächsten, Warja und Hanno, sind unfähig, ihn zu durchschauen. Er selbst ist dazu nicht fähig. Allein seine Schwiegermutter erkennt den Mechanismus.

Entscheidend für diese Erklärung sind die Geschichten, die er sich selbst und anderen erzählt. Der Trick, auf dem die Unzuverlässigkeit diesbezüglich beruht, ist die Verknüpfung oder gar Überblendung des Wahrheitsbegriffs mit dem Begriff des Geschichtenerzählens durch den Erzähler. Auffällig ist, dass Abel von Beginn an auf der Wahrheit seiner Geschichten besteht, er betont insbesondere, dass er im Unterschied zu seinen Mitmenschen auch vor hässlichen Wahrheiten nicht zurückschreckt. Dies lässt ihn zunächst einmal besonders zuverlässig erscheinen, da er so viel Wert auf seine Aufrichtigkeit legt und die anderen damit als verlogen kennzeichnet. Dieses Motiv verdeckt die Unzuverlässigkeit des Erzählers in anderer Hinsicht.

Das Sinnbild, das der Roman für die allgemeine Verlogenheit anbietet, ist die PR-Agentur, die Hanno und der Erzähler leiten.Footnote 5 Die Aufgabe der damals noch neuen Einrichtung ist, Geschichten zu kreieren, um Meinungen zu beeinflussen. Hanno und Abel haben allerdings jeweils ein anderes Verständnis ihrer Arbeit, nicht nur unterschiedliche Aufgaben in der Agentur selbst – Hanno „als Administrator“, Abel als „ihr Repräsentant und ‚Außenminister‘“ (GA, 11). Im Unterschied zu Hanno weiß Abel, „was die Kunden von uns erwarten“ (ebd.) und wie mit ihnen umzugehen ist. „Nur ich durchschaue ihre wirklichen Absichten, während Hanno stets auf ihre Beteuerungen hereinfällt“ (ebd.). Hanno begreift die Agentur als Angebot für Firmen, ihre Ziele nach außen sichtbar zu machen, somit als Verstärker und nicht etwa als Mittel zur Manipulation. Das aber ist es, was Abel unter der Arbeit versteht, und den Kunden verhehlt er dieses Verständnis nicht. „Wir lügen und betrügen ja auch“, meint der Erzähler (GA, 32).

An beiden Stellen kommt er auf seine Geschichten zu sprechen. Sind die Kunden störrisch und beharren auf ihrer Aufrichtigkeit, gibt Abel eine seiner Geschichten zum besten, um die Kunden für seine Position einzunehmen und ihnen deutlich zu machen: „Sehen Sie, wir alle sind Gauner“ (GA, 12). Dafür hat Hanno gar kein Verständnis. Er lehnt nicht nur Abels Einsatz von Geschichten ab, sondern auch ihre Inhalte: „Nicht nur, daß du Geschichten erzählst, ist widerlich, sondern deine Geschichten selbst sind es“ (GA, 13). Dies ist für den Erzähler Anlass, auf der Wahrheit seiner Geschichten zu bestehen. Ein ums andere Mal betont er dies: „Ich habe wirklich nicht im Sinn, die Wahrheit zu unterdrücken“ (ebd.). Darin drückt sich allerdings auch die Möglichkeit aus, dass es ihm nicht immer gelinge. So auch an späterer Stelle: „Ich habe den Willen zur Wahrheit“ (GA, 45).

Zwar profiliert sich der Erzähler gegen die Unaufrichtigkeit der anderen, doch das Wiederholen des Wahrheitsanspruchs und die Formulierungen selbst lassen zumindest hellhörig werden. Und schon in der ersten der zitierten Passagen gibt es eine weitere Anomalie zu entdecken. Einerseits schreibt Abel Hanno die Behauptung zu, „die Menschen mögen die Wahrheit nicht“ (GA, 13), und insinuiert damit, dass Hanno seine, Abels, Geschichten für wahr hält und deswegen für „widerlich“ und den anderen nicht zumutbar; andererseits die Behauptung, Abel sei „nicht imstande, den Wahrheitsbeweis für [s]eine Geschichten zu erbringen“ (ebd.). Am Ende bestätigt sich, dass Hanno Abels Geschichten keinen Glauben schenkt. Es stellt sich damit die Frage, ob in der erzählten Welt wahr ist, was Abel für wahr hält und als wahr darstellt.

Wie sieht es also mit dem Wahrheitsgehalt der intradiegetischen Erzählungen aus? Die erste mit dem Titel „Der Held von Flitsch“ (GA, 14) handelt von Abels mütterlichem Familienzweig, der aus Österreich stammt und mit Abels Urgroßvater beginnt. Von ihm erzählt als sekundärer, intradiegetischer Erzähler der Vater von Abels Mutter, der Freiherr Freistritz von Trofaiach. Es ist das Jahr 1917, und der Freiherr erinnert sich, in seinem Kabinett vor einem Bild des Kaisers stehend, an seinen Vater, also Abels Urgroßvater. Während des Hochzeitsbanketts des intradiegetisch erzählenden Freiherrn, der mit einer geborenen von Hohenberg in den Adel einheiratet, behauptet sein angetrunkener Vater (Abels Urgroßvater), um seine Schwiegertochter zu demütigen, dass er als unehelicher Sohn einer Störschneiderin 1839 geboren worden sei (GA, 19). In Diensten der französischen Armee will er den Krimkrieg mitgemacht haben. 1856, also mit siebzehn Jahren, wird er von General Pélissier, dem Oberkommandierenden, damit beauftragt, Gerät und Waffen mit dem Schiff nach Bulgarien zu transportieren. Offenbar unterschlägt er das Frachtgut und veräußert es an einen griechischen Händler. Damit beginnt seine Karriere als Waffenhändler, als der er vom österreichischen Kaiser bald aus Dankbarkeit in den Adelsstand erhoben wird (vgl. GA, 18). Später heißt es jedoch, er sei mit „dreiundzwanzig Hauptmann bei den Franzosen“ (GA, 20) geworden und habe dann erst die Waffen unterschlagen. Die Angaben sind widersprüchlich.

Auch der Urgroßvater wird mehrfach als Geschichtenerzähler charakterisiert, und auffällig ist, dass er und seine Schwiegertochter trotz der Demütigung und aller Unterschiede einander zugetan sind. Sie ergreift Partei für ihn, indem sie seine Schwäche – das Geschichtenerzählen – als Selbstschutz interpretiert, weil er als Soldat so viel Leid und als Waffenhändler ein schlechtes Gewissen habe (vgl. GA, 19). Diese Konstellation kennt man auch aus dem Leben des Erzählers. Und die Mutter Abels, des primären Erzählers, die das Selbstgesprächs ihres Vaters (des sekundären Erzählers) belauscht, bestätigt dies. Sie wisse, „daß die Geschichten alle erfunden sind“ (GA, 22), sagt sie ihm und fügt, auf ihren Großvater gemünzt, hinzu: „Er kleidet die Wahrheit in Geschichten. Es ist so, wie Mutter sagte: Er leidet unter dem, was er auf den Schlachtfeldern gesehen hat“ (ebd.).

Die eigentliche Pointe dieser ersten Geschichte ist jedoch eine andere. Sie hat mit Abels Onkel zu tun, dem um zwei Jahre jüngeren Bruder seiner Mutter, der auch schon Carl Joseph heißt und auf den der Titel der Geschichte anspielt. Abels Großvater, der Freiherr, ist in die Planungen der letzten Isonzo-Offensive eingebunden. Weil er jedoch selbst nie Soldat war, begreift er es als Makel, dass niemand in seiner Familie dem Kaiserreich als Soldat dient. Mit der Unterstützung seiner Tochter erreicht er, dass sich sein Sohn Carl Joseph freiwillig meldet. Nach der erfolgreichen Schlacht kommt dieser jedoch nicht nur nicht zurück; die Familie erfährt sogar durch den desertierten Patensohn des Freiherrn, dass Carl Joseph beim Überlaufen gestellt und dann, weil er nicht Manns genug war, sich selbst zu richten, auf der vorgetäuschten Flucht erschossen worden sei (GA, 31). Das wahre Ereignis wird in eine Heldentat umgelogen, so dass es Carl Joseph die Ehre rettet und ihm als einem der Helden von Flitsch posthum den Maria-Theresia-Orden einbringt.

Aus dieser Geschichte ergibt sich in der Folge, dass die Existenz des Erzählers für seine Mutter den Verlust des Bruders kompensiert, an dessen Tod sie sich schuldig fühlt. Darum auch derselbe Name. In einem späteren Gespräch zwischen seinen Eltern, das der Erzähler im Rahmen der zweiten Geschichte belauscht, gibt seine Mutter ihrer Hoffnung Ausdruck, „daß unser Carl Joseph das Leben leben wird, das ich meinem Bruder zerstört habe“ (GA, 43).Footnote 6 Diese Vorgeschichte erklärt, warum sich der Erzähler von seiner Mutter nicht angenommen fühlt. Sie ignoriert die Identität ihres Sohnes, weil sie in ihm immer ihren Bruder sieht. Andererseits gehört sie aber zu den Geschichten, die sein Geschäftspartner Hanno für besonders zweifelhaft hält. Eine alternative Geschichte hält der Roman nicht bereit, die als Teil einer diegetischen Erklärung dafür herhalten könnte, dass die Familiengeschichte erfunden ist. Daher lässt sie sich nicht widerlegen. Doch geben die vielen Parallelen Anlass zu der Vermutung, dass es sich zumindest teilweise um Projektionen des Erzählers handeln könnte.

Im Übrigen spielt insbesondere der familiäre Waffenhandel auch in die Beziehung der Eltern hinein, so dass nicht alles unwahr sein kann. Auch taucht die Figur des Patensohns noch einmal auf. Laut der kurzen fünften Geschichte mit dem Titel „Sandra“ (GA, 69) trifft der zwanzigjährige Abel auf der Suche nach seiner von zu Hause entlaufenen Schwester diesen Patensohn namens Willibald von Stroheim 1939 wieder. Ihn gibt er als Quelle für die erste Geschichte an. Allerdings besteht von Stroheim darauf, „damals nicht desertiert, sondern regulär beurlaubt worden zu sein“ (GA, 73). Die „Fahnenflucht sei ein bloßes Hirngespinst meines Urgroßvaters gewesen“ (GA, 74).

Man sieht, die Geschichten widersprechen sich teilweise gegenseitig zumindest in einigen Details, so dass sie auch Unwahrheiten enthalten müssen. Da nichts darauf hindeutet, dass die erzählte Welt alternative Wahrheiten enthält, gibt der Erzähler also Falsches zu verstehen, auch wenn sich am Ende nicht immer sagen lässt, welche der angegebenen Sachverhalte in der erzählten Welt bestehen.Footnote 7 Die Quintessenz der ersten Geschichte lässt sich also in den manipulativen Anteilen dessen sehen, was später als Wahrheit angesehen wird. Abels Wahrheit ist, dass das, was als wahr gilt, immer persönlichen Interessen gemäß geformt, zurechtgebogen oder gebeugt ist. Trotzdem stellt er seine Geschichten so hin, als seien sie wahr.

„Ich weiß nicht, was an dieser Geschichte widerlich sein soll“ (GA 32), greift der Erzähler am Ende der Geschichte Hannos Abneigung auf. Den Widerwillen Hannos erregt die Geschichte, weil sie ein Beispiel für die Verlogenheit der Ehre- und Vaterlandsdiskurse ist und weil sie deutlich macht, inwiefern historische Wahrheiten abhängig sind von persönlichen Entscheidungen. In Abgrenzung zum Urgroßvater des Erzählers ruft der Großvater aus: „Seit dreißig Jahren bemühe ich mich, dem Hause Freistritz eine ehrwürdige Geschichte zu geben“ (GA, 21). Geschichten sind dem Roman zufolge als strategisch eingesetzte subjektive Wahrheiten zu verstehen. Das ist die Einsicht des Erzählers, von der sich Hanno nicht überzeugen lassen will. In dieser Hinsicht ist Carl Joseph Abel als zuverlässig einzustufen, und das ist die Wahrheit, die für ihn gilt. Alles andere steht zur Disposition, und entsprechend sind auch in den anderen Geschichten immer wieder Hinweise eingestreut, die das Bestehen der Sachverhalte in Frage stellen, obwohl er sie so darstellt, als seien sie wahr.

In der zweiten Geschichte mit dem Titel „Die Mystifikation“ (GA, 35) geht es um die Beziehung der Eltern des Erzählers, die im März 1919 geheiratet haben, nachdem Maria Theresia, seine Mutter, in die Schweiz gekommen war. Vier Monate später wird der Erzähler geboren, zwei Jahre danach seine Schwester Sandra. Am zehnten Hochzeitstag kommt heraus, dass Peter Abel, ein ehemaliger Stehgeiger, in einer Firma arbeitet, die dem Kompagnon seines (nach Kriegsende bald verstorbenen) Schwiegervaters, des Freiherrn, gehört. Als seine Frau fragt, wie es dazu kam, gesteht er, dass er, als sie sich kennengelernt hatten, in ihren Briefen gelesen und von der geschäftlichen Verbindung erfahren habe. Als ihr Mann konnte er in die Firma eintreten und Karriere machen. Er hat ihr nachspioniert, weil er wissen wollte, wer sie ist. Sie hatte ihm ebenso die Wahrheit über sich verschwiegen wie er den Hintergrund seiner Anstellung.

In dieser zweiten Geschichte wird ein weiteres Motiv dominant: das Motiv der körperlichen Ähnlichkeit und der Überblendung personeller Identitäten, das den Roman immer stärker beherrschen wird. Peter Abel ist ein schmächtiger Typ wie das Kriegsopfer Carl Joseph. Die Mutter des Erzählers sucht sich den mittelmäßigen Geiger seiner Statur wegen aus und nennt ihn in ihrem Wahn während der ersten Nacht immer Carl Joseph (GA, 41 f.). Das Kind, das in dieser Nacht gezeugt wird – der äußerlich seinem Urgroßvater ähnelnde, kräftige Erzähler nämlich –, wird von Peter Abel emotional nicht angenommen. Der zehnjährige Erzähler hört dieses Gespräch an, ohne es zu verstehen, aber es ist der Grund dafür, warum sich zwischen ihm und seinem Vater „jener Abstand eingestellt“ hat, „der mich immer daran hinderte, in ihm mehr als das Oberhaupt der Familie zu erkennen“ (GA, 45).

Diese Geschichte leistet also mehreres. Sie zeigt, wie die Lüge selbst das Vertrauteste prägt, das ein Kind hat: die Beziehung der eigenen Eltern. In psychologischer Hinsicht wird damit die Entfremdung von den Eltern deutlich, die der Erzähler in der Kindheit erlebt, und sie gibt die Ursache für die Entstehung familiärer Allianzen an: Mutter/Sohn vs. Vater/Tochter. Und auch hier wieder stehen verschiedene Versionen einander gegenüber: die öffentliche Legende und die private Wahrheit. Bezeichnenderweise beschließen die Eltern, die Wahrheit den Kindern vorzuenthalten (GA, 43 f.). Damit wird nicht nur das Thema der ersten Geschichte in einer Variation fortgeführt, sondern auch ein Grund für die Prägung des Erzählers angegeben.

Die nächsten drei Geschichten handeln von Jugenderlebnissen des Erzählers: vom Tod eines Mitschülers im Dezember 1935, an dem der Erzähler als sechzehnjähriger wohl beteiligt ist, von dem folgenden Wechsel an ein Internat ein halbes Jahr später, wo der Erzähler den gehbehinderten Hanno, seinen späteren Geschäftspartner, kennenlernt, und von dem Verschwinden Sandras 1939, nachdem sie von der Mutter mit einer Reitgerte geschlagen wurde, weil sie die Geschwister bei einer vermutlich inzestuösen Begegnung angetroffen hatte. Wiederum widerspricht sich der Erzähler und bietet verschiedene Versionen einzelner Ereignisse an, ohne jedoch auf die Widersprüche einzugehen. Das betrifft nicht nur seine Beteiligung am Tod des Mitschülers, sondern auch seine Affären mit Mitschülerinnen im Internat, das als Ableger der Odenwaldschule gekennzeichnet ist. Wiederum auch sind die einzelnen Ereignisse eng miteinander verwickelt.

Mit Blick auf die Rahmenerzählung ist eine Intrige von Bedeutung, die der Erzähler als Schüler im Internat anzettelt. Um dem Wunsch seiner Schwester nach Post von ihm zu entsprechen, instrumentalisiert er, der schreibfaul ist, Hanno, der sich nach einem Mädchen sehnt, aber wegen seiner Gehbehinderung keinen Kontakt bekommt. Hanno verfasst wunderschöne Briefe an Sandra, die er nur einmal bei der Ankunft des Erzählers gesehen hat. Dieser gibt die Briefe als seine aus und erklärt seiner Schwester, dass er sie mit „Hanno“ unterschreibe, weil sie im Internat alle Spitznamen hätten; er eben heiße dort Hanno. Durch diesen Kniff erreicht er, dass Sandras Antworten an Hanno gerichtet sind. Die Folge ist nicht nur, dass der richtige Hanno zufrieden ist, sondern auch, dass sich Sandra aufgrund der Briefe in ihren Bruder verliebt und es zu dem sexuellen Kontakt zwischen beiden kommt, der wiederum Ursache für Sandras Flucht ist und für den Aufbruch des Erzählers ins nationalsozialistische Deutschland, aus dem er wegen des Kriegsbeginns nicht mehr entkommen kann. Es gelingt ihm nicht, Sandra zu finden, und er hält sie für tot. Die Familiengeschichte wiederholt sich: Nach Kriegsende fällt sein Blick nicht zuletzt deshalb auf Warja, weil sie offenbar seiner Schwester ähnlich sieht (wie schon Peter Abel seinem Onkel Carl Joseph glich). „Obwohl ich wußte, daß es nicht Sandra sein konnte, war ich betroffen“ (GA, 161). Diese Ähnlichkeit wiederum ist es auch, die Hanno dazu führt, ein Auge auf Warja zu werfen. Am Ende stöbert Abel, auf der Suche nach dem Tagebuch von Warja, in ihren Sachen und findet ein Foto, das sie als Sandra zeigt und das angeblich Hanno gemacht hat. Woher er das weiß, bleibt freilich ungesagt. Die Mystifizierung der Vergangenheit wird immer weiter getrieben, insofern am Ende die Existenz Sandras überhaupt in Frage gestellt, dann aber im abschließenden Gespräch zwischen Erzähler und Schwiegermutter erwähnt wird, dass Hanno Sandra wiedergefunden habe. Zu erklären ist dies dadurch, dass Abel nach der Fiktion lebt, Warja sei für ihn einzigartig; in Wahrheit kompensiert er an ihr, die seiner Schwester so ähnlich sieht, sein Schuldgefühl, weil er für ihren mutmaßlichen Tod verantwortlich zu sein glaubt. Je weiter der Abend voranschreitet und je mehr Abel trinkt, desto weniger kann er zwischen seiner Schwester und seiner Frau unterscheiden.

Man könnte nach alldem zu dem Schluss kommen, dass mit dem Fortschreiten des Romans nicht nur die einzelnen Sachverhalte, sondern sogar die Existenz einer Figur fraglich wird. Die mimetische Unzuverlässigkeit ist jedoch ein Mittel, das den instrumentellen Zugang zur Wahrheit in Szene setzt. Nicht Krankheit, nicht Erinnerung, sondern Anpassen der Wahrheit an bestimmte Ziele ist in diesem Roman das, was mit dem unzuverlässigen Erzählen ausgedrückt werden soll – einerseits. Andererseits drückt sich in den Lücken, die der Erzähler lässt, auch eine psychische Not aus, sich bestimmte Dinge nicht einzugestehen wie etwa die Beteiligung des Erzählers am Tod des MitschülersFootnote 8 oder seine Verantwortung für das Verschwinden und den vermeintlichen Tod der Schwester.Footnote 9

Es bleiben noch zwei Aspekte zu untersuchen, die als Erklärung für die Unzuverlässigkeit des Erzählers und seinen speziellen Zugang zur Wahrheit dienen können. Zum einen ist da das umgekehrte Mephistopheles-Motiv, das eine Brücke sowohl zwischen den einzelnen Geschichten zur Tätigkeit des Erzählers in der PR-Branche schlägt als auch zwischen den epistemischen und moralischen Aspekten des Romans; zum anderen der autobiographische Gehalt des Romans.

Das umgekehrte Mephistopheles-Motiv taucht in der ersten Geschichte als Weisheit des Urgroßvaters auf, der über Einsicht in den Lauf der Welt verfügt und anerkennt, was die anderen, insbesondere sein Sohn, der sich bemüht, die Familiengeschichte zu beschönigen, leugnen: dass die Welt schlecht ist und dass der einzelne Mensch dem nicht entgeht. Als Waffenhändler ist auch er daran beteiligt, aber er – wie später sein Urenkel in der PR-Agentur – sieht es wenigstens ein. In diesem Sinne erklärt er seiner Enkelin, nachdem sie vom Tod ihres Bruders erfahren hat: „Armes Kind. Du hast vielleicht das Gute gewollt, aber das Böse erreicht“ (GA, 29). Sie wollte dem Vater einen Gefallen tun, indem sie ihren Bruder von der Notwendigkeit überzeugte, sich als Kriegsfreiwilliger zu melden.

Der Erzähler kommt mehrfach darauf zurück, indem er diese Formulierung aufgreift und auf sich bezieht (vgl. GA, 12, 57, 68, 75). So wollte er angeblich mit Hannos Briefen etwas Gutes tun (was auch nur halbrichtig ist, weil er zwar durchaus Hanno das Gefühl des Angenommenseins beschert, aber im Grunde doch nur egoistisch handelt) und bewirkte etwas Böses, nämlich die Flucht seiner Schwester und ihren mutmaßlichen Tod. Auf diese Weise scheint er in Geschäftsdingen zu einem Zyniker geworden zu sein, der im vollen Bewusstsein sich an Manipulation und auch Betrug beteiligt. Doch dieser Eindruck wird durch seine Einsicht abgemildert, indem er eine Variation des Mephistopheles-Motivs auf die Tätigkeit der PR-Agentur anwendet: „Public Relations heißt nichts anderes, als das Böse unserer Klienten gegenüber ihrer Umwelt als das Gute hinzustellen“ (GA, 45, vgl. GA, 75). Demgegenüber glaubt Hanno an eine moralische Sendung der PR-Agentur: „Indem wir einen Unternehmer so zeigen, wie er sein sollte, zwingen wir ihn, so zu werden, wie wir ihn zeigen“ (GA, 76).

Wie erwähnt, scheint die Diskrepanz zu Hanno den Erzähler in axiologischer Hinsicht zuverlässig zu machen. Immerhin ist er aufrichtig im Gegensatz zu den anderen, die nicht wie er und sein Urgroßvater die Größe haben, sich das eigene Unrecht einzugestehen. Gleichzeitig wirkt der Erzähler aber gar nicht zynisch, sondern eher resigniert. Das liegt daran, dass er Hanno gegenüber immer auch moralisches Handeln als Alternative aufzeigt: „Eher geht ein Kamel durch das Nadelöhr als ein Reicher durch das Himmelreich“ (GA, 57). Mit Blick auf die Erziehung seines Sohnes bekennt er sich sogar zur grundlegenden Güte des Menschen: „Ich glaube, im Grunde seines Wesens ist der Mensch gut“ (GA, 45).

Ausgerechnet seine Mutter ist es, die Konsequenzen zieht. Sie verzichtet weitgehend auf das väterliche Erbe und vermacht ihr Ehevermögen (weshalb sie laut Erzähler [GM, 69] das Ableben Peter Abels kaum erwarten kann, um ihre Anteile an der Waffenfabrik zu verkaufen) einer Hilfsorganisation zur Rettung jüdischer Flüchtlinge. Der Erzähler ist nicht in der Lage, dies anzuerkennen. Stattdessen zeichnet er von seiner Mutter das Bild einer ichbezogenen Persönlichkeit, deren Verhältnis zu anderen Personen ausschließlich über ihren nicht verwundenen privaten Schmerz (über den Tod ihres Bruders) definiert ist. In axiologischer Hinsicht ist der Erzähler daher unbestimmt. Sein Wille zur Aufrichtigkeit wirkt zuverlässig, aber er unterlässt es, Konsequenzen aus seinen Einsichten zu ziehen. Das hat ihm seine Mutter voraus.

Der zweite, autobiographische Aspekt kommt besonders mit der Geschichte ins Spiel, die den Titel „Der Major“ (GA, 76) trägt und die längste der Geschichten ist. Sie handelt von Abels Erlebnissen in Nazi-Deutschland während des Krieges, wo er in der Organisation Todt dient. Während Diggelmann wohl erst nach Verfassen des Romans in eine Werbeagentur eintrat (vgl. Diggelmann 1971, 55) und dieser Aspekt in diesem Roman daher noch keine autobiographische Grundierung hat, haben Abels Erlebnisse in Nazi-Deutschland diesen Bezug.Footnote 10 Entscheidend nun für die Bedeutung der Geschichten ist meines Erachtens ein proleptischer Einschub in dieser Geschichte, der von Abels Rückkehr in die Schweiz nach Kriegsende berichtet. Es erfolgt für sechs Monate die Einweisung in die psychiatrische Anstalt Rheinau und anschließend die halbjährige Internierung in einem Gefängnis (GM, 92 f.). Der Grund ist, dass man ihm seine Erlebnisse nicht abnimmt. Auch das entspricht ungefähr den Erlebnissen Diggelmanns, in dessen für zentraleuropäische Begriffe aberwitziger Biographie dies nur einer von mehreren für die Schweiz beschämenden Tiefpunkten ist. Im Roman nun ist dieser Einschub ziemlich genau in der Mitte angeordnet, was seine mögliche zentrale Bedeutung unterstreicht. Obwohl Abel seinen Anklägern alles wahrheitsgemäß erzählt, was er erlebt hat, glaubt man ihm nicht. Er überlegt, ob er seine Geschichten anpassen soll, damit sie glaubwürdiger werden, doch sein Anwalt rät ihm davon ab und lieber zur milderen Strafe wegen „verminderter Zurechnungsfähigkeit“ (GM, 92). Es sieht so aus, als sei dies die Grunderfahrung für Abel, aber auch für Diggelmann, nämlich seine Geschichten anzupassen und also ein mimetisch unzuverlässiger Erzähler zu werden, für den die Wahrheit immer nur insoweit gilt, wie sie ihn seinen Zielen näher bringt. Es ist der Unglauben, der ihm angesichts der Wahrheit begegnet und der ihn dazu führt, fortan lieber Falsches zu erzählen, weil es sich nicht lohnt, bei der Wahrheit zu bleiben, ja weil die Wahrheit ihn sogar ins Gefängnis gebracht hat.

Diggelmann selbst fing in dieser Zeit seiner Internierung an, Briefe zu schreiben, um sich zu rechtfertigen und auch um seine Beziehung zu seiner Mutter zu klären, deren unehelicher Sohn er war, und sah darin seine Geburt als Schriftsteller. „Und hier war es, wo ich begann, Geschichten zu schreiben. […] Ich hatte eine Erfahrung gemacht und suchte nun nach der dazu passenden Geschichte, also auch nach der Erklärung: so schrieb ich an meine Richter, schrieb ich an meine Amtsvormund, an meine Mutter seitenlange Briefe, eben Geschichten“ (Diggelmann 2002 [1965], 14). Das Geschichtenerzählen bzw. -erfinden wurde für Diggelmann eine geradezu existentielle Angelegenheit. Im selben Essay „Versuch, ein Selbstporträt zu schreiben“ meint er, „dass meine Form zu existieren das Geschichtenerfinden ist“ (ebd., 16). Auch davon handelt der Roman Geschichten um Abel, der in Diggelmanns Eigeninterpretation eine Geschichte des Scheiterns ist, denn „durch seine Kunst, Erfahrungen in Geschichten zu verwandeln, rettet Carl Joseph Abel im besetzten Deutschland von 1945 sein Leben. Durch seine Weigerung, Jahre später, eine neue Erfahrung in eine Geschichte zu verwandeln, verliert er sein Leben“ (ebd., 17). Auf das Verlassen seiner Frau kann Abel nicht mit einer Geschichte reagieren, jedenfalls noch nicht. Sie ist die bittere Wahrheit der Erzählgegenwart, der Abel nicht entkommen kann.

Daran wird deutlich, dass Wahrheit im Roman nicht vollends suspendiert wird. Es ist nicht alles relativ, nicht alles gleichermaßen wahr und unwahr. Jeder der Geschichten liegt eine Wahrheit zugrunde, die nur nicht mehr in allen ihren Facetten verfügbar ist, weil es Menschen mit all ihren Schwächen und manipulativen Neigungen sind, die sie tradieren. Die Geschichten um Abel sind auch deswegen noch heute interessant, weil dieser Roman, so kurzatmig er teilweise auch geschrieben sein mag, keine einfachen Antworten parat hat, sondern den Widerstreit von Wahrheit und Erzählen in Szene setzt.

1.2 Von der instrumentellen Bedeutung des Erzählens: Das Verhör des Harry Wind (1962)

Während die Geschichten um Abel einen Frisch-Roman fast vorwegzunehmen scheinen, ist dieser Roman Diggelmanns deutlich an einen Frisch-Roman angelehnt, insofern er die Stiller-Situation reproduziert. Harry Wind wird verhaftet und berichtet schriftlich aus seinem Leben. Diggelmanns dritte Ehefrau und Herausgeberin Klara Obermüller (2002, 8) beschreibt wie Frischs Roman „eine ganze Generation elektrisiert und die Problematik der eigenen wie der fremdbestimmten Identität mit einem Schlag zum Generalthema der Epoche erhoben“ habe. Die Ähnlichkeit ist frappierend. Stiller wie Wind sitzen in einer Zelle und schreiben. Nicht anders als Diggelmann selbst Jahre vor Anatol Stiller. Daher betont Obermüller zu Recht, dass, anders als für Frisch, „für Diggelmann diese Situation nicht eine existenzielle Metapher, sondern eigene bittere Erfahrung“ gewesen sei (ebd., 9).

Die Erzählkonzeption ähnelt der des vorigen Romans, insofern sich die Lebensgeschichte des Protagonisten und Ich-Erzählers namens Harry Wind in Form von Analepsen zusammensetzt und in eine Rahmenerzählung eingebettet ist, die, wie beim früheren Roman auch, nicht retrospektiv angelegt ist. Im Unterschied zum früheren Roman erstreckt sich die Rahmengeschichte über eine Dauer von mehreren Tagen, während der Harry Wind inhaftiert ist. Sein Gegenspieler ist der gründliche Polizeibeamte Rappold, der kurz vor seiner Pensionierung steht und anfangs noch zuversichtlich ist, Wind überführen zu können. Am Ende aber kommt Wind frei. Es ist ihm gelungen, mit Hilfe seiner Geschichten die Wahrheit zu vernebeln. Auch dank seiner Beziehungen zu Politik und Sicherheitsapparat kann ihm Rappold nichts anhaben.

Auch in inhaltlicher Hinsicht gibt es Ähnlichkeiten, wobei sich aber die Gewichte etwas verlagert haben. Das autobiographische Element konzentriert sich nun im Wesentlichen in einer Nebenfigur, in Vital, einem Cousin des Erzählers, dem Diggelmann einige seiner eigenen Kindheitserlebnisse mitgibt, die entscheidende Auswirkungen auf Wind haben, indem sie ihm die Verlogenheit und zugleich die Manipulierbarkeit der Erwachsenenwelt vor Augen führen. Wind wiederum ist zwar als Gründer und Eigentümer der Werbeagentur anders angelegt (Diggelmann war lediglich als Texter in einer Agentur angestellt), teilt aber mit seinem Autor den Zugang zum Geschichtenerzählen.

Demgegenüber rückt das politische Element stärker in den Vordergrund. Während es in den Geschichten um Abel mit der Beteiligung der Familie an der Waffenproduktion noch relativ neutral dargestellt wird, hat es nun durch Harry Winds Machenschaften eine ungleich stärkere Präsenz in der Rahmengeschichte. In der Prawda gibt es Anschuldigungen gegen die Schweiz, und sie zitiert aus einem Dossier eines Mitarbeiters von Wind zur Situation des Militärs in der Schweiz. Es steht im Raum, dass es Winds Feinde durchgestochen haben, um ihm zu schaden. Doch Rappold glaubt an die Schuld Winds. Er hält ihn für einen Landesverräter. In den Unterhaltungen der beiden kommen die Diskrepanzen zwischen dem offiziellen Bild der Schweiz als Hort der Neutralität und ihrer tatsächlichen Abhängigkeit von den USA in Rüstungsfragen zur Sprache. Wind ist ein entscheidender Akteur bei der Aufrüstung, die er nicht aus politischem, sondern aus geschäftlichem Interesse verfolgt. Damit wird auch die Wirkungsmacht von PR in diesem Roman konkreter dargestellt als im früheren Roman.

Durch die Verknüpfung der Kindheitserlebnisse des Harry Wind mit seiner aktuellen Tätigkeit lautet die politische Botschaft dieses Romans: Wer als Kind bereits erfährt, dass diejenigen, die die Gesetze erlassen und über sie wachen, selbige nicht einhalten, der wird keine Gesetze für sich akzeptieren. Was Abel mit der Wahrheit erlebt, erlebt Wind mit Gesetzen. Und noch eines ist strukturell ähnlich: Wind hat keine Moral, aber immerhin durchschaut er dies – das macht ihn weniger verlogen als seine Kollegen. Daher wird man unter Zugrundelegung lediglich der Daumenregel (R) zunächst zu dem Schluss kommen, dass er axiologisch zuverlässig ist, weil im Text kein eindeutig geltender Wertmaßstab zu finden ist, an dem sich das Verhalten des Erzählers als falsch erweisen könnte. Deutlicher als im früheren Roman muss man den Erzähler jedoch unter Berücksichtigung der Normen des Autors als axiologisch unzuverlässig ansehen, da er sich politisch völlig korrumpiert.

Dafür ist keine mimetische Unzuverlässigkeit zu entdecken. Zwar wird das Verhältnis von Wahrheit und Erzählung auch in diesem Roman thematisiert. Allerdings setzt der Erzähler keine Widersprüche mehr ein, präsentiert nicht konkurrierende Versionen, sondern thematisiert offensiv die Möglichkeit, dass seine Geschichten (teilweise) erfunden sind. Im Gegensatz zu dem letztlich scheiternden Abel ersinnt Wind Geschichten, die er Rappold präsentieren kann, um sich zu retten. „Jetzt brauche ich eine Geschichte. Natürlich ist das, was geschehen ist, nach dem Gesetz Landesverrat“ (VHW, 105), selbst wenn es sein Partner war, der das Memorandum aus Winds Firma weitergegeben hat, so dass es in die Hände der Sowjets gelangen konnte. „Ich muß die Geschichte des Geschichtenerfinders weiter ausspinnen. […] Was ich zwanzig Jahre lang für andere erfolgreich getan habe, das muß ich nun für mich tun“ (VHW, 113). Dies kann man als Ankündigung verstehen, dass das, was folgt, mimetisch unzuverlässig ist, doch da sich der Erzähler nicht in Widersprüche verstrickt, lässt sich ihm das nicht nachweisen. Es passt auch nicht zur Konzeption dieses Romans, da er sich am Ende aus seiner Lage erfolgreich herauswindet. Ihm zustatten kommt seine Beziehung zu Oberst Hug, dessen Sohn während Winds Militärzeit in seiner Kompanie gedient hat. Da er damals die Ehre seines Sohnes rettete, indem er einen anderen Soldaten für etwas büßen ließ, was dieser gar nicht getan hatte, ist ihm Hug verpflichtet und verwendet sich öffentlich für ihn (VHW, 191–193, 209). Wind erzählt Rappold die wahren Begebenheiten auf Band, aber weil die Wahrheit offenbar auch Rappold nicht opportun erscheint, nimmt er das nicht ins Protokoll auf (VHW, 139).Footnote 11 Somit ist zu erkennen, dass er seine Rolle als Kontrastfigur zu Wind aufgibt und dessen Methoden übernimmt, auch wenn er nach wie vor an seine Mission glaubt: „Ich muß mich an Tatsachen halten, nicht an Geschichten“ (VHW, 207). Dass diese Manöver ihren Preis haben, wird am Ende auch klar. Anstelle von Wind werden andere Personen als Sündenböcke geopfert.

Schon zu Beginn des Verhörs überlegt Wind, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, seinem Gegenüber Rappold von sich zu erzählen. „Er wird nicht damit rechnen, daß ich nicht einen, sondern viele Lebensläufe habe. Ich will berichten, lückenlos, lückenhaft, beides in einem, und es wird nicht eine Frage des Gedächtnisses sein, des Erinnerungsvermögens, sondern nur eine Frage der Ordnung, des Einordnens“ (VHW, 34). Das ist nichts anderes als eine der Weisheiten der Narratologie: dass man allein durch eine bestimmte Auswahl von Ereignissen aus einem beliebigen Abschnitt einer Geschichte (im Sinne der histoire) der sich ergebenden Erzählung (im Sinne des discours) einen bias verleiht, indem die jeweilige Auswahl die Perspektive auf das Gesamtgeschehen so formt, dass die Rezeption in eine gewünschte Richtung gelenkt wird.Footnote 12 Daher hält Wind die Auffassung Rappolds, der sich lieber auf Tatsachen und Polizeiakten verlässt, für naiv. Auch Rappold selbst konstruiere eine Geschichte, die nämlich „eines raffinierten Landesverräters“ (VHW, 95). Doch Rappold beharrt seinerseits noch darauf, sich nur an die Wahrheit zu halten. Wind dagegen ist sicher, dass es von den Geschichten abhängt, was für eine Auffassung sich am Ende durchsetzt: „Wahrheit ergibt sich nur aus den Geschichten. Und Polizeiakten, Herr Rappold, enthalten niemals die Wahrheit, sondern geben nur darüber Aufschluß, in wessen Händen die Macht liegt“ (ebd.). Wie erwähnt, setzt sich im Roman Wind durch. Auch Rappold ist nicht frei von manipulativen Eingriffen.

Der Auffassung Winds kann man ein Kindheitserlebnis als Ursache zuschreiben. Während der junge Wind die Verlogenheit der Erwachsenenwelt vor allem an ihrem Umgang mit seinem Cousin Vital erlebt, der seinem Amtsvormund alles Geld zurückzahlen muss, was dieser für ihn aufgewendet hat, selbst für Ausgaben, für die Vital nicht verantwortlich ist und die sogar gegen seine Interessen erfolgen (wie z. B. die Kosten für Psychiatrie und Gefängnis), wobei der Amtsvormund selbst Geld unterschlägt (vgl. VHW, 69, 83), macht er die Erfahrung, dass die Erwachsenen leicht dadurch zu manipulieren ist, indem er die Wahrheit sagt, die man ihm nicht glaubt. Nach Vital nimmt auch der junge Erzähler einen kleinen Betrag aus der Kasse seines Vaters, um es seinem Cousin für seine Flucht mitzugeben (VHW, 44). Doch Vital ist schon weg, bevor ihm der Erzähler das Geld geben kann. Er sagt seiner Mutter, dass er es genommen habe, woraufhin sie seine Sparbüchse kontrolliert. Die Differenz des gestohlenen Betrages fehlt. Seine Mutter hat das Geld genommen, um ihren Sohn zu schützen (VHW, 66). Alle Versuche zuzugeben, dass er das Geld entwendet habe, weist die Mutter zurück. „Du darfst nicht lügen, Harry, und stehlen, das ist doch gar nichts Tapferes“ (VHW, 74). Sie ist es, die die Wahrheit verdreht. Als er davon einem Schulfreund erzählt, erkennt dieser sofort das Potential, das in der Situation steckt. In der Folge stiehlt der Erzähler wiederholt, um das Geld in seiner Klasse zu verteilen, aber seine Umgebung glaubt an seine Unschuld, obwohl er sich immer wieder dazu bekennt. Je mehr er auf der Wahrheit besteht, desto weniger glaubt man ihm. Das ist Harry Winds Grunderfahrung: „Ich wurde ein anderer“, wiederholt er (VHW, 76–78). Etwas Ähnliches erlebt er in der Schule, als es ihm gelingt, Deutschaufsätze eines anderen als seine eigenen auszugeben.

Man kann lügen, indem man die Wahrheit sagt. Das ist es, was der jugendliche Harry Wind erfährt und was der Erwachsene schließlich zu seinem Geschäftsmodell macht.Footnote 13 Natürlich gilt auch das Umgekehrte: Indem man geschickt die Unwahrheit sagt, lässt sich ein Bild der Wirklichkeit erzeugen, das die Adressaten für wahr halten.

Ja, und was tue ich dann in Wirklichkeit? Ich erfinde eine Geschichte. Zum Beispiel die Geschichte der armen Glühlampenfabrikanten, die um ihre Existenz fürchteten, als die Schweiz zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vorstoßen wollte. Philips, sagten die armen Glühlampenfabrikanten, überschwemmt die Schweiz mit Glühlampen, wenn die Zölle fallen. Ich erfand die Geschichte der armen Glühlampenfabrikanten. Sie hatten eben keine Geschichte, keine ordentliche, erzählbare, spannende Geschichte. […] Aber ich bringe jetzt einen Sinn in diese Geschichte […]. So mildere ich unter der Hand ein Kapitel, ich verniedliche Argumente, zerhacke sie und flöße sie dem Publikum löffelweise ein. Die Leute wollen Geschichten. Nur wer eine gute Geschichte hat, dringt durch. (VHW, 105)

Besonders dieser Roman zeigt, dass Diggelmann vor beinahe sechzig Jahren vorweggenommen hat, was vor zwanzig Jahren in aller Munde war: den narrative turn, dessen Nachwirkungen sich mittlerweile längst in unserer täglichen Rede abgelagert haben, wenn von „Narrativen“ und dgl. die Rede ist und Journalisten Geschichten erzählen (anstatt Sachverhalte darzustellen). Denn das war genau das Thema Diggelmanns, dem er durchaus zwiespältig gegenüberstand, einerseits persönlich fasziniert von der Macht und der Schönheit, die Geschichten eignen, andererseits schockiert von den manipulativen Zielen, die mit ihnen angestrebt werden (vgl. Obermüller 2002, 7).

Diggelmann war zu Lebzeiten ein umstrittener Autor. Politisch unbequem, war er immer wieder Ziel von Angriffen, und aus heutiger Sicht kann es scheinen, dass ein Teil der Einwände gegen seine literarischen Mittel nicht nur dazu diente, ihn als Schriftsteller zu diskreditieren, sondern ihm damit auch den Makel einer unseriösen Person anzuhängen, der man lieber nichts abnehmen sollte, weil sie ihr Handwerk nicht verstehe.Footnote 14 Dem leistete er allerdings auch selbst Vorschub, als er in einer DDR-Lizenzausgabe Änderungen an der Darstellung des Ungarnaufstandes vornahm (vgl. Obermüller 1992, 292).

Heute allerdings kann man davon absehen, wenn man die literarischen Verfahren in den Blick nimmt und Diggelmanns literarische Prinzipien. Mit Bezug auf die beiden hier vorgestellten Romane lässt sich unschwer erkennen, dass er mit der Frage nach der Identität und noch mehr mit der Frage nach der Manipulierbarkeit des öffentlichen Bildes der Wirklichkeit zwei Themen der Moderne in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Bemühungen stellt: „Diggelmann ist ein narrativer Experimentator mit offenen Möglichkeiten der Identität. Das Thema der Vielgesichtigkeit jedes Menschen und, daraus resultierend, der unvermeidlichen Perspektivität der Wahrheit über jede Person […] ordnet seine Geschichten dem Umfeld eines zentralen Diskurses der literarischen Moderne zu“ (Schwab 2006, 54).

Einen Autor auf eine Frisch-Tradition zu reduzieren und damit letztlich als bloßen Epigonen zu denunzieren ist nicht Ziel des vorliegenden Kapitels. Natürlich war Diggelmann ein eigenständiger Autor, dessen Werk man nur in bestimmten Hinsichten dieser Tradition zuordnen kann – und in anderen eben nicht. Diggelmann hat sich selbst von zu deutlicher Artifizialität distanziert, aber trotzdem an seinem Kunstanspruch festgehalten. Im Epigraph zu seinem bei Piper erschienenen Skandal-Roman Die Hinterlassenschaft (1965), für den er in der Schweiz keinen Verleger finden konnte, betont Diggelmann, dass er „in der Schweiz lebt und dieses Land beim Namen nennt, statt eine Parabel zu konstruieren“ (Hi, 7). Diese „unverkennbare Kritik an Max Frischs Parabel ‚Andorra‘“ (Szabó 1987, 150) zeigt, dass Diggelmann einen anderen Ansatz verfolgt als Frisch: die Dinge beim Namen nennen, anstatt sie artifiziell zu machen, auch um den Preis, dass die Kunst, die selbstredend auch hinter seiner Literatur steht, nicht gewürdigt wird. „Darstellung der Historizität also, die kein Ausweichen ins Allgemeine gestattet: das ist den beiden älteren Kollegen gegenüber neu“, indem Diggelmann „ihr [Frischs und Dürrenmatts] gleichnishaft stilisierendes Verfahren“ durch dokumentarische Verfahren ersetzt (Schwab 2006, 53). Gerade dies, wie auch seine ausgeprägte anti-faschistische Thematik, machte ihn für DDR-Verlage interessant.

Das unzuverlässige Erzählen passt bestens zum Credo Diggelmanns und entspricht seinen künstlerischen Zielen: „Ich will Bücher erfinden, die gelesen werden wie Kriminalromane, aber der Leser merkt erst lange hinterher, daß ich ihn an der Nase herumgeführt, daß ich gar keinen Krimi geschrieben habe“ (zit. n. Szabó 1987, 153).

2 Unzuverlässigkeit und Demenz in Walter Vogts Wüthrich (1966)

Wer sich nicht mit der Literatur der Schweiz befasst, dem wird auch der Name Walter Vogt nicht viel sagen. Ursprünglich Arzt für Radiologie und später bis zu seinem Tod weiter als Psychiater praktizierend, kam er erst mit Ende dreißig zum Schreiben und zu seiner ersten literarischen Publikation, dem Erzählband Husten aus dem Jahr 1965. Bereits im nächsten Jahr folgte sein erster kurzer Roman Wüthrich mit dem Untertitel „Selbstgespräch eines sterbenden Arztes“, dem Umfang und Inhalt nach eher eine Erzählung. Auch Vogt, dessen Werke unter seinen Kollegen aus der Medizin nicht immer auf Wohlwollen stießen, wurde gleich als einer der jungen Schweizer Autoren der von Frisch und Dürrenmatt begründeten Tradition zugeordnet. Ein kritischer Zugang zum schweizerischen Selbstverständnis reichte dafür schon aus. Inwiefern diese Zuordnung auch in literarischer Hinsicht zutreffend ist, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.

Zwar lässt sich gleich sagen, dass Wüthrich in markanter Weise unzuverlässig erzählt ist. Die Zuordnung zur hier so genannten Frisch-Tradition gilt jedoch mit einer gewissen Einschränkung. Während Frischs unzuverlässige Erzähler schreibende Erzähler sind und auch Diggelmanns Wind sich in Teilen schriftlich äußert und sein Abel keine spontanen Geschichten ersinnt, bedient sich Vogt eines inneren Monologs. Die Form lässt demnach zuallererst an Schnitzlers Leutnant Gustl denken, insofern Handlungs- und Erzählgegenwart zusammenfallen. Allerdings haben auch die genannten älteren Romane eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Erzählgegenwart, deren Ereignisse sich sukzessiv vollzieht und erst mit dem Ende der Romane zum Abschluss kommt. Die retrospektiven und sukzessiven Anteile stehen infolgedessen in umgekehrtem Verhältnis: Beim Gustl-Typus sind die retrospektiven Anteile stärker aufgesplittert und kurz, während sie beim Stiller-Typus ausgedehnt sind und insbesondere bei Frisch den Gesamttext stark dominieren.

Wüthrich wird eingeleitet von einem Epigraph, aus dem hervorgeht, dass Wüthrich der Name eines Professors ist, der, wenngleich schwerkrank, unerwartet „am Nachmittag des zehnten September [starb]“ (W, 12). Mit Einsetzen des inneren Monologes werden Ort und Zeit gleich deutlich: Das Ich, offenbar Mediziner, fährt am Morgen des zehnten September Auto und wird nicht vor neun Uhr erwartet. Die Strecke ist ihm gut bekannt, weil er sie vierzig Jahre schon „täglich“ fährt (W, 13). Das Ich ist bereits eine Weile wach, und wir erfahren, dass es jeden Morgen um dieselbe Zeit seine tote Frau in absentia neben sich im Bett begrüßt.

Man kann davon ausgehen, dass das Ich der Professor ist, von dem im Epigraph die Rede ist und der den Tag nicht überleben wird. Das bestätigt sich später auch explizit, wenn er mit seinen Assistenten bzw. seinem Oberarzt zusammentrifft und mit seinem Namen angesprochen wird.

Die Ereignisse der Geschichte lassen sich in zwei Phasen gliedern, wobei die erste etwa ein Viertel des Textes ausmacht und die Zeit vor Wüthrichs Eintreffen im Krankenhaus umfasst. Diese Phase soll im Folgenden etwas ausführlicher betrachtet werden. Durch die Analyse wird sich zeigen, wie die Unzuverlässigkeit im Text implementiert ist. Zwar kann man schnell herausfinden, dass der Arzt senil ist. Wie dies erreicht wird, ist bemerkenswert, da sich Zuverlässiges auf für Demenz charakteristische Weise mit Unzuverlässigem mischt.

Wüthrich ist unsicher, wie an einigen Bemerkungen auffällt: „Einer hupt und überholt. Ich fahre zu langsam, übervorsichtig. Das fällt auf“ (W, 14). Es ist ihm unangenehm, dass andere denken könnten, er würde sich nicht mehr an wichtige Daten erinnern. „Nur nicht auffallen!“ (W, 15 [Kursive i. O.]), ruft er sich zu und gibt sich einer leicht paranoiden Phantasie hin, wonach er einen Umweg nimmt und ein Polizist daraufhin sich fragen könnte, warum er denn nicht den üblichen Weg nehme. Ohrensausen hat er auch. Und wenn sich dann, nachdem er geparkt hat und ausgestiegen ist, hinter ihm ein Unbekannter räuspert und ihn anlacht, dann kann man bereits an dieser Stelle den Verdacht haben, dass es sich um keinen Unbekannten handelt, sondern um einen Bekannten, den er nicht erkennt. Das klärt sich zwar nicht auf. Indessen bestätigt der Selbstkommentar des Professors den Eindruck, dass er nicht ganz richtig im Kopf ist: „Die Unbekannten sind in der Überzahl. Sie müßten siegen, wie immer der Kampf ausgetragen würde – der Kampf zwischen den Bekannten und Unbekannten“ (W, 16). So vermehren sich rasch die Indizien, die anzeigen, dass die Zurechnungsfähigkeit des Monologisierenden eingeschränkt ist. Zwar neigt er einer geradezu peinlichen Selbstbeobachtung zu und müht sich um Selbstkontrolle; doch entgleitet sie ihm immer wieder. In der Erinnerung an das Frühstück kommt ihm mehrmals der prüfende Blick seiner Haushälterin Berta in den Sinn (W, 14, 22), den er aber nicht zuordnen kann. Stattdessen wirft er ihr in Gedanken vor, was sie alles vergisst. Dann erwähnt er, dass er im Morgenrock seiner Frau am Frühstückstisch erschien, und stellt sich die Frage, ob Bertas Miene damit zusammenhänge, und spielt die Verwechslung der Kleidung herunter (W, 23).

Noch ist es überwiegend so, dass Wüthrich, der alte Professor, zwar Zeichen geistiger Verwirrtheit an den Tag legt, aber unzuverlässig erzählt er allenfalls an dieser Stelle, als er etwas, das offensichtlich zusammenhängt, nicht recht zusammenzubringen weiß. Vor allem entgeht ihm die phänomenale Qualität seiner Erscheinung im vermutlich viel zu engen und zu kurzen damenhaften Morgenrock seiner Frau, derentwegen Berta ihn so erstaunt anblickt. Was er zu verstehen gibt, ist, dass Bertas Gesichtsausdruck und ihre von ihm unterstellte Einstellung gegenüber dem Umstand, dass er den Morgenrock seiner verstorbenen Frau übergezogen hat, unangemessen sind, da das seiner Meinung nach eine Art alltäglicher Irrtum ist, wie er jedem unterlaufen kann. Damit dürfte er jedoch nicht richtig liegen. Vor allem entgeht ihm, dass er im Morgenrock seiner Frau ziemlich komisch ausgesehen haben muss.Footnote 15

Ferner kann man, wie eingangs angekündigt, an dieser Passage sehen, dass die Erzählgegenwart um retrospektive Elemente erweitert wird, hier um die Erinnerung an das Frühstück, daneben aber auch an den letzten gemeinsamen Geburtstag seiner Frau Sofie, für die er damals fünf seltene Lilien besorgte. Der zehnte September ist ihr Geburtstag, und er fährt weiter zu dem Blumenladen. Dort kauft er die gleichen Blumen mit der Absicht, sie ihr am Nachmittag aufs Grab zu legen. Da es immer noch zu früh ist, fährt er zum Münster. (Es ist zu erkennen, dass es sich um die Stadt Bern handelt; bereits im ersten Satz liest man, dass er den Aargauer Stalden hinunterfährt.) Man erfährt, dass sie einen Sohn haben, Michael, der mit einer US-Amerikanerin verheiratet ist und nur ungern in den Vereinigten Staaten lebt.

Zeitliche Abstände scheinen Wüthrich noch geläufig zu sein. Vor zweiundzwanzig Jahren unternahm er das letzte Mal Hausbesuche, und „Sofie starb vor genau sechs Jahren und zwei Monaten, in der Nacht auf den zehnten Juli“ (W, 15). Dafür zeigt er wiederholt beim Fahren Unsicherheiten, vergisst, den Blinker zu setzen, so dass es fast zu einer Kollision kommt, oder lässt die Kupplung ungebührlich schleifen. Wenig später schon fragt er sich, ob heute der zehnte September sei (W, 36), und hält den heutigen Tag für Sofies Todestag (W, 43).Footnote 16 Auch über das Jahr ist er sich nicht im Klaren.

Während des Besuchs des Münsters setzt er sich ins Chorgestühl, nickt mehrmals ein und erwacht offenbar mit lautem Rufen: „Nein! Nein!! nein!!!“ (W, 29 [Kursive und Kapitälchen i. O.]). Damit ihm niemand von den anderen Besuchern zu Hilfe eilen kann, flüchtet er ins Freie und lässt sich erschöpft im Park auf der Plattform nieder, um erneut einzunicken. Es ist schon fast zehn Uhr, als er erwacht. Nun warten sie im Krankenhaus auf ihn, den Chefarzt, und er begibt sich wieder zu seinem Auto.

Am Krankenhaus angekommen, trifft Wüthrich zunächst auf den Parkwächter namens Wegmüller, dem er zweimal ein Trinkgeld gibt, erst hundert, dann zwanzig Franken, offensichtlich eine unangemessen hohe Summe. Gleich darauf begibt er sich in sein Arbeitszimmer, wo sich seine Assistenzärzte mit dem Oberarzt zur Besprechung versammeln. Es folgt die Visite, die die Ärzte erst in die Frauenabteilung und dann in die Männerabteilung führt, in der Wüthrich am Ende zusammenbricht und stirbt.

Mit zunehmender Zeit verliert sich Wüthrich mehr und mehr. Aber nicht alles, was er sagt, ist ein Fall unzuverlässigen Erzählens, denn er beobachtet sich weiterhin selbst und ist noch in der Lage, seine Fehlleistungen selbst zu bemerken: „Wüßte ich nur, was ich eben gesagt habe!“ (W, 43). Zudem ist er in der Lage, seine Irrtümer am Gesicht seiner Gesprächspartner abzulesen.

An der Episode mit dem Trinkgeld kann man sehen, dass Wüthrichs Unzuverlässigkeit etwas anders gelagert ist als die der anderen Erzähler. Das liegt im Wesentlichen daran, dass es sich um einen echten inneren Monolog handelt. Gemessen an den zu unterstellenden Normen, die für die Vergabe von Trinkgeld auch in der erzählten Welt gelten, dürfte es unangebracht hoch sein. Er bemerkt, dass etwas nicht stimmt damit, und begründet die Höhe vor sich selbst mit den besonderen Umständen, d. h. mit dem Geburtstag seiner Frau. Doch fällt ihm sogleich ein, dass er Wegmüller am Vortag auch schon fünfzig Franken gegeben haben will, obwohl nichts zu feiern war. Charakteristisch für Wüthrich ist, dass ihm durchaus auffällt, dass etwas nicht stimmt damit, aber was genau, entgeht ihm. Deswegen kann man ihm auch diesbezüglich Unzuverlässigkeit zuschreiben. Durch diesen Kunstgriff kann man einerseits erkennen, was der Fall ist, und andererseits Wüthrichs Fehlleistungen als solche diagnostizieren.

Den größten Teil des Werks nimmt die Visite ein, die Wüthrich mit seinen Mitarbeitern durchführt. Sie folgt dem Prinzip der Reihung. Die Ärzte treten an die Krankenbetten, und Wüthrich gibt seine Kommentare ab, stellt auch Fragen und reflektiert gedanklich in Ansätzen das Erlebte. Auf diese Weise entsteht ein Zerrbild der Situation im Krankenhaus. Einzelne Stationen der Visite geraten an den Rand des Absurden mit dem Ziel, die Mediziner der Lächerlichkeit preiszugeben. Zumindest wurde das von Standesvertretern so aufgenommen, die ihn daher schnell als Epigonen Dürrenmatts zu diskreditieren versuchten.Footnote 17 Aber es ist durchaus nicht „sinnlos, nach der Wahrscheinlichkeit von Figuren und Ereignissen zu fragen“, wie Pulver (1991, 433) meint. Im Gegenteil, man ist ständig gezwungen, Wüthrichs Äußerungen mit den wahrscheinlich bestehenden Sachverhalten der erzählten Welt abzugleichen.

Durch Wüthrichs angegriffenen Geisteszustand lassen sich nicht nur alle Ereignisse als im angesprochenen Sinne „wahrscheinlich“ auffassen – d. h. die Ereignisse sind nicht an und für sich grotesk, sondern das Groteske entsteht durch die Diskrepanz zwischen Wüthrichs Wahrnehmung und dem, was tatsächlich geschieht, oder es besteht in seinen unangemessenen Reaktionen –, sondern es lässt sich in den meisten Fällen auch entscheiden, was sich in der erzählten Welt tatsächlich ereignet und was nicht. (Dass es so auch in unserer Welt hätte geschehen können, ist zumindest denkbar.) So kommt Wüthrich insgesamt dreimal an das Bett von Frau Gerber, weil er nach dem Mittagessen vergessen hat, dass sie bereits in der Frauenabteilung gewesen sind und die Visite bei den Frauen beginnen möchte. „Wo wir mit der Chefvisite anfangen, bestimme einstweilen noch ich!“ (W, 108 [Kursive i. O.]). Natürlich verordnet er in der Folge genau das Gegenteil von dem, was er am Vormittag gesagt hat, und möchte sie entlassen.

Neben den völlig inadäquaten Patientengesprächen fällt die „fasziniert-kritische Darstellung hierarchischer Strukturen“ (Pulver 1991, 428) ins Auge, weil ein Großteil der Gedankenfetzen Wüthrichs seinen Mitarbeitern gilt. Aus ihnen spricht die Überheblichkeit des Vorgesetzten, die sich Wüthrich auch noch in seinem getrübten Geisteszustand bewahrt. Dazu zählt auch ein gewisser Sexismus: „Oberschwestern haben mit dem Geschlechtsleben im allgemeinen abgeschlossen“ (W, 56). Die Assistenzärzte, soviel scheint durch seine Wahrnehmung hindurch, begegnen ihm servil. Sie widersprechen ihm nicht, alle folgen ihm in die Frauenabteilung. Doch von Zeit zu Zeit meint er auch Lachen zu bemerken. Deutlich wird, dass er eigentlich überhaupt nichts mehr im Griff hat. Wüthrich wählt die Strategie, sein Unwissen durch Schweigen oder rätselhafte Bemerkungen zu bemänteln.Footnote 18 Aber das gelingt ihm zusehends schlechter, da er sich immer wieder Entgleisungen erlaubt, die seine Verwirrtheit offen zu Tage treten lassen.

Wüthrichs Reaktion während der Besprechung lässt sich noch als beabsichtigter Witz interpretieren. Der Oberarzt Gygax berichtet Wüthrich von der Verschlechterung des Zustandes seiner Schwiegermutter, die auf einer der Stationen liegt. Wüthrich entgegnet: „Wissen Sie was, Gygax, rufen Sie einen Arzt“ (W, 57). Aber schon der nächste Satz zeigt, dass er in seiner Welt ist: „Mich interessiert nur, ob sie schrumpft“ (ebd.). Das kann der Oberarzt nicht mehr als Witz verstehen, weil es einen Gedanken aufgreift, der Wüthrich vorher durch den Kopf gegangen ist. Er zeigt damit nicht zuletzt, dass er nicht mehr in der Lage ist, in medizinischen Begriffen zu denken. Eklatanter sind solche Ausfälle, wonach er einen der Assistenten danach fragt, ob er onaniere (W, 48 f.), oder gegenüber einer Patientin, deren Operationstermin er als „ein[en] schöne[n] Todestag“ bezeichnet (W, 98). Wüthrich offenbart darüber hinaus gewisse Obsessionen. Er fragt öfter nach dem Geburtstag, um dann den Tag der Zeugung der betreffenden Person auszurechnen.

Wer aber nicht das Konzept des unzuverlässigen Erzählens an den Text heranträgt und dem die Aussetzer, die Wüthrich vor allem zu Beginn zeigt, übersieht, der mag seine Äußerungen während der ersten Zeit der Visite für zuverlässig und rabiat halten, zumal er auch einige seriöse Überlegungen anstellt, etwa zur Zukunft der Medizin, während er auf dem WC sitzt:

Menschen werden mehr und länger leben, mehr und länger krank sein, schwerer krank sein, mehr sterben.

Mehr Menschen, mehr Tode.

Die Ärzte werden sich mehr und länger ausbilden, mehr und länger arbeiten, behandeln, spritzen, operieren, bestrahlen…

Die Technik wird in der Medizin immer mehr überhandnehmen und die geistigen Möglichkeiten zur Bewältigung der technischen Möglichkeiten immer mehr hinter den technischen Möglichkeiten herhinken. Es wird immer mehr wissenschaftliche Zeitschriften geben und immer weniger Leute, die sie lesen, immer weniger Leute, die überhaupt lesen, immer weniger, die lesen wollen, immer weniger, die lesen können. (W, 62 [Kursive i. O.])

Unterdessen vermehren sich aber, wie schon erwähnt, die Anzeichen für seine Verwirrung. Dass am Ende ein Patient auf dem Tisch tanzt, lässt sich als Halluzination interpretieren. Kurz vor seinem endgültigen Zusammenbruch sagt er: „Ich bücke mich unauffällig“ (W, 132), um sich ein Bett näher anzusehen. Offenbar ist er aber auf die Knie gegangen, denn seine Hosenbeine sind dreckig. Schon vorher musste ihm geholfen werden. Seine entsprechende Äußerung zeigt die Distanz, die er zu den Ereignissen hat: „Ich gewinne den Eindruck, daß Gygax und Schwester Frieda mich stützen“ (W, 116). Lesen kann er auch nichts mehr.

Nicht nur die Form nimmt den Gustl-Typus auf, sondern auch die Kritik an einem Milieu mit Hilfe der Schwächen, die ein Individuum offenbart, das dieses Milieu repräsentiert und dessen Gedanken der Roman präsentiert. Ob Schnitzler tatsächlich für Vogt Vorbildcharakter hat, wäre noch zu untersuchen. Überraschend wäre es nicht. Schon durch seinen Beruf dürfte Vogt eine Affinität zu dem Österreicher verspürt haben. Es wäre ein Beispiel dafür, dass auch die ältere Tradition noch lebendig ist.