Kaum eine historische Zäsur ist so schmal an Jahren und reicht so tief wie die Zeit des Nationalsozialismus. Es gibt Gründe für die Annahme, dass mit ihrem Ende – nachdem nicht nur Europa durch militärische Aktionen weitgehend in Schutt und Asche gelegt worden war, sondern auch ganze Bevölkerungsgruppen zu großen Teilen einer industriell betriebenen Ausrottung zum Opfer gefallen waren – etwas Neues begann, nicht nur im politischen, sondern auch im literarischen Leben. Das sahen nicht zuletzt die Repräsentanten der Nachkriegsliteratur selbst so (vgl. Esselborn 1986). Dafür spricht, dass viele Autoren (darunter auch Autorinnen),Footnote 1 die im Laufe der Jahrzehnte nach Kriegsende zu diesen Repräsentanten avancierten, entweder so jung waren, dass sie erst jetzt zu schreiben oder zu publizieren begannen, oder aus anderen Gründen einen Bruch in ihrer literarischen Biographie erlitten.Footnote 2 Ein wichtiger Faktor für den Neubeginn (im Westen) war sicherlich die Bekanntschaft mit der jüngeren US-amerikanischen Literatur, die viele der angehenden Autoren als Kriegsgefangene noch besser kennenlernten, und mit dem literarischen Existentialismus aus Frankreich; im Osten gab es demgegenüber eine gewisse Bereitwilligkeit, sich den Ideen des sozialistischen Realismus zu unterwerfen.Footnote 3 Und gewiss ist der Bruch, den die Nachkriegsliteratur markiert, in dem Werk der damals jungen Autoren deutlicher zu spüren als im Werk von älteren Autoren, Emigranten wie Thomas Mann oder Nicht-Emigranten wie Frank Thiess, die auch nach 1945 noch produktiv waren.

Anfangs mag die Rede von der „Stunde Null“ mehr Ausdruck von Hoffnung – und Selbstbetrug – gewesen sein als die Feststellung einer historischen Tatsache.Footnote 4 Wie die Erhellung dunkler Flecken in manchen Biographien, etwa von Günter Grass oder Erwin Strittmatter, zeigt, reichte die persönliche Verstrickung selbst derjenigen, die sich in der Nachkriegszeit eindeutig gegen reaktionäre, militaristische und relativierende Kräfte positionierten und gegen die Verdrängung der Verantwortung wandten, tiefer, als sie öffentlich zugaben oder gar sich selbst eingestanden. Aber nicht nur persönlich, auch literarisch war die Kontinuität sowohl zur Zeit des Nationalsozialismus als auch zu der Phase davor stärker, als mancher Zeitgenosse wahrhaben wollte.Footnote 5 Daher ist die Rede von der „Stunde Null“, wie man heute weiß, irreführend.

Zugleich entsprach es nicht nur dem trügerischen Selbstverständnis der Autoren der Nachkriegsliteratur, dass sie an Traditionen anknüpften, die vom Nationalsozialismus unterdrückt worden waren (vgl. Kröll 1986). Tatsächlich lassen sich zahlreiche Verbindungslinien von der Nachkriegsliteratur zurück sowohl zu literarischen Programmen als auch zu exzeptionellen Werken derjenigen Strömungen der künstlerischen Moderne ziehen, die sich wegen des Nationalsozialismus kaum entfalten konnten. Man denke an die große Bedeutung von Franz Kafka für viele Autoren, aber auch Alfred Döblins etwa für Günter Grass oder Wolfgang Koeppen. Und in der DDR wurde auch ganz offiziell besonderer Wert auf die richtigen Traditionen gelegt, an die man anknüpfen wollte (vgl. Peitsch 2009, 14 f.).

Eine bestimmte Linie, die das unzuverlässige Erzählen der Nachkriegsliteratur mit der älteren Literatur verbindet, wurde bislang nicht identifiziert. Allein das Werk von Thomas Mann wird immer wieder mit diesem Aspekt in einen Zusammenhang gebracht. Es könnte daher als Kandidat für eine beispielgebende literarische Verarbeitung des Grundphänomens gelten, an dem sich die jüngeren bzw. eigentlichen Vertreter der Nachkriegsliteratur orientierten.Footnote 6 Unser Blick soll sich aber nicht von diesem Leuchtturm der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts blenden lassen, sondern auch in Bereiche gelenkt werden, die in seinem Schatten stehen. In den fünf Abschnitten dieses Kapitels wird der Frage nachgegangen, wo solche Verbindungslinien liegen könnten. Aus den Ergebnissen setzt sich am Ende ein Bild der Kontinuitäten und Diskontinuitäten zusammen, die die Nachkriegsliteratur in Bezug auf das unzuverlässige Erzählen mit einzelnen literarischen Exponenten älterer Literatur verbinden oder eben nicht verbinden.

Wenn man eine Untersuchung von deutschsprachigen Nachkriegsromanen ankündigt und dabei das unzuverlässige Erzählen im Fokus hat, mögen die meisten die Erwartung haben, dass es um die Literatur der Bundesrepublik, Österreichs und der Schweiz geht, die sich mehr oder weniger einen Markt teilen. Doch gehört auch die Literatur der DDR dazu. Daher beginnt dieses Kapitel mit einem exemplarischen Blick auf einen Roman einer Autorin, die für die DDR besonders wichtig war: Anna Seghers. Von ihren Romanen ist Transit derjenige, der am ehesten eine Affinität zum unzuverlässigen Erzählen erkennen lässt. Wie die späten Romane von Hermann Broch und Thomas Mann gehört Transit zur Exilliteratur und bietet sich als potentieller Grund an, in dem das unzuverlässige Erzählen in der DDR-Literatur ankert. Bereits 1944 in spanischer und englischer Übersetzung erschienen, wurde das deutsche Original erst 1947 zunächst als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung, dann 1948 als Buch publiziert. Wie die Analyse zeigen wird, konnte der Roman unter den literarischen Normen, die in der DDR galten, kaum als Fall unzuverlässigen Erzählens interpretiert werden. Die Anwendung der Kategorie auf diesen Roman wird sich aber gerade deswegen auch in systematischer Hinsicht als lehrreich erweisen, weil an seinem Beispiel die Interpretationsabhängigkeit mancher Zuschreibung sowohl von mimetischer als auch von axiologischer Unzuverlässigkeit besonders anschaulich demonstriert werden kann.

Im Zentrum des zweiten Teils dieses Kapitels stehen Thomas Manns späte Romane Doktor Faustus und Felix Krull. Die Ausführungen werden einerseits zeigen, inwiefern das Verfahren in die beiden Werke (nicht) eingebunden ist, und andererseits, wie in der Forschung damit bislang umgegangen wurde. Am Ende steht die These, dass sich unzuverlässiges Erzählen zwar in beiden Fällen partiell nachweisen lässt, seine Bedeutung für den jeweiligen Roman jedoch sekundär und weit weniger ausgeprägt ist, als manche Interpretation das will.

Im dritten Unterkapitel wird mit Olympia von Robert Neumann ein häufig als epigonal eingeschätzter Roman aus dem Jahr 1961 einer Analyse unterzogen. Olympia lässt sich zwar durch seinen offensichtlichen Bezug zum Felix Krull der Thomas Mann-Tradition unmittelbar zuordnen, in erzähltechnischer Hinsicht beschreitet der Roman aber doch einen anderen Weg; sehr deutlich steht er in einer spezifischen, österreichischen Tradition, die Neumann durchaus eigenwillig weiter gepflegt hat, wie sich an einer Reihe weiterer Werke zeigen lässt. Formal gesehen, gehören diese Werke schon nicht mehr zur Exilliteratur, sondern zur Remigrationsliteratur (falls es so etwas gibt). Aber sie werden bereits in diesem Kapitel abgehandelt, weil Neumanns Publikationsgeschichte wie die von Anna Seghers bis in die Weimarer Republik zurückreicht und er als Autor eher dieser Generation zuzuordnen ist, während die literaturgeschichtlich effektive Publikationsgeschichte eines Altersgenossen wie z. B. Hans Erich Nossacks erst in der Nachkriegszeit beginnt.

Viertens wird mit Hermann Brochs 1951 unter dem Titel Der Versucher aus dem Nachlass veröffentlichten sog. Bergroman ein Werk vorgestellt, das mit seinem Ich-Erzähler eine Ausnahme in Brochs Œuvre darstellt, aber in einer Zeit entstand, als sich sein Autor brieflich mit Robert Neumann über poetologische Fragen austauschte. Wie andere Werke, die Gegenstand dieses Kapitel sind, gehört es gemäß seiner Entstehungszeit nicht zur Nachkriegsliteratur. Aber in dem Mosaik aus Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Verhältnis zur historisch älteren Literatur hat es nicht zuletzt aufgrund des Kontakts zwischen Broch und Neumann seinen Platz. Es wird zudem schon länger unter dem Aspekt der narrativen Unzuverlässigkeit diskutiert und verdient auch deshalb unsere Aufmerksamkeit.

Im resümierenden und zugleich ausblickenden fünften Abschnitt wird sich zeigen, dass es in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts keine kontinuierliche Tradition des unzuverlässigen Erzählens gibt. Zum einen charakterisiert es Thomas Manns Werk viel weniger, als es aufgrund einiger diesbezüglicher Publikationen den Anschein haben mag; zum andern war sein Werk in erzähltechnischer Hinsicht für die Nachkriegsautoren auch kein unmittelbares Vorbild mehr. Zwar gab es in der Nachkriegszeit mit Robert Neumann einen seinerzeit bekannten und wortgewaltigen Autor, der die österreichische Tradition personifizierte, aber – soweit sich das sagen lässt – keine jüngeren Autoren, die dieses Erbe antraten. Auch wurde Neumanns Erzählweise nicht mehr (wie Kurt Tucholsky es noch vermochte) als eigenständige Technik wahrgenommen, sondern lediglich als Parodie und damit als nicht eigenständig.

Das unzuverlässige Erzählen der Nachkriegsliteratur ist demgegenüber, so lautet jedenfalls die These und ergeben die Belege der vorliegenden Untersuchung, durch andere Faktoren zu erklären: erstens durch die Adaption von Brechts Verfremdungstheorie auf das Erzählen durch Max Frisch, dem daher eine Schlüsselposition in dieser Frage gebührt, und zum zweiten durch die Amalgamierung mit anderen historischen und zeitgenössischen Erzählpoetiken, so dass es als Sekundär- oder Epiphänomen zu betrachten ist, das entweder von anderen Verfahren in den Hintergrund gedrängt wurde oder sich gar nur aus Versehen in einigen Werken realisierte.

1 Anna Seghers’ Transit

Fragt man nach Vorbildern für die Romanliteratur der DDR, so wird man zunächst sowjetische Romane nennen, die als exemplarische Vertreter des sozialistischen Realismus galten und zur Nachahmung offiziell empfohlen wurden (vgl. Aumüller 2015). Diese stehen jedoch kaum im Verdacht, unzuverlässig erzählt zu sein. Demgegenüber war Anna Seghers eine Autorin, deren Früh- und Exilwerk der Moderne verpflichtet war und daher Eigenschaften aufweist, die insofern eine Verwandtschaft mit dem unzuverlässigen Erzählen erkennen lassen, als das Erzählerprivileg reduziert ist und die Botschaft des Textes aus diesem nicht einfach zitiert werden kann. So ist etwa die Erzählsituation in Der Ausflug der toten Mädchen (1946) temporär ungewiss, denn es gibt zwei Ebenen des Erzählten: die Gegenwart der Erzählerin in Mexiko und ihre Vergangenheit am Rhein während eines Schulausflugs. Was den Übergang von der einen zur anderen Ebene angeht, wird der Leser eine Weile im Ungewissen gelassen. Man hat Schwierigkeiten, das Erzählte dem, was bisher bekannt ist, zuzuordnen. Ist es eine Halluzination? Ist es eine Wahrnehmung? Gehört es nach Mexiko oder anderswohin? Kohärenz wird schließlich über das Schema „Erinnerung“ hergestellt, die aber als solche nicht benannt wird. Aus diesem Grunde und auch weil Anna Seghers gewissermaßen eine Ikone für die DDR-Literatur gewesen ist, liegt es nahe, ihr Werk danach zu befragen, ob es darin unzuverlässiges Erzählen gibt, das für die Entwicklung der DDR-Literatur bedeutsam geworden sein könnte. Das Werk, das aus meiner Sicht dem am nächsten kommt, ist ihr Roman Transit.Footnote 7

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Der Roman ist aus meiner Sicht nicht mimetisch unzuverlässig erzählt, und axiologisch unzuverlässig erzählt ist er nur unter einer bestimmten, aber keineswegs zwingenden Interpretation. Warum und inwiefern er nicht die Bedingungen des mimetisch unzuverlässigen Erzählens erfüllt, ist mit Blick auf die hier vorgeschlagene Konzeption aufschlussreich. Daher wird mit einer Erörterung dieser Frage begonnen.

Davor sind freilich einige Angaben zur Handlung und zur Erzählinstanz vonnöten. Transit besitzt einen homodiegetischen Erzähler, der, in einer Pizzeria in Marseille sitzend, einem nicht weiter charakterisierten Gegenüber die Begebenheiten schildert, die ihn an diesen Ort geführt haben. Es ist bekanntlich eine Fluchtgeschichte, aber zu einem nicht geringen Teil berichtet er von seinen Erlebnissen in Marseille selbst, die von seiner allgemeinen Ziellosigkeit zeugen und von den absurden Reisebestimmungen, denen die Exilanten und Flüchtlinge sich beugen müssen.

Der Erzähler ist anonym, reist aber unter zwei falschen Namen: Seidler, der in seinen falschen Papieren steht, und Weidel, hinter dem sich in der Fiktion ein Schriftsteller verbirgt, der beim Einmarsch der deutschen Truppen in Paris Selbstmord begeht und an dessen Habe der Erzähler zufällig gerät.Footnote 8 Er findet Briefe von Weidels Frau, die sich von ihm trennen möchte und doch hofft, ihn in Marseille zu treffen.Footnote 9 Der Erzähler beschließt, ihr die nachgelassenen Sachen in Marseille zu übergeben. Infolge einer Verwechslung nimmt er den Namen Weidel an und erhält auf diesen Namen Papiere. In Marseille lernt er nach einiger Zeit eine Frau kennen, die ihn fasziniert. Offensichtlich sucht sie jemanden, aber dem Erzähler ist zunächst nicht klar, um wen es sich handelt (während der Leser dies schnell begreifen kann). Doch irgendwann, genau in der Romanmitte, versteht er schließlich, dass es Weidels Frau Marie ist, die ihren Mann zu treffen hofft, während sie mit ihrem Lebensgefährten, einem Arzt, auf das Reisevisum wartet. Da der Erzähler bei den Behörden unter dem Namen Weidel bekannt ist, hinterlässt er überall Spuren, die Marie zu der Überzeugung kommen lassen, dass ihr Mann in Marseille weilt. Der Erzähler hält sein Wissen zurück, um Marie für sich zu gewinnen und den Arzt loszuwerden. Aber weder dies gelingt ihm, noch schafft er es, Weidel aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, so dass er sie, mit dem Arzt zusammen, ziehen lässt, während er selbst zurückbleibt. Er beginnt sich als Landarbeiter zu verdingen und nimmt seine Umgebung gewissermaßen als neue Heimat an, mit der unterzugehen er gegebenenfalls bereit ist. Anfang und Ende des Romans werden von dem Gerücht zusammengehalten, das der Erzähler gerade gehört hat: dass das Schiff, auf dem Marie unterwegs ist, untergegangen sein soll.

1.1 Die bekannte Unbekannte: Zum Vorenthalten von Information

Mimetisch unzuverlässig könnte sein, dass der Erzähler als erzählendes Ich die Identität von Marie eigentlich genau kennen müsste, als er zu dem Punkt ihrer ersten Begegnung in der Geschichte kommt, aber so tut, als wisse er nicht, um wen es sich handelt. Um welche Sachverhalte handelt es sich, die hier falsch dargestellt sein könnten? Zunächst einmal ist es klar, dass nicht der primäre erzählte Sachverhalt falsch ist (dass der Erzähler Marie begegnet), sondern dass es um den sekundären erzählten Sachverhalt geht, ob er wahrheitsgemäß von seiner kognitiven Einstellung während der ersten Begegnungen mit Marie erzählt, oder gar um den tertiären, eher implizierten als erzählten Sachverhalt, ob sein Bericht wahrheitsgemäß seine kognitive Einstellung als erzählendes Ich wiedergibt.

  1. 1.

    Der Bewusstseinszustand (die kognitive Einstellung) des Erzählers zu den Zeitpunkten ta1–n der ersten Begegnungen (= „erlebendes Ich“).

  2. 2.

    Der Bewusstseinszustand (die kognitive Einstellung) des Erzählers zu den Zeitpunkten tb1–n des Berichts über die erstens Begegnungen (= „erzählendes Ich“).Footnote 10

Die erste Möglichkeit scheidet aus, weil es immerhin möglich ist, dass der Erzähler als erlebendes Ich die Frau nicht als Frau Weidel identifiziert. Zu der Zeit, als sie ihm auffällt, ist er schon eine ganze Weile in Marseille und der Gedanke an Weidels Sachen und seine Ehefrau mag in dieser Zeit verblasst sein. Vor allem aber gibt es, soweit ich sehe, kein Indiz und kein Motiv – also keine naheliegende (und jedenfalls bislang keine schlüssige) diegetische Erklärung – dafür, dass der Erzähler hier einen falschen Sachverhalt darstellt, also in der Wirklichkeit der Fiktion doch weiß oder ahnt, wen er vor sich hat.

Die andere Möglichkeit bedeutet möglicherweise, dass das erzählende Ich den Leser darüber täuscht, dass er zum Zeitpunkt des Erzählens genau darüber Bescheid weiß, dass die Frau, die ihn während seiner ersten Begegnungen mit ihr so fasziniert, Weidels Ehefrau ist. Offensichtlich unterdrückt er diese Information. Die Frage ist vor dem Hintergrund der hier vorgeschlagenen Konzeption narrativer Unzuverlässigkeit, was der Erzähler zu verstehen gibt. Wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht, in dem von der ersten Begegnung die Rede ist, gibt der Erzähler nichts Falsches zu verstehen; denn auch wenn er nicht explizit sagt, dass er als erzählendes Ich weiß, dass es sich bei der Frau um Weidels Ehefrau handelt, deutet er doch an, dass er das weiß, und zwar nicht zuletzt dadurch, dass er per Assoziation auf den toten Weidel zu sprechen kommt. Er sitzt im Café: „Eine Frau kam herein. Was soll ich Ihnen darüber sagen? Ich kann nur sagen, sie kam herein. Der Mann, der sich das Leben nahm in der Rue de Vaugirard, hat es anders ausdrücken können. Ich kann nur sagen: sie kam herein“ (T, 89 f.). Dass es eine für ihn wichtige Begegnung ist, kündigt der Erzähler bereits am Anfang des Abschnitts (Abschn. 2, 4) selbst an: „Ich komme jetzt auf das Wichtigste. Es war am 28. November“ (T, 86). Nach dem ersten Augenblick beschreibt er ausführlich, dass „sie verzweifelt suchte“ nach jemandem, der offensichtlich nicht da war (T, 90). Fortan denkt er hauptsächlich an die unbekannte Frau und macht sich seinerseits auf die Suche. Am nächsten Tag geht er wieder in das Café „Mont Vertoux“: „Mein gestriger Platz war frei. Ich rauchte und wartete. Das Warten am selben Ort war unsinnig. Wo hätte ich aber sonst warten sollen? Die Stunde war längst vorüber, in der die Frau gestern gekommen war“ (T, 93). Kurz darauf kommt sie tatsächlich, aber ihr Blick gleitet genauso leer über sein Gesicht hinweg wie am Vortag (T, 95). Auch an den nächsten Tagen sieht er sie flüchtig, doch ein Kontakt kommt noch nicht zustande. Das Erzählverhalten ist näher am erlebenden Ich. Zwischendurch macht der Erzähler jedoch immer wieder deutlich, dass er aus der Rückschau erzählt, so auch kurz vor dem entscheidenden Anagnorisis-Moment: „Auf einmal klopfte mein Herz, bevor meine Augen die Frau noch erkannt hatten“ (T, 137).

Der Fall lässt sich demnach folgendermaßen zusammenfassen: Der Erzähler hält die Information, dass er Marie zum Zeitpunkt des Erzählens kennt, zurück, um seinen Adressaten seinen damaligen Zustand des Wartens und dann des Wiedererkennens sozusagen nacherleben zu lassen. Er erweckt nicht den Eindruck, dass er über sein Wissen hinwegtäuschen wolle bzw. zunächst etwas Falsches erzähle oder zu verstehen gebe. Zugleich handelt es sich natürlich um eine für seine Geschichte höchst relevante Information, die er, wenn er sie schon nicht komplett unterdrückt, jedenfalls nicht in gebührender Form kenntlich macht. Daraus ergeben sich wichtige Implikationen für die theoretische Konturierung der Kategorie des unzuverlässigen Erzählens insofern, als Ansätze, die sich zu ihrer Erklärung und Analyse auf Grice’ Kommunikationsmodell berufen (Heydt 2006, Kindt 2008), den clash zwischen Relevanz und Vorenthalten nicht anders als durch Unzuverlässigkeit erklären. Die Autorin benutzt das Vorenthalten der Information aber nicht, um ein Defizit des Erzählers zu markieren (das Nicht-Erkennen) und gewissermaßen gegen ihn einzusetzen, sondern setzt es mit ihm zusammen ein, schlicht um die Aufmerksamkeit des intradiegetischen Adressaten wie auch des Lesers zu fesseln.

1.2 Fehlende diegetische Erklärungen: Zur Persönlichkeit des Erzählers

In der reichen Rezeptionsgeschichte des Romans gibt es eine Interpretation, der gemäß der Erzähler unzuverlässig ist, ohne dass dies als solches deutlich ausgewiesen wird (Walter 1984). Die Zuschreibung von narrativer Unzuverlässigkeit macht innerhalb dieser Interpretation auch nur einen Zwischenschritt aus. Sie wird nicht theoretisch eingeordnet. Die Stoßrichtung der Interpretation ist zunächst gegen die damals verbreitete Lesart gerichtet, die in den Roman eingegangenen historischen Tatsachen gäben ein zuverlässiges Bild der damaligen Wirklichkeit. Walter (1984, 34–45) aber benennt Unstimmigkeiten zwischen historischer Wirklichkeit und Romangeschehen, die vor dem Hintergrund, dass das Geschehen auch sehr viel historisches Richtiges einbezieht, als Gründe für die Unzuverlässigkeit des Erzählers herhalten könnten. Allerdings sind diese Unstimmigkeiten (etwa die Namen der Schiffe und ihre Routen, gewisse Visabestimmungen, die vermeintliche Schließung der französisch-spanischen Grenze) so speziell, dass es besonderer Argumente bedürfte, die die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit auf der Basis dieser falschen Sachverhalte rechtfertigen. Im Text jedenfalls gibt es, soweit mir bekannt, keine Hinweise darauf, dass man diese Abweichungen von der historischen Wirklichkeit auch als Abweichung von der erzählten fiktiven Wirklichkeit interpretieren sollte. Mithin sind diese Abweichungen als Indiz der Binsenweisheit zu verstehen, dass die Autorin eine eigene Welt kreiert. Es führt nicht weiter, die Existenz eines Schiffes namens „Montreal“ und anderes in der fiktiven Wirklichkeit von Transit anzuzweifeln.

Für die Frage nach der Unzuverlässigkeit interessanter ist denn auch, was Walter im nächsten Schritt zu sagen hat. Es handelt sich um fiktionsinterne Ungereimtheiten, die auf das Konto des Erzählers gehen, konfligierende Sachverhalte, die die Plausibilität des jeweils anderen untergraben. Einerseits stellt sich der Leser als unbelesen dar und gibt als Berufsbezeichnung „Monteur“ an (T, 16). Diese beiden Charakterisierungen bilden das Stereotyp des einfachen Arbeiters. Andererseits ist laut Walter (1984, 57 f.) seine Erzählung geprägt nicht nur von großem literarischem, sondern auch von sehr speziellem historischem Wissen. „Wir haben es mit einem umfassend gebildeten Menschen zu tun, der lange die Universitätshörsäle“ von innen gesehen haben müsse; „die Berufsangabe“ sei also auch „eine Mystifikation“ (Walter 1984, 59).

In der Tat ist es seltsam, dass der Erzähler, als er zufällig an Weidels nachgelassene Manuskripte gelangt, sofort zu lesen beginnt: „Aus lauter Langeweile fing ich zu lesen an. Ich las und las. Vielleicht, weil ich bisher noch nie ein Buch zu Ende gelesen hatte“ (T, 25). Und kurz darauf heißt es deutlicher: „Ich hatte ja übergenug erlebt, aber nie gelesen! Das war nun wieder für mich etwas Neues! Und wie ich las! […] So hatte ich nur als Kind gelesen, nein, zugehört“ (T, 26). Auf seine damaligen Empfindungen spielt er später an, als er erneut auf das Lesen zu sprechen kommt, nachdem er der Frau gefolgt ist und sie verloren hat: „Ich kehrte zurück in die Rue de la Providence. Ich war noch keineswegs müde. Was sollte ich tun? Lesen? Das hatte ich einmal getan an einem ähnlich leeren Abend. Nie wieder! Ich spürte den alten Unwillen meiner Knabenzeit gegen Bücher, die Scham vor bloß erfundenem, gar nicht gültigem Leben“ (T, 109).

Nun mag es merkwürdig sein, dass der Erzähler literarische, vor allem mythologische und biblische Anspielungen in seine Rede einfügt und auch dass er als bekennender Nicht-Leser sofort zu lesen anfängt. Ausgeschlossen ist es aber nicht. Er bietet sogar selbst eine Erklärung an: dass er nämlich „zugehört“ habe als Kind. Auch dem könnte man zwar wieder entgegenhalten: Wer sollte ihm, den „die Eltern Monteur [haben] werden lassen“ (T, 16), vorgelesen oder davon erzählt haben? Aber genauso ist nicht ausgeschlossen, dass er all das aufgeschnappt hat, vielleicht als Kind in einem Arbeiterverein, vielleicht im französischen Lager, in dem er mit Intellektuellen zusammen interniert war. Walter (1984, 57) hingegen insinuiert, dass es sich um einen Freud’schen Versprecher handelt. Auch das ist nicht ausgeschlossen, aber mehr als ein Indiz haben wir mit dem Hinweis auf den illiteraten Hintergrund des Erzählers nicht.

Klar ist nämlich, dass es sich hier um keinen logischen Widerspruch über denselben Sachverhalt handelt, sondern um zwei verschiedene Sachverhalte, für deren gleichzeitiges Bestehen höchstens eine geringere empirische Wahrscheinlichkeit spricht als dafür, dass einer von ihnen nicht besteht. Für die Bestätigung des Verdachts bedürfte es zusätzlicher Belege.

Walter führt zwar weitere Beobachtungen an, doch sind sie meiner Meinung nach zu schwach, als dass sie die mimetische Unzuverlässigkeit des Erzählers nachwiesen. Der Erzähler sei „skrupulös bis in die Kleinigkeiten hinein“, so Walter (1984, 61), außerdem uneigennützig und er reagiere äußerst empfindlich auf Verrat. Von einer „Obsession“ (Walter 1984, 65) ist die Rede, so sehr durchdringe das Motiv von Treue und Verrat das Erzählen. Walter kontrastiert diese „Obsession“ des Erzählers mit dessen nicht minder häufig sich selbst zugeschriebenen Langeweile. Daraus schließt er, mehr insinuierend als explizit folgernd, dass die Langeweile eine Reaktion auf einen tiefempfundenen Verrat sei: „Da das Leben ihm gleichgültig geworden ist, wirkt die Langeweile im genauen Wortsinn tödlich: warum noch weitermachen, wenn einem der Sinn des Tuns gestohlen wurde?“ (Walter 1984, 66). Für Walter verbirgt sich hinter der angeblich aus Enttäuschung entstandenen Langeweile ein Hinweis auf das frühere politische Engagement des Erzählers, über das er sich angeblich weniger ausschweigt als falsche Angaben macht. Gegenüber Paul Strobel leugnet er, Mitglied einer Partei zu sein; im deutschen KZ sei er gelandet, „weil ich mir auch ohne Partei manche Schweinerei nicht gefallen ließ“ (T, 19). Nach Walter könnte er sich gar nicht so über Verrat echauffieren, wäre er nicht betroffen. Und der Erzähler verknüpft einmal sogar selbst die beiden Begriffe: „Aber Verrat, das lähmt“ (T, 38), sagt er während seiner Reise durch das unbesetzte Frankreich und bezieht sich damit offenbar auf die Vichy-Regierung, die die Freiheit und die Franzosen verraten hat.

Hätte Walter recht, wäre das ein klarer Fall von mimetischer Unzuverlässigkeit. Der Erzähler gibt einerseits zu verstehen, dass er ein unpolitischer Mensch ist, der sich treiben lässt, und nur sich selbst verpflichtet ist. Wenn er aber andererseits in der Romanwirklichkeit ein enttäuschter politischer Aktivist ist, dann hätte er damit etwas Falsches zu verstehen gegeben. Walter (1984, 67 f.) führt eine ganze Reihe von weiteren Indizien an, die seine grundlegende These, dass der Erzähler ein demoralisierter, früher politisch engagierter Mensch sei, belegen sollen, so die Äußerungen des Erzählers über die französische Kapitulation 1940 oder (vage) Andeutungen über die Ereignisse im Jahr 1938 (das Appeasement in Bezug auf die Tschechoslowakei und den „Anschluss“ Österreichs) anhand seiner Antipathie gegen den tschechischen Kapellmeister, der seine Söhne verraten habe. Daraus, dass der Erzähler sich rückblickend schon vor der Kapitulation Frankreichs als Insasse eines französischen Lagers Langeweile und damit nach Walter eigentlich Demoralisierung zuschreibt, schließt er, dass der Grund für seine Enttäuschung noch weiter zurückliegen muss: „Und da ist die Auswahl unter den politischen Ereignissen nicht eben groß. Einzig der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 und der deutsch-sowjetische Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 kommen als adäquate Ursachen einer so lebensbedrohenden Enttäuschung […] in Frage“ (Walter 1984, 69). Darüber sei der Erzähler so enttäuscht, und das sei wiederum ein Beleg für seine politische Einstellung. Walters Argumentation ist interessant, aber sie operiert mit vielen Unbekannten.

Bislang stehen sich zwei konträre Lesarten gegenüber. Sind beide gleichermaßen berechtigt? Oder lässt sich eine als falsch oder wenigstens weniger plausibel disqualifizieren? Die Beantwortung dieser Fragen hängt auch davon ab, welcher übergeordneten Interpretationstheorie man sich bedient. Macht man sich z. B. die wertmaximierende Annahme zu eigen, eine Interpretation sei umso treffender oder besser, je mehr Bedeutung sie aus dem Text herausholt bzw. je anspruchsvoller er in ästhetischer Hinsicht ist (vgl. Olsen 1982), so spräche schon allein deswegen mehr für Walters Interpretation. Seine Interpretation schreibt dem Text mehr Bedeutung zu bzw. ist ästhetisch anspruchsvoller, weil sie im Text über das, was der Erzähler zu verstehen gibt, hinaus noch etwas erkennen will, was er aufgrund seiner Unzuverlässigkeit nicht zu verstehen gibt: nämlich dass er in Wirklichkeit ein umfassend gebildeter und durch den Verrat der Sowjetunion enttäuschter politischer Aktivist bzw. ein ehemals engagierter Antifaschist ist. Man könnte aber auch eine Interpretation auf eine gegenteilige Interpretationsmaxime stützen, wonach zwischen konkurrierenden Interpretationen derjenigen der Vorzug zu geben ist, die bei argumentativem Gleichstand in Bezug auf die angeführten Textdaten weniger Voraussetzungen macht. Das wäre im vorliegenden Fall offensichtlich die Annahme, dass den Angaben des Erzählers zu trauen sei.

Angenommen, es herrschte bzgl. der Argumente pro vs. contra falsche Angaben zu Bildungsstand und politischem Bewusstsein des Erzählers tatsächlich Gleichstand, so sind die im ersten Kapitel erläuterten theoretischen Annahmen hinsichtlich der Frage nach der Unzuverlässigkeit des Erzählers aber noch nicht ganz ausgeschöpft. Neben Falschheit wurde noch eine weitere Bedingung für die erfolgreiche Zuschreibung von Unzuverlässigkeit genannt: nämlich eine diegetische Erklärung für die falschen Angaben zu finden. Die Aufgabe ist nun zu erklären, warum der Erzähler sowohl seinen Bildungsstand als auch sein früheres politisches Engagement verleugnet und stattdessen den Eindruck erweckt, er sei jemand mit den richtigen moralischen Anlagen, also vor allem hilfsbereit, aber ohne jegliches Bewusstsein für das Kollektiv.

Blicken wir zunächst auf Walters Interpretation und fragen, ob sie hier weiterhilft. Wie angedeutet, ist die Unzuverlässigkeit des Erzählers nur einer von mehreren Bausteinen in seiner Interpretation, die auf den Nachweis abzielt, dass der Text in mehrfacher Hinsicht „hochgradig verschlüsselt“ ist (Walter 1984, 130), nicht nur in Bezug auf die Person des Erzählers, sondern auch in Bezug auf die zahlreichen mythologischen Elemente, die dieser angeblich ganz gebildete Erzähler in seine Rede integriert, sowie Anspielungen auf die Realismus-Debatte zwischen Georg Lukács und Anna Seghers. Sie musste nach Walter diese Botschaften auf eine solche Weise verschlüsseln, weil sie Kritik an der sowjetischen Politik bedeuten, die sie offen auszusprechen sich nicht habe erlauben können oder wollen:

Die Maske des ‚parteilosen‘ Erzählers allein ermöglichte es Anna Seghers, das für einen Kommunisten noch vor der faschistischen Todesgefahr rangierende zentrale Überlebensproblem zur Sprache zu bringen. Nur mit diesem kryptischen Erzählermund, nur mit der Versenkung ins Mythische konnte sie die zum seelischen Weiterleben unerläßliche Kritik an Partei und Sowjetunion äußern, ohne mit Partei und Sowjetunion brechen zu müssen. Denn die Bindung war sie ebenso eine Lebensnotwendigkeit wie das Artikulieren der seelenrettenden und -reinigenden Kritik. (Walter 1984, 141)

Walter liefert damit letztlich eine psychologische Interpretation der Erzählverfahren: Weil Seghers die Lage nicht kritiklos hinnehmen konnte oder wollte, die Äußerung dieser Kritik sie aber der letzten Hoffnung auf Schutz beraubt hätte, habe sie diese Kritik verschlüsseln müssen.

Es ist schwer, diesen Schluss zu stützen oder zu widerlegen. Die ideologische Enthaltsamkeit des Romans könnte in der Tat mit der Enttäuschung der Autorin über die Sowjetunion zusammenhängen.Footnote 11 Nur weil sich damit nicht die vermeintliche Unzuverlässigkeit des Erzählers erklären lässt, heißt das nicht auch, dass sie sich überhaupt nicht auf den Roman beziehen lässt.

Unabhängig davon ist diese Erklärung nützlich für unsere Zwecke, weil sich an ihrem Beispiel der Unterschied aufzeigen lässt, der im Rahmen der Zuschreibung von mimetischer Unzuverlässigkeit zwischen einer nicht-diegetischen Erklärung wie dieser und einer diegetischen Erklärung besteht. Die Forderung nach einer diegetischen Erklärung dafür, warum einige Sachverhalte falsch sind, basiert auf dem Argument, dass sich durch Unachtsamkeit von Autoren Fehler in Texte einschleichen, die keine Funktion in der Geschichte haben können, weil diese Fehler so geartet sind, dass sie nicht in den allgemeinen Bedeutungsrahmen passen – es sei denn, man kann ihnen trotzdem eine Funktion im Rahmen der übergeordneten (und vom Autor offensichtlich intendierten bzw. vom Text offensichtlich unterstützten) Bedeutungsstruktur zuweisen.

Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um mutmaßliche Fehler. Es geht darum, dass zwei auf indirektem Wege gewonnene Zuschreibungen (von Bildung und politischem Bewusstsein), von denen der Erzähler jeweils das Gegenteil zu verstehen gibt, wahr sein sollen, ohne dass in der erzählten Welt ein Bezugsrahmen vorliegt, in denen diese Zuschreibungen eingepasst werden können. Was fehlt, wenn man Walters Interpretation folgt, ist sowohl eine diegetische Erklärung für den vermeintlichen politischen Hintergrund des Erzählers und seine angebliche akademische Bildung als auch eine Erklärung für die Aussagen des Erzählers, die das Gegenteil besagen. Wäre er wirklich so umfassend gebildet, wie Walter meint, müsste er z. B. den Autor Weidel kennen. Gegenüber Paul Strobel leugnet er dies aber, und es gibt auch sonst keinen Hinweis darauf, dass er ihn doch gekannt habe: „Ich hatte noch nie etwas von ihm [Weidel] gehört“ (T, 19). Folgte man Walters Interpretation, müsste man auch diese Aussage für falsch halten. Damit aber würde man sich vollends vom Text lösen, denn auch dafür gibt es keine Erklärung.

Dass der Erzähler entgegen seiner Selbstaussagen hochgebildet und politisch engagiert gewesen sei, lässt sich zwar (wenn auch keineswegs zwingend) aus den von Walter zusammengetragenen Andeutungen extrapolieren, aber die Erklärung, die Walter für Anna Seghers gefunden hat (ihre Scheu, die Sowjetunion offen für ihren Verrat anzuklagen), kann man nicht auf den Erzähler übertragen; jedenfalls gibt es bis auf weiteres keine Hinweise, aufgrund deren man dem Erzähler diese Motivation unterstellen könnte. Dabei teilt er sogar beiläufig mit, dass er sich mit seinen Bekannten, den Binnets, über den „Russenvertrag“ unterhält (T, 65).Footnote 12 Überdies gibt es bislang, soweit bekannt, auch keine Erklärung dafür, warum der Erzähler sich als ungebildeter Arbeiter ohne politische Bindung darstellt. Eine solche Erklärung könnte z. B. darin liegen, dass er konspirativ unterwegs ist. Aber das ist ansonsten nicht im Text verankert, soweit ich sehe. Was sich aus Walters Interpretation herauslesen lässt, ist die Erklärung, dass der Erzähler aus Enttäuschung über die deutsch-sowjetische Allianz alle Bindungen leugnet. Doch zitierbare triftige Belege für diesen Zusammenhang fehlen. Erst recht fehlt eine Motivation für das vermeintliche Verhalten des Erzählers, einen falschen Eindruck über seinen Bildungsstand zu erwecken.

Der theoretische Hintergrund für die Forderung nach einer diegetischen Erklärung, wenn man einer Erzählinstanz Unzuverlässigkeit nachweisen will, besteht in der interpretationsleitenden Annahme, dass eine von zwei Interpretationen triftiger ist, wenn sie besser im Text verankert ist, sprich, wenn sie mit mehr Textstellen zu vereinbaren ist. Das heißt natürlich nicht, dass diejenige Interpretation, die mehr Textstellen integrieren kann, auch die interessantere Interpretation ist.

1.3 Zur Axiologie des Erzählers und des Romans

Es gibt noch mehr anscheinend unausgewogene Aussagen, die, für sich besehen, Zweifel am Erzähler wecken. Schon zu Beginn erwähnt der Erzähler das „Paar, das ich einmal flüchtig gekannt habe“ (T, 6). Das scheint nicht angemessen zu sein, denn Marie und ihr Gefährte, der Arzt, sind deutlich mehr als nur eine flüchtige Bekanntschaft des Erzählers. Man könnte durchaus zu dem Schluss kommen, dass der Erzähler mit Bezug auf diesen Sachverhalt unzuverlässig ist – allerdings nicht, um den diegetischen Adressaten oder den Leser zu täuschen, sondern um nicht sogleich alles preiszugeben, was ihn im Innersten bewegt. In diesem Fall wäre die Unzuverlässigkeit stark situativ. Sie greift jedenfalls nicht auf größere Teile der Erzählrede aus. Ohnehin aber ist „flüchtig“ ein Schlüsselwort, ein Synonym für das Transitäre, das der Roman als Charakteristikum der Situation der Exilierten darstellt, ein Leben, dem die Vergangenheit geraubt wurde und dem so gut wie keine Zukunft gewährt wird. Vor dem Hintergrund dieser Lebenssituation wird alles flüchtig, d. h. vorübergehend, transitär, unbeständig, nicht nur das sowieso Flüchtige, sondern auch das Bedeutsame. Der Erzähler wiederholt das Wort mehrmals und lässt erkennen, dass er damit mehr im Sinn hat, als nur eine oberflächliche Bekanntschaft zu charakterisieren. Es geht gewissermaßen um die condition humaine exilée, in der auch das, was einen tief berührt, flüchtig wird:

Sie wissen ja selbst, was es auf sich hat mit solchen flüchtigen Bekanntschaften in den Bahnhöfen, in den Warteräumen der Konsulate, auf der Visa-Abteilung der Präfektur. Wie flüchtig ist das Geraschel von ein paar Worten, wie Geldscheine, die man in Eile wechselt. Nur manchmal trifft einen ein einzelner Ausruf, ein Wort, was weiß ich, ein Gesicht. Das geht einem durch und durch, rasch und flüchtig [...]. (T, 6)

Hier wird der letzte Satz adversativ eingeleitet, in dem das Bedeutsame dem Unbedeutsamen („Bekanntschaften in den Bahnhöfen“) der vorhergehenden Sätze gegenübergestellt wird, ehe es am Ende durch die abermalige Verwendung von „flüchtig“ überraschend damit gleichgesetzt wird. So gesehen, sagt er an dieser Stelle nicht einmal etwas Falsches.

Auch hier greift wieder das Prinzip der diegetischen Erklärung: Dass er den Adressaten mit dieser Charakterisierung seiner Bekanntschaft mit dem Paar anlügt, ist zwar eine Tatsache (sofern man ihm unterstellt, er benutzt das Wort in seiner allgemeinen Bedeutung ohne die soeben angedeuteten individuellen Konnotationen). Dass die Autorin aber mit dieser falschen Sachverhaltsdarstellung durch den Erzähler dem Leser eigentlich etwas anderes zu verstehen geben will, ist nicht der Fall. Er ist damit ähnlich gelagert wie das anfängliche Nichterkennen von Marie als Frau des Schriftstellers Weidel.

Demgegenüber lässt sich für den speziellen Gebrauch von „flüchtig“ eine andere Erklärung finden. Sie liegt, wie dargelegt, erstens darin, dass der Erzähler noch hinter dem Berg hält, was ihn vor allem umtreibt. Und zweitens ist es ein Schlüsselbegriff für ihn selbst (aber auch für den Roman, der das Begriffsfeld des Vorübergehenden, Flüchtigen im Titel trägt), den er auch später wieder und wieder aufruft. Als er den Koffer, der ursprünglich Weidel gehörte, fast vergisst, sagt er sich:

Mir ging durch den Kopf, wieso etwas, was mich noch in Paris dermaßen beherrscht hatte, sich vollständig hatte verflüchtigen können. Aus diesem Stoff war also der Zauber des Toten gemacht! Vielleicht aber war das auch nur ich, der aus diesem Stoff gemacht war, der sich verflüchtigte. (T, 49)

Noch eindrücklicher als Schlüsselbegriff wird der Ausdruck im folgenden Zitat markiert. Die vierwöchige Aufenthaltserlaubnis in Marseille ist abgelaufen. Ein Beamter weist ihn darauf hin, dass es keinen Grund gebe, die Aufenthaltserlaubnis zu verlängern, da er keine Papiere vorlegen könne, die belegen, dass er sich in Marseille aufhalte, um abzureisen. Diese Reaktion deutet der Erzähler um und verallgemeinert sie im Hinblick auf seine Situation, existenzialisiert den fehlenden Grund für seinen Aufenthalt in Marseille sozusagen. Er macht sich Vorwürfe. Plötzlich ist ihm nicht mehr langweilig; stattdessen ist er erregt, weil er merkt, dass etwas falsch läuft in seinem Leben.

Da fing ich an zu zittern. Ich zitterte vielleicht im tiefsten Innern, weil der Beamte recht hatte. Ich war gar nicht eingemeindet. Mein Dach [sein Hotel] war fragwürdig in der Rue de la Providence. Meine Freundschaft mit Georg Binnet war unerprobt, meine Zärtlichkeiten für den Knaben ein schwaches Gefühl, das zu nichts verpflichtete, und was Nadine [seine damalige Freundin] anging, fing ich nicht schon an, ihrer müde zu werden? Das war dann die Strafe für die unverbindliche Flüchtigkeit meines Durchzuges – ich mußte fort. Ich hat eine Bewährungsfrist bekommen [die erste vierwöchige Aufenthaltserlaubnis], eine Probe, ich hatte sie schlecht genutzt. (T, 67)

Hier deutet sich an, dass Flüchtigkeit als Lebenseinstellung ein Zustand ist, den es zu überwinden gilt. Als Exilant ist er zwar gezwungenermaßen in diesem Zustand, aber es ist doch der Zustand eines jeden, der seine Bestimmung noch nicht gefunden hat, der sich vom Leben treiben lässt, anstatt es selbst in die Hand zu nehmen und etwas zu schaffen, das Bestand hat. Und obwohl das Exil des Erzählers erzwungen ist, erkennt er an dieser Stelle, dass es an ihm selbst ist, diesen Zustand zu überwinden. Dass er ins Exil gezwungen wurde, ist keine Ausrede dafür, sich nur treiben zu lassen.

So viel zum Begriff des Flüchtigen, der ein Leitmotiv des Romans ist, aber kein zureichender Indikator für die Unzuverlässigkeit des Erzählers. Ebenso ist das nächste Beispiel kein Widerspruch. Allerdings führt es auf eine andere Fährte, an deren Ende die axiologische Unzuverlässigkeit des Erzählers stehen könnte. So sagt er von Paul Strobel zunächst, er sei im Lager sein „Kumpan“ gewesen (T, 16), und in dieser Äußerung steckt eine gewisse Sympathie, weil er ihn in dem Zusammenhang als „Schriftsteller“ charakterisiert und sich selbst als „Monteur“. Er betont hier die Gleichwertigkeit zwischen ihnen, indem er das Wort mehrmals wiederholt und damit eine Allianz mit ihm beschwört. Später jedoch, als er ihn in Marseille wiedersieht, leitet er die Episode ein, indem er sich von ihm auffällig distanziert: „Er war zwar nie mein Freund, keineswegs“ (T, 70). Ist es ein Widerspruch? Nicht unbedingt, denn jemand kann ein „Lagerkumpan“ sein, wie es auch heißt (T, 16), aber eben kein richtiger Freund. Außerdem dient „das Paulchen“ (T, 70), der Intellektuelle mit seinen braunen Augen, als Kontrastfigur zu dem helläugigen Heinz,Footnote 13 einem ehemaligen KZ-Häftling und beinamputierten Veteran der Internationalen Brigaden, mit dem der Erzähler einst dem Lager entfloh (T, 8) und dem er kurz nach dem Treffen mit Paul ebenfalls in Marseille wiederbegegnet (T, 77–81). Sympathie (für Heinz) und Antipathie (gegen Paul) sind hier nun ganz klar verteilt, und wer sozialistische Romane kennt, der sieht auch die entsprechenden Charakterisierungsverfahren am Werke, die den moralisch wackligen Intellektuellen, der „neu gekleidet“ ist und den Erzähler „unverbindlich“ ansieht (T, 70), gegen den aufrichtigen, zupackenden Tatmenschen mit seinem wachen Blick positionieren. Heinz ist eine typische Mentorfigur, die der Erzähler in seiner Ziellosigkeit allerdings sozusagen ungenutzt vorüberziehen lässt.Footnote 14 Die bei der Begegnung getroffene Verabredung, auf die er sich „kindisch“ freut, hält der Erzähler nicht ein, weil ihm „etwas dazwischengekommen“ ist (T, 81). Was ihn davon abhält, ist die Begegnung mit Marie. Sie – bzw. sein amour fou oder die Aussicht auf das private Glück – ist es, die ihn daran hindert, seinen Mentor zu finden, der ihn auf den rechten Weg leiten könnte.

Wie man weiß, war Anna Seghers eine Marxistin. Ihr Erzähler aber ist jemand, der sein individuelles Interesse über alles zu stellen scheint. Er lässt sich treiben von den Ereignissen, nimmt das Heft des Handelns nur in dem Moment in die Hand, als er Marie erobern will. Erst gegen Ende scheint er sein Schicksal anzunehmen und zeigt solidarisches Verhalten, als er Marie fahren lässt und sich selbst im Rahmen seiner Möglichkeiten dort nützlich macht, wo ihn das Exil hingeworfen hat. Entsprechend konnte das Schema eines sozialistischen Erziehungsromans auf den Roman angewendet werden und der Erzähler in diesem Sinne als zuverlässig eingestuft werden, denn „im Verlaufe einer wechselvollen Entwicklung gewinnt er eine größere Festigkeit und Einsicht, so daß er zur Entscheidung fähig wird. Von der getroffenen Entscheidung, sich nicht mehr treiben zu lassen, sondern zu bleiben, erzählt er“ (Wagner 1975, 216). Das ist eine richtige Beobachtung der Erzählsituation, doch der unmittelbar anschließende Satz lässt das Erzählverhalten nicht nur außer acht, sondern widerspricht ihm geradezu: „Von diesem relativ festen Punkt aus wird ihm Überschau und Urteil über das Geschehen möglich“ (ebd.). Auch wenn sich in der Rede immer wieder das erzählende Ich äußert, fehlen ihm „Überschau“ und „Urteil“ gerade.

Auch wenn für die DDR-Literaturwissenschaft das unzuverlässige Erzählen eine noch unheimlichere Kategorie gewesen wäre als für die der zeitgenössischen BRD (hätten sie beide sie gekannt), so dass die DDR-Abhandlungen zu Transit dem für die sozialistische Literatur außergewöhnlichen subjektiven Ich-Erzähler (vgl. Wagner 1975, 211) trotz seiner nicht dazu passenden Eigenschaften ideologische Zuverlässigkeit attestieren, kann man einige Überlegungen für die Interpretation nutzen. Mit ihrer Hilfe könnte man zu dem Schluss kommen, dass der Erzähler zumindest temporär – und das heißt hier über weite Strecken des Romans – axiologisch unzuverlässig ist bzw. erzählt, weil seine Hilfsbereitschaft immer einzelfallbezogen ist und sozusagen aus individueller Lust geschieht und weil Solidarität und Gemeinschaft ihm fremd sind. Da dies die Werte sind, die für die Autorin zählen und die in den meisten anderen ihrer Romane deutlich zum Ausdruck kommen (vgl. Batt 1973, 160), wäre anzunehmen, dass sie der Maßstab sind, an dem das Verhalten des Erzählers und seine Aussagen zu messen sind. Der Erzähler wäre axiologisch unzuverlässig, weil er weder im Handeln noch im Erzählen erkennbar für diese Werte einsteht.Footnote 15

Doch dieses Argument ist nicht zwingend. Eine seiner Prämissen lautet, dass marxistische Werte, die in Anna Seghers’ anderen Werken gelten, auf Transit übertragbar seien. Das versteht sich allerdings keineswegs von selbst. Man müsste Gründe angeben, die diese Übertragung stützen, am besten im Text selbst. Ein solcher Grund könnte darin bestehen, dass mit Heinz ein Repräsentant dieser Werte existiert. Der Erzähler ist erkennbar fasziniert von ihm, versetzt ihn dann aber, weil er Wichtigeres zu tun hat. Damit wäre er axiologisch unzuverlässig, weil er die Chance auf ideologische Bekehrung aufgrund seines Individualismus und seiner Leidenschaften ungenutzt lässt. Doch steht und fällt die Zuschreibung axiologischer Unzuverlässigkeit mit der Beurteilung des Verhältnisses von impliziter marxistischer Ideologie und explizit dargestellter zeitgeschichtlicher Situation. Erachtet man nämlich demgegenüber die auffällige Abwesenheit marxistischer Ideen im Roman als grundlegend, so wird man dem Erzähler diesbezüglich keine axiologische Unzuverlässigkeit zuschreiben können, da der Erzähler, was die explizit dargestellten Situationen seines Alltags angeht, sowohl im bürgerlichen als auch im marxistischen Sinne anständig und situationsgerecht handelt. Man kann also auch zu dem Schluss kommen, dass in der erzählten Welt keine marxistischen Werte explizit etabliert werden, gegen die der Erzähler verstößt.

Das Fazit dieser Überlegungen zu einem Roman, den man lediglich aufgrund seines deutschen Publikationsjahrs der Nachkriegsliteratur zurechnen kann, lautet also, dass die Zuschreibung axiologischer Unzuverlässigkeit stark von hermeneutischen Prämissen abhängt, deren Angemessenheit nur mehr oder weniger gilt. Sofern man dem Roman keine marxistische Lesart unterlegt (wofür es auch mindestens einen guten Grund gibt: nämlich dass angesichts der allgemeinen Gefahr durch den Nationalsozialismus auch und gerade für andere soziale Gruppen als nur die Kommunisten ideologische Fragen sekundär und in der Exilsituation alle gleich sind), müsste man davon ausgehen, dass Transit auch nicht axiologisch unzuverlässig erzählt ist. Es wäre schlicht ein Roman, in dem andere Dinge verhandelt werden, vielleicht etwas viel Allgemeineres, nämlich die jenseits aller Ideologie für alle identische condition humaine unter den Bedingungen des Exils oder auch am Beispiel des Exils – so sieht es die frühere westdeutsche Literaturkritik, die möglicherweise auch von der Vorstellung geleitet war, den Roman für (aus sozialistischer Sicht) „bürgerliche“ Interpretationen zu reklamieren (vgl. Reich-Ranicki 1969, 74–77).Footnote 16 Demgegenüber war man in der DDR eher geneigt, das Visa- bzw. Transit-Problem des Romans als pars pro toto zu verstehen, also „stellvertretend für eine umfassende Bewährungssituation, für eine Krise, in die Europa und die Welt geraten war, […] in der die Festigkeit der menschlichen Beziehungen einer Zerreißprobe ausgesetzt wird und die Flucht sich als Flüchtigkeit im Innern der Menschen einzunisten droht“ (Batt 1973, 161).Footnote 17 Dass der Verzicht auf (explizit) Marxistisches möglicherweise auch in Seghers’ Enttäuschung über den deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrag gründet, bleibt davon unberührt.

Andererseits ist das gewiss nicht der einzige Bereich, für den sich die Frage nach axiologischer Unzuverlässigkeit stellt. Prinzipiell gilt, dass dieser Bereich sehr viel offener ist als derjenige, der mimetische Unzuverlässigkeit betrifft, weil die axiologischen Verhältnisse in fiktiven Welten weniger festgelegt sind als die mimetischen. (Das gilt im Übrigen auch für die reale Welt.) Hier herrscht sozusagen naturgemäß mehr Interpretationsspielraum. In Transit wirft das Verhältnis zwischen dem Erzähler und Marie durchaus Fragen moralischer Art auf. Eine weitere Möglichkeit axiologischer Unzuverlässigkeit könnte darin bestehen, dass der Erzähler Marie belügt. In der Hoffnung, sie für sich zu gewinnen, hält er sie im Ungewissen, was Weidels Existenz angeht, und lässt sie daran leiden, dass sie Weidels nicht habhaft wird. Der Erzähler verstößt offensichtlich gegen einen zentrale Norm humaner Ethik. Aber ist tatsächlich dieser Normverstoß dem Erzähler als solcher anzulasten? Soll man dies als Normverstoß verstehen?

Dass sich darauf keine eindeutige Antwort geben lässt, zeigt, dass die Zuschreibung von axiologischer Unzuverlässigkeit an Texte weit weniger streng reguliert ist als die Zuschreibung mimetischer Unzuverlässigkeit.

2 Thomas Manns Doktor Faustus und Felix Krull

Zugespitzt und von heute aus betrachtet, möchte man vielleicht sagen, dass Thomas Mann für die Literatur der Bundesrepublik war, was Anna Seghers für die Literatur der DDR war. Doch erweisen sich solche Behauptungen häufig als vorschnell. Abgesehen von der Tatsache, dass sie unterschiedlichen Generationen angehörten, und auch abgesehen davon, dass Anna Seghers nicht nur als Autorin, sondern auch als Funktionärin in der DDR tätig war, während Thomas Mann ein Exil-Autor blieb (weshalb Vergleiche dieser Art mehr ausblenden als einblenden), waren die Literaturen der Bundesrepublik und der DDR nie so homogen, wie es solche Behauptungen voraussetzen. Als Mexiko-Emigrantin war Anna Seghers einigen Kollegen in der DDR allein aus diesem Grunde verdächtig (vgl. Krauss 2001). Und Thomas Mann war durch seine kompromisslose Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus in der ersten Nachkriegszeit und in der frühen Bundesrepublik manchen Anfeindungen ausgesetzt (vgl. Hajdu 2002), während er in der SBZ und DDR aus demselben Grunde durchweg Anerkennung erfuhr. Daher ist die genealogische Zuteilung Thomas Manns zur Literatur der Bundesrepublik leicht als ungenau zu beurteilen und kann nur als erste, grobe Orientierung dienen. Trotzdem sieht man ihn heute nicht zu Unrecht eher als einen Autor der älteren Generation, der auf die westliche Nachkriegsliteratur wirkte. Das mag daran liegen, dass die bürgerlichen und modernen Aspekte seines Werks Traditionslinien bilden, die in die Literatur der Bundesrepublik reichen, nicht aber in die der DDR.Footnote 18 Zugleich konstituieren sich diese Traditionslinien durch diejenigen Aspekte, die die professionellen Rezipienten an seinem Werk vor allem interessieren.

Ausgerechnet den Doktor Faustus und den Felix Krull als Thomas Manns Nachkriegswerke zu bezeichnen dürfte Widerspruch erregen. Den Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde begann Thomas Mann noch während des Krieges zu schreiben und brachte ihn 1947 heraus, während die Konzeption des 1954 erschienenen Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil ein halbes Jahrhundert zurückreicht. 1911 erschien ein erstes Kapitel in einem Almanach des S. Fischer Verlages (das fünfte Kapitel des ersten Buchs in der Zählung der letzten Ausgabe: über den Theaterbesuch – es wird uns noch beschäftigen). Bis 1913 arbeitete Mann weiter daran, um das Manuskript dann zur Seite zu legen. Eine erste Buchfassung erschien 1922 mit dem Untertitel Buch der Kindheit (vgl. GKFA, 12.2, 25 u. 36). Weitere Auflagen mit Erweiterungen des Textes folgten in den nächsten fünfundzwanzig Jahren.

Dennoch sollen die genannten Werke hier einer Betrachtung unterzogen werden. Der Grund liegt darin, dass sie in der Forschung als unzuverlässig erzählt erachtet werden, sowie darin, dass ihre Publikation in die Nachkriegszeit fällt und sie für die jüngere Autorengeneration nicht ganz ohne Bedeutung waren.Footnote 19 Es liegt also nahe, sie auf ihre Vorbildrolle für die Technik des unzuverlässigen Erzählens in der Nachkriegsliteratur zu befragen.

2.1 Zum Doktor Faustus

Für den Doktor Faustus zeigt Kindt (2021), dass allenfalls die axiologische, nicht aber die mimetische Unzuverlässigkeit des fiktiven Erzählers Serenus Zeitblom feststellbar ist. Zugleich steht die Axiologie des Erzählers nur unter bestimmten Voraussetzungen und in begrenzten Hinsichten im Widerspruch zur Axiologie des Werks. Im Folgenden seien nur wenige Bemerkungen zur Forschungsliteratur ergänzt, die den hier zugrunde gelegten Untersuchungsansatz illustrieren sollen. Die ausgewählten Forschungspositionen zum Doktor Faustus dienen dazu, Fragen aufzuwerfen und Probleme zu benennen, die die sorgfältige Anwendung des Konzepts mit sich bringt.

Schon Riggan (1981, 23) stellt allgemein fest, dass Zeitblom ein „rather pedestrian and limited understanding of the central figure’s monumental, demonic stature“ habe. Dem widerspricht indirekt Petersen (2008, 179), der Zeitblom attestiert, dass er Leverkühns Musik „mit dem präfaschistischen Gedankengut der Münchner Gesellschaftskreise in Zusammenhang [bringt]“. Ohne schon an diesem Punkt zu sehr ins Detail zu gehen, kann man feststellen, dass dies natürlich eine der zentralen Fragen ist, die der Roman als ganzer aufwirft, ohne eine isoliert zitierbare Antwort zu liefern. Sein Erzähler Zeitblom kann diese Antwort nicht geben, weil er Teil dieser Antwort ist. Aber das überführt ihn noch nicht der Unzuverlässigkeit. Wie hier, so spricht Zeitblom auch in anderen Fällen die Problematik an und macht den Lesern sozusagen ein Angebot zum Nachdenken. Aber es ist keineswegs so, dass er eine falsche Richtung vorgibt.

Trotzdem hält auch Petersen Zeitblom für einen unzuverlässigen Erzähler. Es ist erhellend, sich die Gründe näher anzusehen. Petersen (2008, 173) meint, dass Zeitblom

sich einerseits hinsichtlich der erzählten Ereignisse um den allmählich dem Wahnsinn verfallenden genialen Komponisten Leverkühn für inkompetent hält, andererseits in seinen Urteilen derartig schwankt, dass ein eindeutiges Bild für den Rezipienten nicht entsteht, und schließlich sogar von Ereignissen spricht, die er überhaupt nicht kennen kann, so dass er den Eindruck von einer zumindest partiell unzutreffenden Biografie erweckt.

Die genannten drei Gründe – Eingeständnis eigener Inkompetenz, Unsicherheit in der Einschätzung, Wiedergabe von Ereignissen, die dem Erzähler unbekannt sein müssten – sind keine ungewöhnlichen Zuschreibungen, wenn es um das unzuverlässige Erzählen geht. Das Eingeständnis der eigenen narrativen oder auch evaluativen Inkompetenz kann u. U. ein Indikator für Unzuverlässigkeit sein, muss es aber nicht. Im Gegenteil, solche Vorbehalte gegenüber dem eigenen Tun gelten in der Regel als Indikator von gesteigerter Zuverlässigkeit, zumindest als rhetorischer Kunstgriff, mit dem Hinweis auf die eigene Irrtumsanfälligkeit den Lesern zu bedeuten, die Augen offen zu halten. Ob unzuverlässiges Erzählen vorliegt, hängt indes – jedenfalls in der vorliegenden Untersuchung – entscheidend davon ab, ob tatsächlich etwas Falsches zu verstehen gegeben wird. Wenn es nur bei dem Vorbehalt bleibt, ist die Frage offen. Und wenn der Erzähler einräumt, sich in bestimmten Fällen kein Urteil erlauben zu können, so ist auch dies kein Beweis seiner Unzuverlässigkeit. Ähnlich verhält es sich bei dem zweiten Grund, den schwankenden Urteilen. Hier ist wiederum die entscheidende Frage, ob dieses Schwanken den Lesern bedeuten soll, dass die Erzählinstanz etwas Falsches zu verstehen geben will. Wenn nicht, wenn sie damit einfach ihre Unsicherheit oder Unkenntnis kundtut und die Leser zum Reflektieren animieren will, wäre sie nicht unzuverlässig. Von diesen beiden Gründen unterscheidet sich der dritte, auf den Petersen denn auch näher eingeht. Die Erzählform ist in dem Sinne realistisch, dass der Erzähler Zeitblom wie jeder Mensch nur sehr begrenzten Einblick in das Gefühlsleben seiner Mitmenschen hat. Dennoch glaubt er Bescheid zu wissen nicht nur über bestimmte Ereignisse, bei denen er nicht dabei war, sondern auch über ihre Wirkung auf Leverkühn. Er maßt sich Urteile über etwas an, was er nicht beurteilen und nicht wissen kann.

Aber auch hier muss man die näheren Umstände in Rechnung stellen. Im Falle Zeitbloms ist es so, dass er dieses Überschreiten seiner Kompetenzen zumindest selbst bemerkt, auch wenn er sich dann darüber hinwegsetzt. Ob Zeitblom in dieser Hinsicht unzuverlässig ist, hängt schließlich von der Antwort auf die Frage ab, welchen Charakter sein Buch über Leverkühn hat. Ist es eine Biographie mit wissenschaftlichem Anspruch, könnte man ihm mit gutem Grund Unzuverlässigkeit zuschreiben, weil er diesen Anspruch offenkundig verfehlt. Ist es aber eine Biographie mit essayistischem Charakter, der ihr gewisse Freiheiten erlaubt, ist der Grund schon nicht mehr ganz so gut (vgl. Kindt 2021).

Zeitbloms Verständnis für Leverkühn ist nur ein Bereich, auf den sich seine potentielle Unzuverlässigkeit bezieht. Dem Roman bzw. Thomas Mann wurden auch antisemitische Klischees vorgeworfen (vgl. Klüger 1994) – was freilich die Möglichkeit unberücksichtigt lässt, dass Mann solche Klischees an einen unzuverlässigen Erzähler delegiert. In diese Richtung argumentiert Ewen (2014, 282), der nicht nur auf Zeitbloms mangelndes Verständnis für Leverkühns Kunst hinweist, sondern auch seine halbherzige Distanzierung von der nationalsozialistischen „Judenpolitik“ als Ansatzpunkt für Zeitbloms axiologische Unzuverlässigkeit sieht. Auch Vagets (2015, 74) These, dass dem Roman ein „Gnadendiskurs“ eingeschrieben sei, der in Zeitbloms „Erzählung von Schuld und Verdammnis“ zwar angelegt, aber nicht von ihm intendiert sei, könnte sich möglicherweise mit Hilfe von Zeitbloms Unzuverlässigkeit weiter erhärten lassen. In eine ganz andere Richtung weist die mögliche Identität von Esmeralda und Frau von Tolna (Oswald 1948). Zeitblom gibt klar zu verstehen, dass es sich um zwei verschiedene Personen handelt. Sollten sie in der erzählten Welt identisch sein, gäbe er etwas Falsches zu verstehen. Es wäre aber auch möglich, dass die sie verbindenden Motive (Schlange, Smaragd, Ungarn) eine andere Relation dieser beiden Figuren nahelegen sollen. Dies wäre ein Beispiel dafür, dass außer der Ermittlung einer falschen Sachverhaltsdarstellung auch eine triftige Erklärung nötig ist, warum Zeitblom die Identität der Figuren entgeht und was damit für den Roman gewonnen ist, damit man Zeitblom mit guten Gründen Unzuverlässigkeit zuschreiben kann.

Man sieht, dass die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit ein anspruchsvolles Unterfangen ist, wenn man alle im Einleitungskapitel genannten Aspekte der Kategorie berücksichtigt, deren Zusammenspiel sich jeweils verändert, je nachdem, was genau man als Bezugsbereich, was als Maßstab, was als fraglichen Sachverhalt und was als Erklärung bestimmt. Die Lehre, die ich daraus ziehen möchte, ist die folgende: Dass eine Erzählinstanz ihren Lesern zu denken gibt, indem sie bestimmte Sachverhalte unbestimmt oder unterbestimmt lässt, ist kein hinreichender Grund für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit. Selbst wenn er deswegen unzuverlässig „wirkt“ (Petersen 2008, 181), sollte man dies nicht damit verwechseln, dass er es auch ist. Die Wirkung verdankt sich Erzählverfahren, die im Bereich der Indikatoren liegen. Dass eine Erzählinstanz unzuverlässig ist, erfordert den Nachweis, dass sie etwas Falsches zu verstehen gibt und dass es einen Erklärungszusammenhang gibt zwischen der falschen Sachverhaltsdarstellung und der Erzählinstanz oder -haltung.

2.2 Zuverlässiges im Felix Krull

Kommen wir zu Thomas Manns zuletzt veröffentlichtem Roman. Hier stehen die Chancen für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit ungleich besser. Schon der Titel regt zu Zweifeln an und fungiert somit als Indikator. Kann man einem Hochstapler seine Bekenntnisse abnehmen? Kablitz (2009, 142) erkennt bereits im Romantitel „eine semantische Unbestimmtheit, aus deren Reservoir Thomas Mann eifrig schöpfen wird, um alle Register erzählerischer Unzuverlässigkeit zu ziehen.“ Tatsächlich wirft der Titel die Frage auf, ob Krulls Hochstaplertum noch auf sein Erzählen ausgreift oder ob er reumütig seine Fehler bekennt. Sind es die wahren Bekenntnisse eines geläuterten Ex-Zuchthäuslers? Oder ist auch der erzählende Felix Krull noch der Hochstapler, der er als Jüngling war?

Schon der beeindruckende Beginn unterläuft eigentlich das hier zur Auswahl gestellte Entweder-Oder und weist auf die grundsätzliche Schwierigkeit voraus, die das gesamte Romanfragment hinsichtlich der Frage nach der Unzuverlässigkeit des Erzählers bestimmt. „Geständnisse“ nennt Krull offenherzig seinen Bericht, zu dem er sich anschickt, und fragt sich sogleich, ob er diesem Vorhaben „gewachsen“ sei (FK, 9). Dieser Vorbehalt offenbart sich jedoch schnell als rhetorischer Kniff, denn Krull weist, narratologisch gesprochen, auf den autodiegetischen Charakter seiner Mitteilungen hin und ist zugleich davon überzeugt, dass er sich selbst transparent sei, weil „alles, was ich mitzuteilen habe, sich aus meinen eigensten und unmittelbarsten Erfahrungen, Irrtümern und Leidenschaften zusammensetzt und ich also meinen Stoff vollkommen beherrsche“ (ebd.).

Wer mit unzuverlässigem Erzählen rechnet, der mag bereits an dieser Stelle aufmerksam werden. Kann ein Erzähler in einem Werk, das in einer Zeit entsteht, als die Psychoanalyse immer populärer wurde, zu Recht von sich behaupten, sich selbst so zu durchschauen, dass er einen wahrheitsgemäßen Bericht über seinen Werdegang mit seinen besonderen Erlebnissen und Motiven abliefert? Oder ist hier eine Hybris involviert, die in einem für die Wahrheit verhängnisvollen Verhältnis mit Naivität steht?

Nachdem er auf der sachlichen Angemessenheit seiner Ausführungen bestanden hat, wiederholt Krull den rhetorischen Dreh daraufhin mit Bezug auf die Frage, ob er denn stilistisch seiner Aufgabe gewachsen sei und bejaht auch diese Frage, diesmal mit Hinweis auf seine „natürliche Begabung und eine gute Kinderstube“ (ebd.), die seine mangelnde (geistige oder akademische) Ausbildung seiner Meinung nach mehr als wettmachen. Wie aus einer frühen Notiz Manns hervorgeht, hat er die Figur genau so angelegt: „Ist für das Unternehmen, ein Buch zu schreiben eigentlich nicht Gebildet [sic!] genug“ (GKFA, 12.2, 243). Daher präsentiert sich Krull hier als durchaus einsichtsvoller Erzähler, der seine Schwächen nicht ausblendet. Es bleibt aber die axiologische Frage, ob er mit der Gewichtung, sein Talent kompensiere seine mangelnde Bildung, richtig liegt. Wir werden sehen, dass hier ein möglicher Ansatzpunkt liegt, um Krull unzuverlässiges Erzählen nachzuweisen. Immerhin ist darin eines der Leitmotive des Romans zu erkennen. Krull spricht wiederholt von seinen günstigen natürlichen Anlagen, und nicht nur glaubt er daran, auch seine Erlebnisse scheinen ihm rechtzugeben. Da nur der Teil seiner Memoiren vorliegt, der die aufsteigende Kurve seines Lebens darstellt, beherrscht Krull mit seiner Begabung (vor allem des Nachahmens und anderen etwas Vormachens) seine Umgebung und erreicht dank ihr nicht nur alle seine Ziele, sondern übertrifft auch jene, die ihm an Bildung, Familie (Adel) und Kultur voraus sind. Woran er am Ende scheitern sollte, wissen wir nicht, ob an sich selbst oder an unglücklichen Umständen. Jedenfalls sah die Konzeption des Autors vor, dass Krull nach einem Gefängnisaufenthalt eine Familie gründen und diese alsbald verlieren werde, um dann im Alter von vierzig Jahren, erneut von der Polizei verfolgt, im englischen Exil seine Memoiren zu verfassen.

Dennoch lässt sich die Frage, ob seine Begabung in allen Fällen seine mangelnde Bildung kompensiert, ebenso wenig schon an dieser Stelle beantworten wie die, ob er sich selbst tatsächlich vollständig durchschaut. Im Anschluss nämlich an die beiden entkräfteten Vorbehalte gibt er als Begründung für seine guten Anlagen seine Herkunft an: „[…] denn ich stamme aus feinbürgerlichem, wenn auch liederlichem Hause“ (ebd.). Diese Charakterisierung ist zwar durchaus zutreffend; aber ob sie als Begründung taugt, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Auf den folgenden Seiten sollen einige Gründe diskutiert werden, die für die Unzuverlässigkeit von Krulls Erzählen sprechen. Zunächst werde ich auf zwei Darstellungen der Forschungsliteratur eingehen und dann mit einer Analyse einiger weiterer Textstellen meine Ausführungen zum unzuverlässigen Erzählen beim späten Thomas Mann beschließen.

In seiner Typologie unzuverlässiger Erzähler handelt Riggan (1981, 70–76) Krull zu Recht unter den Pícaros ab. So naheliegend die Klassifikation von Krull als unzuverlässiger Erzähler ist, so unspezifisch fallen allerdings Riggans Gründe aus. Den ersten erblickt er darin, dass sich hinter Krulls Maskerade ein Nichts offenbare. Es sei nur Form ohne jegliche Substanz: „Felix’s gab is all form without substance, however“ (Riggan 1981, 72). Seine ganze Eloquenz erweise sich als leer.

Ist das eine angemessene Beschreibung der Sachlage? Krulls rhetorisches Geschick und seine daraus resultierende Hochstapelei erfüllt den Zweck, den anderen etwas vorzumachen, das er für sie nicht ist. Seine Kunst besteht aber gerade darin – man erinnere sich an das so intensive Vorschützen von Unwohlsein, dass es ihm sogar gelingt, Krankheitssymptome zu erzeugen – sich den Wünschen und Vorstellungen der anderen so stark anzunähern, dass er sie sich anverwandelt. Was seine Hochstapelei angeht, täuscht er seine Mitmenschen, aber nicht die Leser. Riggan verwechselt hier offenkundig die Unzuverlässigkeit, die Krull als erlebendes Ich in der erzählten Welt an den Tag legt und die man besser „Betrug“ nennen sollte, mit der narrativen Unzuverlässigkeit, die dem Leser etwas Falsches zu verstehen gibt oder die einen negativen für einen positiven Wert ausgibt.

Damit zusammen hängt auch Riggans (1981, 73) zweite These, Krull wisse nicht, „at what point his real character ends and the assumed role begins“. Gegen Ende des Fragments berichtet Krull, der im Namen eines jungen Adligen eine Weltreise angetreten hat, um dessen Eltern etwas vorzumachen, der Mutter des Adligen brieflich von den Erlebnissen auf seiner ersten Station (Lissabon). Der überaus eloquente Stil, so wird in der Antwort der Mutter deutlich, beeindruckt und verunsichert sie. An der Identität ihres Sohnes zweifelt sie freilich nicht. Dafür hält sie seine Schilderung der von ihm souverän geführten Konversation mit dem portugiesischen König für „eine briefstellerische Fiktion“ (FK, 401). Diesen Begriff nimmt Krull auf, als er seine eigene wörtliche Rede kommentiert, die er beim Besuch des Klosters von Belém an Zouzou richtet, die Tochter von Professor Kuckuck, seines Zeichens Leiter des Naturhistorischen Museums in Lissabon, den er auf der Bahnreise kennengelernt hat. Seine (vermeintliche) Mutter hätte zu der Rede an Zouzou gesagt, „es sei ohne Zweifel nur eine schöne Fiktion“ (FK, 423), was er da zum Besten gibt. Doch er besteht auf der korrekten Wiedergabe seiner Worte, und die Reaktion seiner (nur an der Oberfläche) kratzbürstigen Zuhörerin bestätigt den Zauber seiner Worte, indem Zouzou ihn unerwartet an der Hand fasst. Nicht was und wie er etwas sagt, ist fiktiv (innerhalb der Fiktion), sondern der es sagt, ist bezüglich seiner Identität fiktiv – allerdings nur für seine diegetischen, nicht für seine extradiegetischen Kommunikationspartner, die er mit seinem Betrug von Anfang an vertraut gemacht hat. Krull kann sehr wohl zwischen Wahrheit und Fiktion (im Sinne von Lüge oder Täuschung) unterscheiden – sonst könnte er sich gar nicht so erfolgreich verstellen.

2.3 Krulls Schreibstil und seine Beziehung zu einer Operette

Riggans Darstellung trifft nicht den Kern der Angelegenheit. Sehr viel eingehender und genauer ist die Interpretation von Kablitz (2009). Sie ist besonders instruktiv, weil sie von einer bestimmten Annahme abhängt, deren Wahrheit sich weder bestätigen noch widerlegen lässt. Er stützt seine Interpretation des Felix Krull als eines unzuverlässig erzählten Romans hauptsächlich auf eine Beobachtung, nämlich dass Felix die Operette, die er als Junge gesehen haben will, nicht zu dem angegebenen Zeitpunkt gesehen haben könne, weil es sich offensichtlich um Franz Lehárs Die lustige Witwe (1905) handele, die erst Jahre später komponiert wurde als in dem im Roman angegebenen Zeitraum (ca. 1888). Tatsächlich deuten die inhaltlichen Anspielungen, die der Erzähler macht, auf diese Operette. Der Stellenkommentar von Thomas Sprecher und Monica Bussmann erkennt jedoch auch Elemente, die auf eine andere Operette von Lehár hindeuten, und tendiert eher zu der Annahme, dass es sich um eine fiktive (aber in der Fiktion reale) Operette handele (vgl. GKFA 12.2, 279). Wenn das so ist, kann Felix in Bezug darauf nicht unzuverlässig sein, denn die extratextuelle Wirklichkeit kann ihn nicht widerlegen. Sie kann nur als Maßstab zur Bestimmung der Unzuverlässigkeit des Erzählers dienen, wenn das Ereignis (die Operette), auf das Felix sich bezieht, tatsächlich ein wirkliches außerhalb der Fiktion ist, mit dem die Funktion verknüpft ist, dass Felix falsche Angaben macht. Umgekehrt können die Abweichungen, die Krulls Rede in Bezug auf das Stück erkennen lassen, nicht als hinreichender Grund für die Fiktivität des von Krull gemeinten Stücks herhalten.Footnote 20 Es könnte nämlich sein, dass gerade diese Abweichungen – genauso wie das falsche Datum – dazu dienen sollen, Felix’ mimetische Zuverlässigkeit weiter zu minimieren.

So gesehen, ist das eine so unwahrscheinlich oder wahrscheinlich wie das andere. Man muss sich jedoch nicht mit einem Unentschieden zufrieden geben, wenn man die folgenden drei Gründe in Rechnung stellt: Erstens ist es doch besonders begründungsbedürftig, dass sich der vierzigjährige Krull mit dem Aufführungsdatum um fast zwanzig Jahre vertut und einen Operettenbesuch vor fast dreißig Jahren mit einem Werk in Verbindung bringt, das er frühestens vor zehn Jahren gesehen haben kann – als er, laut Romankonzeption (vgl. GKFA 12.2, 19 f.), auch noch im Gefängnis saß; d. h. die Bekanntschaft mit der Operette müsste sogar noch kürzer zurückliegen. Zweitens ist es, soweit ich weiß, bislang nicht gelungen, weitere Fälle potentieller mimetischer Unzuverlässigkeit im Felix Krull zu identifizieren. Eine einzige isolierte Textstelle als Beleg für den gesamten Text durchdringende Unzuverlässigkeit lässt es eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich sein, dass Thomas Mann hier einen Irrtum installierte, um dem Leser zu bedeuten, dass Krull sich aufgrund falscher Angaben als Erzähler diskreditiert. Drittens gibt es weitere Anachronismen im Roman, die nicht auf das Konto von Krull gehen, sondern auf das von Professor Kuckuck, der auf Theorien etwa von Albert Einstein oder Paul Kammerer zurückgreift, von denen er zum Zeitpunkt in der Romanhandlung (1895) noch keine Kenntnis haben konnte (vgl. GKFA 12.2, 448).

Wenn man aber Kablitz zugibt, dass Thomas Mann die bekannte Operette (und keine von ihm erfundene) meinte, dann ist noch ein weiterer Umstand auffällig, nämlich, dass sich Krull nicht an den Titel dieses Welterfolgs erinnern kann. Dies würde einerseits seine mangelnde Bildung bzw. seinen mangelnden Sinn für bildungsbürgerliches Wissen (allerdings um einen Gegenstand, der nicht dem damaligen bildungsbürgerlichen Kanon zugehört) markieren. Andererseits, und darauf kommt es Kablitz an, könnte man Krulls Erinnerungslücke als Zeichen für eine Verdrängung deuten. Kablitz’ Erklärung für Krulls Vergesslichkeit ist also psychoanalytisch und fußt auf einer umfangreichen Interpretation, wonach Krull einen Ödipuskomplex hat, aufgrund dessen die positive Erfahrung der Operette in ihm den Wunsch auslöst, an die Stelle des Vaters zu treten (Parallelen zwischen dem Helden der Operette, Danilo, und dem Vater), den er folgerichtig verdrängen muss, wofür eben das auffällige Vergessen des Titels stehen könnte. Auch die falsche Jahresangabe passt angeblich dazu, weil das Erlebnis zu Beginn der Pubertät liegt und Krull bald die väterliche Unterschrift fälscht, „um sich selbst vom Schulunterricht zu befreien“ (Kablitz 2009, 142).

Zwar kann Kablitz zwei erklärungsbedürftigen Angaben von Krull mit seiner Interpretation einen Sinn geben, nämlich der Angabe, dass Felix sich an Offensichtliches (den Titel) nicht erinnere, und der impliziten Angabe, dass die Aufführung in den 1880er Jahren stattgefunden habe. In beiden Fällen macht Kablitz aber die erwähnte Voraussetzung, dass es sich bei dem Stück nicht um ein fiktives Werk handelt. Diese Frage lässt sich wohl nicht klären. Daher steht die Interpretation auf eher wackligen Füßen, und dies nicht zuletzt deshalb, weil ansonsten keine Textstellen namhaft gemacht werden können, in denen sich Krull vergleichbare mimetische Lapsus leistet.Footnote 21

Anders verhält es sich mit einer Beobachtung von Kablitz, die dem Sprachgebrauch von Krull gilt, als er von der Operette erzählt, die „ein Stück von bescheidenem Genre, ein Werk der leichtgeschürzten Muse, wie man wohl sagt“ sei (FK, 33). Möglicherweise zu Recht stellt Kablitz fest, dass man das so nicht sagt. Es wäre also falsch, was Krull hier über den Sprachgebrauch äußert.Footnote 22 Zugleich ist es aber ein treffendes Wortspiel, da es in der Operette um einen „Schürzenjäger“ geht, wie Felix selbst kurz darauf schreibt. Thomas Mann lässt seinen Krull einen Stil nutzen, von dem er sich distanziert und den er dazu benutzt, Goethes Dichtung und Wahrheit zu parodieren (vgl. Sprecher 1985). Aber Krull ist sich dessen ebenso wenig bewusst wie der später hinzugekommenen Hermes-Allusionen (GKFA 12.2., 329). Krull ist deswegen kein unzuverlässiger Erzähler.

Die Rezeption von Krulls Stil ist widersprüchlich (vgl. GKFA 12.2, 182–186). Im vorliegenden Zusammenhang ist die Frage relevant, wie sich Krulls Stil zu dem von Thomas Mann verhält. Gelänge der Nachweis, dass Krulls Stil von dem von Thomas Mann signifikant abweicht, wäre dies ein guter Grund, ihm damit Unzuverlässigkeit zu attestieren. Wohlfahrt (1955, 202) beschreibt Krulls Stil als den „eines Ungebildeten, der durch hohle Phrasen, nichtssagende Redensarten und Gemeinplätze den Schein der Vornehmheit und Bildung vorzutäuschen sucht. Es wird wenige Bücher geben, die absichtlich weitgehend so schlecht geschrieben sind“. Die Beispiele, die Wohlfahrt anführt, sind allerdings nicht sehr überzeugend, zumal er es versäumt, die vermeintlichen Stilblüten Krulls mit Thomas Manns sonstigem Stil zu vergleichen. Dennoch gibt es einige Textstellen, die sich in diesem Sinne deuten lassen, wenngleich sie kaum als eindeutiger Beleg der These dienen können.Footnote 23 Auf den schlechten Stil möchte er den Krull denn auch nicht reduzieren und zählt im zweiten Teil seines Aufsatzes gelungene Formulierungen auf. Den daraus resultierenden Widerspruch löst er nicht auf. Wie ich im nächsten Abschnitt zeigen möchte, gibt es ein Buch, das sich auf den Krull bezieht und tatsächlich mit Absicht schlecht geschrieben ist. Die Schnitzer, die sich Felix’ Schwester Olympia im gleichnamigen Roman von Robert Neumann leistet, erzeugen den Eindruck, von dem Wohlfarth schreibt, viel besser.

2.4 Krulls Unzuverlässigkeit

Man kann bereits an dieser Stelle die These vorwegnehmen, dass Krulls Unzuverlässigkeit in erster Linie im axiologischen Bereich liegt, und zwar nicht nur insofern, als er auf der Ebene der Handlung ein Krimineller ist, dessen Tun er als Erzähler nicht gebührend verurteilt, sondern vor allem insofern, als er seine Handlungen als weniger negativ darstellt, als sie gemäß unproblematischer Normen sind, indem er sie mit einer kruden Theorie rechtfertigt. Das könnte ihn zu einem klassischen Fall machen. Allerdings gibt es nicht allzu viele Passagen, so dass die Distribution über den Text schwächer ausgeprägt ist, als man denkt. Auch sind von der Unzuverlässigkeit nicht unbedingt zentrale Sachverhalte betroffen. Nicht unwichtig erscheint mir in dieser Hinsicht Krulls Wiedergabe krimineller Handlungen wie Diebstahl und Zuhälterei. Hier zeigt sich seine axiologische Unzuverlässigkeit am deutlichsten.

Das sechste Kapitel des ersten Buchs endet mit dem Hinweis auf den Schokoladenvorrat, den der Schüler Felix Krull sich angelegt hat und von dem er sich bedient, wenn er eine Krankheit vorschützt (und sich in sie so sehr hineinsteigert, dass er sogar körperliche Symptome zeigt) und zuhause bei karger Kost gehalten wird. Das folgende Kapitel erzählt von der Herkunft der Süßigkeiten, die „auf besondere, ja phantastische Weise“ in Krulls „Besitz übergegangen“ sind (FK, 54). Ganz betört vom Anblick wie vom Geruch der Delikatessen, die in einem Geschäft auf seinem Schulweg feilgeboten werden, findet sich Felix in eine traumhafte Stimmung versetzt und „die schwerfällige Ordnung und Gesetzlichkeit des Alltages aufgehoben“ (ebd., 56). Als auf seine Begrüßung niemand reagiert, ergreift er die Gelegenheit beim Schopfe und nimmt sich ein paar Pralinen, ehe er das Geschäft wieder verlässt. Dass er stiehlt, gibt Krull hier deutlich zu verstehen.Footnote 24 Im anschließenden Absatz nennt er das Kind sogar beim Namen – aber nur, um sich gleich darauf von der Bezeichnung „Diebstahl“ für seine Handlung zu distanzieren. Indem er das vermeintlich schnöde Wort von der „glänzende[n] Tat“ (ebd., 57) unterscheidet, redet er einer Einstellung das Wort, wonach einerseits die Sprache niemals das erfassen könne, worum es geht, und andererseits die Tat gewissermaßen sich selbst rechtfertige:

Nur Gewohnheit und Trägheit bereden uns, beide [Wort und Tat] für eins und dasselbe zu halten, während vielmehr das Wort, insofern es Taten bezeichnen soll, einer Fliegenklatsche gleicht, die niemals trifft. Überdies ist, wo immer es sich um eine Tat handelt in erster Linie weder dem Was noch an dem Wie gelegen (obgleich dies letztere wichtiger ist), sondern einzig und allein an dem Wer. (FK, 57)

Worte hält Krull für Gleichmacherei, für die er in dem „unerschütterlichen Gefühl, ein Gunstkind der schaffenden Macht und geradezu von bevorzugtem Fleisch und Blut zu sein“ (ebd.), nichts übrig hat. Krull verbrämt mit diesen Worten seine Tat und gibt der Überzeugung Ausdruck, dass, wer nur „von bevorzugtem Fleisch und Blut“ ist, sich alles erlauben kann und über dem Gesetz steht. Diese Einstellung kommt auch später bei Krull wieder zum Ausdruck, als er sich mit dem portugiesischen König unterhält und diesem nach dem Mund redet.

Es ist schwierig, hier zu einer abschließenden Interpretation zu gelangen, denn Krulls pseudo-aristokratische Einstellung könnte Mann in der Zeit der Roman-Konzeption noch geteilt haben, wie aus den Parallelen zu seinen Betrachtungen eines Unpolitischen hervorgeht (vgl. GKFA 12.2, 643–647).Footnote 25 Die späteren Passagen dienen hingegen eher dazu, die Verlogenheit dieser Einstellung darzustellen, wobei offen bleibt, ob Krull glaubt, was er sagt, oder sich nur den Überzeugungen seiner Gesprächspartner annähert, weil er gar nicht anders kann und dies auch die Bedingung seines Erfolgs ist.Footnote 26

Demgegenüber scheint Krull zumindest an der frühen Stelle seiner Bekenntnisse der Überzeugung zu sein, dass er tatsächlich kraft seiner Persönlichkeit über dem Gesetz stehe. Dass das Gesetz stärker ist, macht sein vorgesehener Lebensweg jedoch deutlich. Man kann hier also, mit etwas Vorsicht, axiologische Unzuverlässigkeit sehen. Die Triftigkeit dieser Zuschreibung sinkt aber in dem Maß, in dem man bereit ist, in Krulls krimineller Veranlagung (über das beiden zugrundeliegende und sie miteinander verbindende Talent für Nachahmung und Täuschung) eine Analogie zum Künstler zu sehen.Footnote 27 Versteht man Krulls Charakter demzufolge hauptsächlich als Allegorie auf den Künstler, verliert die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit ihren Sinn.

Unter einem anderen Interpretationsansatz ist Unzuverlässigkeit jedoch sehr wohl eine passende Kategorie, insofern man nämlich Krull kriminelle Handlungen mit seinen Überzeugungen bezüglich der Gleichheit der Menschen konfrontiert. Dementsprechend wäre Krull unzuverlässig, weil er seine Überzeugung von der Bevorzugung qua Geburtsanlage durch sein Hochstaplertum selbst widerlegt. Die Adligen, mit denen Krull zu tun hat, sind die personifizierten Vertreter der Überzeugung von der Ungleichheit der Menschen, wie aus den erwähnten Gesprächen mit dem König, aber auch aus dem Brief der Mutter hervorgeht (FK, 400–404). Krull schafft es, sich als Adliger auszugeben, obwohl er keiner ist. Damit beweist er, dass die These von der Ungleichheit aller Menschen von Geburt an bzw. von der Überlegenheit einiger weniger qua Geburt falsch ist, denn er erreicht ja denselben Effekt durch seine Fähigkeit zur Nachahmung. Zugleich vertritt er aber dieselbe Überzeugung wie die Adligen, nämlich dass für ihn kraft seiner besonderen Anlagen ebenso wie für die Adligen besondere Bedingungen gelten. Doch warum sollte für ihn gelten, was er für die Adligen durch seine Existenz widerlegt?

Beide Argumentationen, die für und die gegen die Angemessenheit der Kategorie mit Bezug auf das Motiv der Ungleichheit, sind relativ subtil. Sie zeigen immerhin, dass der Bedeutungsaufbau des Romans, so leichtfüßig er auf den ersten Blick, nicht zuletzt aufgrund seines Erzählers, wirken mag, einigermaßen kompliziert ist. Vor dem Hintergrund, dass der Roman eine autobiographische Lesart erlaubt, dürfte die These von Krulls Unzuverlässigkeit unter dem in Rede stehenden Bezugsrahmen weitere Bestätigung erhalten, denn Mann könnte mit den falschen Überzeugungen Krulls seine eigenen Irrtümer durchspielen: Während Krull demnach am Anfang seiner Karriere noch der Überzeugung ist, dass es eine natürliche Überlegenheit einiger Menschen qua Geburt bzw. Anlagen gebe, muss er irgendwann einsehen, dass die Gleichheit ein übergeordnetes Prinzip ist und seine ursprüngliche Überzeugung falsch. Da der Roman ein Fragment geblieben ist, lässt sich dieser Aspekt nicht abschließend beurteilen. Deshalb komme ich nun zurück zu der Analyse von Textstellen, deren Beurteilung mit Blick auf ihre potentielle Unzuverlässigkeit weniger voraussetzungsreich ist.

Nach dem Tod seines Vaters zieht Felix mit seiner Mutter nach Frankfurt, wo er Bekanntschaft mit Rozsa, einer Prostituierten, macht und sich, in Einvernehmen mit ihr, als Zuhälter betätigt. Das ist für den Erzähler Gelegenheit, auf seinen kindlichen Diebstahl zurückzukommen und seine Zuhälterei ähnlich schönzureden (vgl. FK, 139). Wieder scheint er daran zu glauben, was er sagt.

Etwas anders verhält es sich mit dem zweiten Diebstahl, von dem er berichtet. Er ereignet sich auf seinem Weg nach Paris, wo er auf Vermittlung seines Paten Schimmelpreester eine Stelle im Hotel antreten wird. An der Grenze wird das Gepäck der Reisenden durchsucht. Arm wie er ist, hat Krull nichts zu verzollen. Aber neben ihm wird das Gepäck einer offenbar vermögenden Dame kontrolliert, mit der er später eingehend bekannt wird: Madame Houpflé.

Bei meinem raschen Wiedereinpacken jedoch wollte es das Ungefähr, daß dieses Stück [sein Koffer] etwas von der Unschuld verlor, die ich ihm mit Recht nachgerühmt hatte, da eine Kleinigkeit mehr darin einging, als vordem darin gewesen war. […] Von ihrem [Madame Houpflés] schönen Reisegut […] lag mehreres bis zur Vermengung nahe bei meinem eigenen, am allernächsten ein sehr nach Preziosen aussehendes Saffiankästchen, beinahe von Würfelgestalt, und unversehens glitt dasselbe […] mit in mein Köfferchen. Das war mehr ein Geschehen als ein Tun […]. (FK, 145)

Isoliert betrachtet und wörtlich verstanden, könnte diese Stelle ein Beleg für Krulls mimetische Unzuverlässigkeit sein. Demnach gäbe er hier zu verstehen, dass das Kästchen aus Versehen den Besitzer gewechselt habe. Liest man die gesamte Passage noch einmal genauer, wird man keinen Hinweis entdecken, ob hier aus der Sicht des erlebenden oder erzählenden Ich berichtet wird, und deshalb auch nicht entscheiden können, ob Krull während des Ereignisses überhaupt bemerkt hat, dass das Kästchen unter seine Habe geraten ist. Wäre es tatsächlich aus Versehen geschehen, stellte sich die Frage der Unzuverlässigkeit gar nicht, denn dann hätte er sich nicht schuldig gemacht und dann gäbe es keinen Grund für eine Falschdarstellung.

Allerdings: Vor dem Hintergrund dessen, was wir bereits über ihn wissen, ist der Fall doch ziemlich klar. Dadurch und durch die Nonchalance seiner Formulierungen gibt Krull eben doch zu verstehen, dass er nicht nur sehr wohl bemerkt hat, dass das Kästchen unter seine Sachen gerutscht ist, sondern dass er wohl auch selbst nachgeholfen hat: „Das war mehr ein Geschehen als ein Tun“, sagt er. Das müsste er nicht so formulieren, wenn er nicht etwas bemänteln und zugleich augenzwinkernd zugeben wollte, denn er weiß ja selbst aufgrund der Bekenntnisse, die bereits hinter ihm liegen, dass seine Leser um seine kriminelle Neigung wissen. In der Terminologie des ersten Kapitels haben wir es also mit einem Fall zu tun, in dem der Erzähler den wahren Sachverhalt zwar nicht explizit erzählt, aber deutlich genug präsupponiert, also mit (wörtlich verstanden) unwahren Worten etwas Wahres zu verstehen gibt. Es genügt, auf seinen früher geschilderten Diebstahl hinzuweisen; aber auch schon der auf die oben zitierte Passage folgende Satz macht deutlich, dass dem erlebenden Krull zumindest bewusst war, dass sich sein Besitz vergrößert hat: „Tatsächlich dachte ich während des Restes der Reise kaum noch an den zufälligen Erwerb […]“ (FK, 146).Footnote 28 Wiederum handelt es sich höchstens um axiologische Unzuverlässigkeit, sowohl auf der Ebene der Handlung als auch auf der der Erzählung, insofern Krull sein Tun nicht als das bezeichnet, was es ist, und damit eine Umwertung einer eigentlich schlechten Handlung vollzieht. Wie so oft bei Bekenntnissen haben sie in nicht unerheblichem Maß einen apologetischen Charakter.Footnote 29

2.5 Fazit

Thomas Manns Nachkriegsromane mögen typologisch wie generationell, und gerade der Felix Krull auch inhaltlich, einer vorangegangenen literarischen Epoche angehören. Trotzdem gibt es einen Zusammenhang zur Nachkriegsliteratur, wie er namentlich zu Günter Grass auch immer wieder in der Forschung hergestellt wurde. Er zeigt sich nicht nur in der Auseinandersetzung mit dem Geist der NS-Zeit (bei Mann ist es der Geist der Intellektuellen und Künstler, bei Grass der Geist der Kleinbürger), sondern auch in der Adaption des Picaro-Romans (Diederichs 1971).Footnote 30 Wie im Kapitel zu Grass’ Blechtrommel jedoch deutlich werden wird, unterscheidet sich die spezifische Implementierung narrativer Unzuverlässigkeit dort nicht unerheblich von der im Felix Krull, so dass die Behauptung von Rosemarie Zeller (1992, 5 f.), Grass führe zusammen mit Böll die realistische Tradition fort, in der auch Thomas Mann stehe, zurückzuweisen ist.Footnote 31 Während das schon Thomas Mann nicht ganz gerecht wird (auch wenn man vor dem Hintergrund der Beispiele, die Kafka und viele andere gegeben haben, versteht, was Zeller meint, dass nämlich die realistische, besser: mimetische Tradition in Manns Werk spürbarer ist und dass sein Werk immerhin noch eine mimetische Lesart erlaubt, die gerade Kafkas Werk eben vielfach außer Kraft setzt), widersetzen sich Grass’ Werke dieser Tradition, gerade auch im Vergleich mit dem Heinrich Bölls, ungleich stärker. Dies drückt sich auch in der Handhabung des unzuverlässigen Erzählens aus, das in Grass’ Roman in spezifisch gebrochener Weise vorliegt.

Mein Fazit lautet, was die Unzuverlässigkeit von Thomas Manns späten Romanen angeht, dass sie sich nicht nur typologisch durch die meinungsstarken Ich-Erzähler in der Nähe des unzuverlässigen Erzählens bewegen, sondern das Verfahren durchaus realisieren, was in manchen Fehleinschätzungen zum Ausdruck kommt und im Felix Krull, weil es eine fiktive Autobiographie ist (im Unterschied zur fiktiven Biographie Zeitbloms), darüber hinaus auch in seinen Handlungen – was allerdings unter dem starken Vorbehalt steht, dass es sich bei dem Text um ein Fragment handelt, das den geplanten Niedergang von Krulls Lebensweg nicht beinhaltet. Über die Bewertung von Krulls kriminellen Handlungen muss man nicht lange diskutieren. Seine Unzuverlässigkeit liegt eher in seinem berechnenden Verhalten Zouzou gegenüber, vor allem aber in seiner nachträglichen Zurechtdeutung mancher seiner eindeutig kriminellen Handlungen.

Aber nicht jeder Konflikt zwischen erlebendem und erzählendem Ich begründet unzuverlässiges Erzählen. Wenn man diesen Interpretationsansatz vergleicht mit dem alternativen Interpretationsansatz, der auf der Analogie von Hochstapler und Künstler fußt und das weitläufige Bedeutungsfeld zwischen Authentizität und Täuschung zum tertium comparationis macht, so wird man vielleicht zu dem Schluss kommen, dass dieser zweite Interpretationsansatz sehr viel stärker im Roman verankert werden kann.

Mit Blick auf die literaturgeschichtliche Entwicklung des Verfahrens würde ich nach alldem davor warnen, die Bedeutung Thomas Manns für die Evolution dieses Verfahrens zu überschätzen. Er ist sicherlich einer der wirkmächtigsten deutschsprachigen Autoren im 20. Jahrhundert. Aber seine Handhabung des Verfahrens narrativer Unzuverlässigkeit ist, meine ich, nicht der Aspekt, der seinen impact auf die eigentlichen Nachkriegsautoren begründet. Inwiefern es Thomas Manns eigenes Werk charakterisiert, diese Frage wäre trotz Larsson (2011) noch zu klären. Man müsste in diesem Zusammenhang nicht zuletzt Manns Dostoevskij-Rezeption untersuchen.Footnote 32 Dessen Kellerloch-Menschen soll Mann für seine „radikale Aufrichtigkeit“ und „fanatische Wahrheitsliebe“ gepriesen haben (vgl. Sprecher/Bussmann, GKFA 12.2, 93). Wer den Kellerloch-Menschen so missversteht, dem ist eine virtuose Handhabung unzuverlässigen Erzählens eher nicht zuzutrauen.

3 Robert Neumanns Olympia (1961) und andere Werke

3.1 Robert Neumann, Irmgard Keun und die Technik der Impersonation

Robert Neumann (1897–1975) ist ein Autor, der heute fast vergessen ist. Auch wenn es in jüngerer Zeit bedeutende Publikationen gab (Stadler 2013a; Jäger-Gogoll 2015), die seinem Werk gewidmet sind, ist sein literaturgeschichtlicher Ort weitgehend unbekannt. Das mag mit seiner künstlerischen Persönlichkeit zusammenhängen, die außerordentlich wandlungsfähig war – vor allem aber liegt es am Schicksal des jüdischen Remigranten, dem offizielle Anerkennung versagt blieb.Footnote 33 Der um eine Generation jüngere Wiener Neumann gehörte zum weiteren Bekanntenkreis Thomas Manns, den er sich in literarischer Hinsicht zum Vorbild genommen hatte.

Vorbild war Thomas Mann für viele, die sich dennoch zu ganz eigenständigen Autoren entwickelt haben. Das gilt auch für Robert Neumann, dessen erste Erfolge als Schriftsteller im Umkreis der Neuen Sachlichkeit liegen. Nach seiner ein Vierteljahrhundert währenden Exilzeit (mit kurzen Unterbrechungen in den dreißiger Jahren), in der er sich mühsam als englischsprachiger Autor etablierte, siedelte er 1958 von England nach Locarno über und versuchte, wieder im deutschsprachigen Literaturbetrieb Fuß zu fassen. In einem Alter von über sechzig Jahren verschaffte er sich durchaus Gehör und war als Publizist tatsächlich ein anerkannt witziger und schlagkräftiger Teil des Feuilletons. Aber, so scheint es, über tagesaktuelle Fragen hinaus vermochte er nicht zu reüssieren. Seine Romane wurden zwar besprochen, aber wohl nicht recht ernst genommen. Vielleicht machte man sich auch gar nicht erst die Mühe, sie zu verstehen, weil Neumann das Image gewissermaßen eines literarischen Hallodri hatte, von dem keine seriöse Literatur zu erwarten war.

Mit fremden Federn. Parodien lautet das 1927 erschienene Werk, mit dem Robert Neumann schlagartig berühmt wurde (vgl. Heuer 1999, 159; Wagener 2007, 34–38). Aber nicht nur Parodien begleiteten Neumanns literarischen Weg seitdem, sondern auch Plagiatvorwürfe. Es ist tragisch, dass mit dem Namen dieses Autors nicht zuletzt seine Händel in Erinnerung geblieben zu sein scheinen. Neumanns Werk darauf zu reduzieren, wird ihm jedoch nicht gerecht. Er war ein vielseitiger Autor, Verfasser historischer und gegenwartsbezogener Romane und engagierter Publizist, sowohl in der englischen Emigration als auch in der Nachkriegszeit vom Tessin aus.

Als Autor der Weimarer Republik wird ihm mit seinem Roman Sintflut (1929) die „gewichtigste epische Reflexion der Inflationszeit“ nachgesagt (Kiesel 2017, 347). Auf diesen Roman folgte nach drei Jahren, ebenfalls ein „Zeitroman“, Macht (1932), über die politisch-ökonomischen Verflechtungen von Staaten und Wirtschaftskonzernen und ihre skrupellosen Akteure. Während dieser Roman erzähltechnisch „wohl an Döblins Berlin Alexanderplatz geschult ist“, wie Kiesel (2017, 645) vermutet, ist in Sintflut ein homodiegetischer Erzähler eingesetzt, der zwar in die illegalen Machenschaften der Figuren, aber als Chronist nur wenig in die Handlung eingebunden ist.Footnote 34 Vor allem mit zwei weiteren Werken aus dieser Zeit zeigt Neumann seine Nähe zum unzuverlässigen Erzählen: mit der Hochstaplernovelle (1930), deren Titel an Thomas Mann Krull gemahnt, und mit dem Roman einer Prostituierten, Karriere (1931), den Irmgard Keun mit ihrem Kunstseidenen Mädchen (1932) plagiiert haben soll (vgl. Kiesel 2017, 619).

Wie auch immer dieser Vorgang damals genau abgelaufen ist, literaturgeschichtlich ist er ebenso ohne Folgen geblieben wie zivilrechtlich. Neumann jedenfalls leugnet in einem Brief an Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1932, „die aktion der ‚öffentlichen Meinung‘ gegen frau keun […] angekurbelt“ zu haben (Neumann 2013, 751). Trotzdem war er daran nicht unbeteiligt, denn er hatte, wie Keun laut Herausgeberkommentar (Tucholsky 2005, 761) ihrem Briefpartner Tucholsky berichtete, als sie sich an ihn mit der Bitte um Vermittlung wandte, ihrem Verlag mitgeteilt, „daß es sich bei Keuns Roman um ein Plagiat handle: Sie habe große Teile des Romans aus seinem Roman ‚Karriere‘ abgeschrieben.“ Neumann seinerseits bekannte Jahrzehnte später Fritz J. Raddatz gegenüber, dass er das Buch von Keun gar nicht gelesen, sondern lediglich auf „eine Konfrontation herausgerissener Textstellen, die durch die Zeitungen gegangen war“, reagiert habe (Neumann 2013, 751).

Interessant an der Angelegenheit ist nun, dass Tucholsky und Neumann zu gegensätzlichen Schlüssen gelangten, nachdem sie den jeweils anderen Text gelesen hatten (Neumann das Kunstseidene Mädchen und Tucholsky Karriere). Während Neumann nach der Lektüre die Plagiatsbehauptung zurückzog und sich auch im Rückblick davon distanzierte (ebd.), denn „Frau Keun hatte mich nicht nötig“ (Neumann 1966, 399), kam Tucholsky zu einem ganz anderen Ergebnis. Er schrieb der Autorin in einem Brief vom 16.7.1932 eine aufschlussreiche Bemerkung ins Stammbuch: „Neumann hat diese Art Monolog in deutscher Sprache zum ersten Mal gemacht, Sie durften das nicht zum zweiten Mal machen“ (Tucholsky 2005, 376). Aufschlussreich ist das zunächst, weil Neumann damals offensichtlich mit dieser speziellen Art des unzuverlässigen Erzählens als erster in Verbindung gebracht wurde. Aufschlussreich sind aber auch die Gründe, die Tucholsky in seinem ausführlichen Brief ins Feld führt: „Ich habe Bert Brecht jahrelang verfolgt, weil er etwas gemacht hat, was ich für unverzeihlich halte: er hat einen Ton gestohlen“ (Tucholsky 2005, 374 f. [Kursive im Orig.]). Dann geht er ins Detail und listet stilistische Übereinstimmungen zwischen Keuns und Neumanns Werken auf:

die nicht beendeten Sätze […]; die merkwürdige Stellung von [inquit-Formeln]; genau dieselbe Technik, wie das Mädchen ihre Kokettiergeheimnisse enthüllt; […] das verquatschte Deutsch – und dann eben dieser Ton. Wie da alles Intime als bekannt vorausgesetzt wird, wie vierzehn Sachen mit einem Mal erzählt werden … alles, alles wie bei Neumann. Ich bin ganz entsetzt gewesen, als ich das gelesen habe. (Tucholsky 2005, 375)

Zwar preist er danach auch wieder Keuns Talent und attestiert ihrem Roman Passagen, die seiner Ansicht nach ihr Werk zu einem besseren als Neumanns machen. Zugleich macht er deutlich, dass es nicht um wörtliche Übernahmen geht. Aber er bleibt doch bei der Behauptung, sie habe von Neumann die Erzähltechnik übernommen, wobei er offensichtlich der Meinung ist, dass man als Autor ein copyright auf eine literarische Technik haben könne. Mit dieser Technik ist jedoch nicht das unzuverlässige Erzählen überhaupt gemeint, sondern eine spezielle Variante, die sich durch die zitierten stilistischen Besonderheiten auszeichnet sowie durch figurenbezogene Kennzeichen, die die Erzählerinnen auf sehr ähnliche Weise charakterisieren.

Mag Neumann im Vergleich zu Keun diese Erzähltechnik auch früher eingesetzt haben, so war er gewiss nicht der erste und nicht der einzige, der sich dieser Technik bediente. Das trifft höchstens auf die Kombination mit den erwähnten inhaltlichen figurenbezogenen Elementen zu. Aber sein Name erlangte damals mit dieser Art von Ich-Erzählung Bekanntheit. Aufschlussreich ist dieser historische Exkurs auch deshalb, weil es bei den Texten um eine Variante des unzuverlässigen Erzählens geht, der im deutschsprachigem Raum auf wenig Verständnis gestoßen ist: Nicht nur sind die beiden Erzählerinnen – Neumanns Erna und Keuns Doris – naiv, ungebildet, auch vulgär und von zweifelhaftem Lebenswandel, sondern ihre Rede ist jeweils durch einen – sprachlich gesehen, in grammatischer, syntaktischer und lexikalischer Hinsicht stark defektiven – mündlichen Duktus geprägt.Footnote 35

Neumann hatte für seine Erzähltechnik sogar einen eigenen Begriff: Impersonation, den sein Biograph mit dem der Rollenprosa in Verbindung bringt (Wagener 2007, 40). Als Einflussgröße nennt Neumann (1966, 398) selbst neben Thomas Mann auch Arthur Schnitzler und Sigmund Freud, bei dem er während seines bald danach abgebrochenen Medizinstudiums ein Kolleg gehört hatte (Wagener 2007, 17). Es ist nicht schwer, Neumanns Technik mit Schnitzlers Leutnant Gustl in einen Zusammenhang zu bringen.Footnote 36 Und in der Tat steht Neumanns Werk in dieser Tradition und so gut wie gar nicht in der Tradition Thomas Manns, den er selbst ins Spiel bringt. Seine persönliche Vorliebe mochte Thomas Mann gelten; literarisch gesehen, ist ihre Beziehung jedoch oberflächlich und verdankt sich nur einem (kalkulierten) Skandal.Footnote 37

Olympia knüpft an Neumanns frühe Werke an. Der Autor zählt den Roman selbst zur Reihe seiner „Impersonationen“ (Neumann 1966, 398). Das Thomas Mann gewidmete Buch schreibt die Geschichte von Felix Krulls Schwester fort. Literaturgeschichte gemacht hat es aber vor allem durch eine Klage gegen das Buch, die von Erika Mann angestrengt wurde. Während der auch publizistisch von beiden Seiten befeuerten Konfrontation kam jedoch heraus, dass Neumann mehr sein eigenes Werk plagiiert hatte, indem er nachweislich mehrere Seiten aus Mathilde Walewskas Roman Meine schöne Mama (1956) übernommen hatte – die Autorin entpuppte sich als seine dritte Ehefrau, die 1958 verstorbene Evelyn Milda Wally Hengerer, die er beim Abfassen von Meine schöne Mama unter Zuhilfenahme einiger seiner älteren Werke, u. a. Karriere, unterstützt haben wollte, wie Neumann in einem Brief an seinen Verleger Kurt Desch schrieb, den er zusammen mit anderen Dokumenten in der Welt veröffentlichte, um der „Verwirrung der Geister“ während der sowohl im Feuilleton als auch vor Gericht mit Erika Mann ausgetragenen Auseinandersetzung „nun doch ein Ende [zu] setzen“ (Neumann 1961b, 268). Laut Herausgeberkommentar des umfangreichen Bandes mit Neumanns publizistischen Arbeiten und Nachlassmaterialien handelt es sich jedoch mangels „Hinweis auf eine umfängliche (Mit-)Urheberschaft von Evelyn Neumann“ um „eine Mystifikation“ Neumanns (Stadler 2013a, 276). Demnach scheint er alleiniger Autor eines Werks zu sein, dessen vermeintliche Autorin wenige Jahre zuvor Schlagzeilen als „deutsche Sagan“ geschrieben hatte (Neumann 1961b, 270; vgl. Stadler 2013b, 52).Footnote 38

Die Auseinandersetzung zog sich eine Weile hin. Einem Antrag des S. Fischer-Verlages auf einstweilige Verfügung wurde wegen „unzulässiger vergleichender Werbung“ stattgegeben und der Roman „mit einem leicht veränderten Schutzumschlag ausgeliefert“ (Pils 2006, 212). Nach Pils (2006, 213) beabsichtigte Desch aber, „dass Fischer nicht nur gegen die Werbung, sondern auch gegen den Roman selbst vorgehe.“ Neumann solle schon einmal Änderungen für eine zweite Auflage vorbereiten, für deren weiteren Absatz die skandalgetriebene Publizität zu sorgen versprach. Und tatsächlich reichte der S. Fischer-Verlag schließlich Klage wegen Plagiats ein. Doch kam es anschließend nicht zu einem Prozess, sondern nach einigen auch öffentlich ausgetragenen Scharmützeln vor allem zwischen Robert Neumann und Erika Mann zu einem Vergleich. Darin wurden die von Neumann bereits vorgenommenen, neunzehn Zeilen betreffenden Veränderungen sowie der Austausch von Eigennamen für weitere Auflagen bestätigt.Footnote 39

Es gibt Hinweise aus dem Briefwechsel zwischen Neumann und seinem Verleger Kurt Desch, dass beide mit der Publikation von Olympia eine auf Skandalisierung ausgerichtete Strategie verfolgten (Pils 2006, 209). Aber dies ist mit Neumanns offizieller Version durchaus vereinbar, wonach er in dem Roman „eine Dokumentation meines Dankes und meiner ein wenig vertrackten Beziehungen zu Thomas Mann“ sah (Neumann 1961b, 269).Footnote 40 Einerseits habe er „auf meine Anfänge entscheidenden Einfluß genommen“, andererseits wolle er sich „den Angelsachsen (aber wohl auch den Franzosen) gegenüber zu ihm bekennen“ (ebd.). Neumann erklärt, Thomas Manns Krull sei in den beiden Ländern nicht gut angekommen, man habe Manns späten Roman sogar im Lichte von Neumanns, des Exilanten, Werken rezipiert.Footnote 41 Das ist schwierig zu beurteilen, zumal er sich darüber im Weiteren etwas widersprüchlich äußert (die Anspielungen auf Krull würden einer englischen Ausgabe eher schaden als nützen).Footnote 42 Wichtiger aber ist, dass er in Olympia eine Fortsetzung seiner Frühwerke Hochstaplernovelle und Karriere sah, die bereits unter dem Obertitel Blinde Passagiere erschienen waren und eine Serie von mehreren Kurzromanen im Sinne seiner „Impersonationen“ bilden sollten.Footnote 43

Das literarische Verhältnis von Robert Neumann und Thomas Mann ist in mancherlei Hinsicht „vertrackt“. Der jüngere fühlte sich dem älteren Autor literarisch verpflichtet (wie im Übrigen auch seine älteren Kollegen Ernst Weiß und Stefan Zweig, die Thomas Mann als literarische Autorität anerkannten), nicht nur in seinen Anfängen, auch später noch. Das war möglicherweise ein Teil seines Problems, denn nach seiner Remigration in den deutschsprachigen Literaturmarkt konnte er an die alten Erfolge vor 1933 nicht mehr anknüpfen. Er galt als neusachlicher – und das hieß: als veralteter – Autor, der damit einer ästhetischen Richtung zugeordnet wurde, welcher damals weder ästhetisch noch literaturgeschichtlich irgendein Kredit eingeräumt wurde (vgl. Becker 1995, 7).

Zwar bekannte Neumann sich einmal mit Bezug auf sein Frühwerk zu „einer törichten Nachfolge Thomas Manns, dessen Meisterlichkeit ich kopierte, ohne seine Selbstironie zu begreifen“ (zit. n. Wagener 2007, 40 f.). Doch hatte er an anderer Stelle – in einem Brief an seinen Verleger Kurt Desch vom 3. November 1960, publiziert in seiner Dokumentation der Entstehungsgeschichte von Olympia (Neumann 1961b, 268–270) – gönnerhaft darauf hingewiesen, dass

[z]um Thema ‚Hochstapler‘ Mann eben ein Vierteljahrhundert nach mir, auf der Höhe des Lebens und kurz vor seiner Vollendung, ein paar Details und Situationen ein[fielen], die auch mir eingefallen waren – und was bei mir in frühen Nebenwerkchen verschleudert wurde, hat er (nach all der tiefsinnigen Langeweile [sic] seines Alterswerkes zu allerletzt noch zu einer verblüffenden und beglückenden Meisterleistung geformt: hundert neue und blitzblanke Einfälle aus seinem eigenen Speicher – neben fünf Kleinigkeiten aus dem meinen. Sie sind ihm von Herzen gegönnt. Bloß, späteren literarhistorischen Detektiven zur Freude: Ich nenne die älter gewordene Heldin meiner „Karriere“ jetzt „Olympia“. (Neumann 1961b, 269)

Dass Thomas Mann das erste Buch von Krulls Bekenntnissen bereits in den zwanziger Jahren veröffentlichte, lässt Neumann hier unter den Tisch fallen. Offensichtlich verfolgt er den Plan, angesichts der Nähe von Olympia zu Thomas Manns letztem Roman die Eigenständigkeit seines Werks herauszustellen und Argumente zu entwickeln, die in einer bereits für möglich gehaltenen gerichtlichen Auseinandersetzung für ihn sprechen. Wenige Jahre später klingt Neumann deutlich abgeklärter. Im mit „Einiges über Impersonation“ betitelten Nachwort zu dem erwähnten Band mit Ich-Erzählungen stellt Neumann klar, dass „Mann die Inspiration durch mich noch weniger nötig als ich die durch Mann“ gehabt habe (1966, 399). Hier erwähnt er (1966, 398) auch Manns „Krull-Fragment, das damals schon vorlag“, das ihm aber „sonderbarerweise nicht“ als Vorlage gegolten habe; vielmehr verdanke sich „der formale Einfluß von Thomas Mann“ seinem Tod in Venedig. Aber auch dies mag eine falsche Fährte sein. Auch wenn Manns Erzählung im Zusammenhang mit narrativer Unzuverlässigkeit diskutiert wird (vgl. Cohn 2000), ist sie ihrer Anlage nach heterodiegetisch, und die Rede gerade von formalem Einfluss wirkt angesichts dieses formalen Unterschieds irreführend.

Die Diskussion, wie stark Neumanns Olympia Thomas Mann literarisch verpflichtet ist, bewegt sich auf rein inhaltlichem Gebiet. Es ist klar, dass sich Neumann Manns Berühmtheit und Krulls Beliebtheit bedient, wenn er seinen Roman intertextuell dadurch an den Krull anbindet, indem er seine Schwester ihre Geschichte erzählen lässt.Footnote 44 Aber den Hochstaplerroman hat auch Thomas Mann nicht erfunden, worauf Neumann selbst eine seiner Figuren hinweisen lässt (s. u. Anm. 68). Es ist längst nicht ausgemacht, ob Neumann Thomas Mann tatsächlich so stark verpflichtet ist, wenn man die Antwort auf diese Frage in den Werken sucht. Zweifelsohne parodiert Neumann Krulls gewundenen Stil, indem er Olympia dessen Hypotaxe und Lexik nachahmen lässt; zugleich aber setzt er sich doch ab davon, indem er Olympias Rede mit Fehlern und Eigentümlichkeiten spickt, die sich ihr fiktiver Bruder gerade nicht erlaubt (bis auf solche Formulierungen mit doppeltem Boden wie das bereits im vorangegangenen Abschnitt zitierte „ein Werk der leichtgeschürzten Muse, wie man wohl sagt“ [FK, 33]). Hinzu kommt, dass er bereits Anfang der dreißiger Jahre ein eigenes Konzept verfolgte, indem er seine kleineren Romane unter dem Obertitel Blinde Passagiere als Teile einer Serie veröffentlichte, deren Zusammenhalt durch das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens garantiert wurde.

3.2 Unzuverlässiges Erzählen in Olympia (1961)

Ehe ich gleich zu der Frage komme, wie es sich mit Olympias bzw. Olympias Unzuverlässigkeit verhält, sei der Roman kurz vorgestellt, dessen Handlungsgerüst aufgrund von Abschweifungen, Verwechslungen, Anspielungen und Umstellungen nicht so simpel ist, wie die an Trivialliteratur gemahnende Handlung selbst anmutet.Footnote 45 An manchen Stellen wird schon in der Inhaltsangabe deutlich werden, dass Olympia unzuverlässig erzählt. Die Handlung ist voller Intrigen, deren Darstellung jedoch stark reduziert ist; sie erschließt sich mehr aus einzelnen Bemerkungen der Erzählinstanzen, als dass sie kohärent erzählt würde, womit der Roman auf seine eigene Weise der sozusagen anti-aristotelischen Poetik folgt, die über mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als typisch für progressive Literatur angesehen wurde. Der Zeitraum der Handlung liegt explizit noch vor 1900 (O, 234), wie zudem laufend unter Anspielung auf den noch jungen Kaiser zum Ausdruck gebracht wird (und damit nicht früher als 1888), während der Zeitraum der Erzählung später anzusetzen ist.Footnote 46 Wie viel Zeit dazwischen liegt, lässt sich nicht ermitteln.Footnote 47 So viel aber ist gewiss: Olympia reagiert auf die Bekenntnisse, „das Druckwerk meines unglücklichen Bruders“ (O, 12). Der Zeitraum, in dem Olympia ihre Erinnerungen niederschreibt, ist jedoch weiter ohne Belang. Im Handlungszeitraum ist Olympia bereits in fortgeschrittenem Alter mit fast erwachsener Tochter. Ihre Kindheitserinnerungen reichen zurück in die Zeit, als Straßburg noch französisch war (O, 84), und sie blickt auf ein Engagement als Sängerin in Bad Tölz zurück.Footnote 48

In der Handlungsgegenwart lebt Olympia in Baden Baden und verkehrt in Spielcasinos. Ihre Geschichte beginnt mit einem Skandal am Spieltisch, als knapp die Hälfte eines Gewinns, den der Croupier einem der Spieler zuschiebt, unterwegs offenbar verloren geht. Olympia wird von einer Konkurrentin indirekt beschuldigt, sich der Jetons bemächtigt zu haben, worauf Olympia anfängt, sich auszuziehen, um den Beweis des Gegenteils anzutreten. Dabei legt sie sich mit der weiblichen Begleitung eines Waffenfabrikanten an, dessen Namen sie fortgesetzt verändert (Kropp, Knopp, Kupp, Klopp),Footnote 49 und bedroht sie schließlich mit ihrem „Stöckelschuh“ (O, 34). Daraufhin schreitet Professor de Gorbakow ein (dessen Erscheinung Olympia zuvor schon aufgefallen ist und sie beeindruckt hat), um die Situation zu beruhigen. Kraft seiner (vermeintlichen) medizinischen Kenntnisse und seiner suggestiv überzeugenden Rhetorik löst er, der sich lieber bescheiden „Docteur“ nennen lässt, die Spannung schließlich auf. Olympia kommt er bekannt vor, doch kann sie ihn zunächst nicht recht einordnen. Sie bildet sich lieber ein, dass der Blick eines imposanten Mannes ihrer äußeren Erscheinung gilt. Doch stellt sich am Ende des Kapitels heraus, dass er sie lediglich wiedererkannt hat und dass sich somit sein bohrender Blick mehr dem Ansinnen verdankte, einen alten Kontakt wiederaufzunehmen, als dem, sie zu umschmeicheln.Footnote 50

Olympia fängt das Kapitel mit der Anschuldigung an, sie habe die Jetons genommen (O, 20), um dann halbwegs der Reihe nach zu erzählen, d. h. erst einmal darzulegen, wie es zu der Situation gekommen ist. Die Unterstellung scheint sie so sehr getroffen zu haben, dass sie ihren Bericht damit beginnt und ihr dadurch Signifikanz verleiht. Zwar wird am Ende nicht aufgelöst, wer die Jetons genommen hat, und zwar auch sitzt sie dem Croupier während des Vorgangs gegenüber, aber ihre überzogene Reaktion deutet auf ein Ablenkungsmanöver hin, mit dem sie die Aufmerksamkeit der Anwesenden binden möchte. Tatsächlich lautete jedoch der Vorwurf, sie verwahre die Jetons in ihrem Réticule. Das deutet darauf hin, dass sie tatsächlich eine Diebin ist, ein Sachverhalt, von dem sie mit ihrer Entkleidungsmaßnahme offenkundig abzulenken sich bemüht.

Im folgenden Kapitel benötigt Olympia mehrere Seiten, um sich ihrer alten Bekanntschaft zu entsinnen. „Le Docteur“, wie sie ihn meist nennt, verbringt die nächste Woche bei ihr in ihrer Villa „Mon Repos“ und deutet währenddessen an, dass er sein Testament machen wolle.Footnote 51 Sie wird hellhörig und vermittelt ihm einen Rechtsanwalt, den sie im nächsten, vierten Kapitel als einen durchaus windigen Advokaten vorstellt und der mit ihr bereits seit einigen Jahren kooperiert. Er legt ihr nahe, sich von le Docteur ein Kind machen zu lassen, um auf diese Weise an sein Geld zu gelangen, in Anspielung auf ihre Tochter, für die sie offenbar „Schulgeld aus der königlichen, wenn auch bloß balkanischen Privatschatulle“ erhält (O, 64).Footnote 52 Aber hier erweist sich Olympia als durchaus emanzipiert, denn „die besagte Mühsal wird von Männern leichtfertig unterschätzt!“ (O, 67). Sie hat eine bessere Idee und schiebt stattdessen ihre Tochter Marie-Anastasia dem „Docteur“ unter, dessen erste Bekanntschaft für sie „damals nicht ohne Folgen geblieben“ sei (O, 68).Footnote 53

Am nächsten Tag erhält sie einen Brief, in dem le Docteur – von dem sie inzwischen genauso gut weiß, dass er ein Hochstapler ist, wie er selbiges von ihr – „Deine charmante Beharrlichkeit als einen Fingerzeig“ begreift, „daß es für mich wieder einmal an der Zeit ist zu reisen“ (O, 71 [i. Orig. kursiv], sie zugleich aber nach Straßburg einlädt. Mit diesem Brief wird eine extreme Komplizierung einer hochstaplerischen Intrige eingeleitet, die zur parodistischen Ebene des Romans gehört. Le Docteur fordert Olympia in dem Brief auf, seine Korrespondenz abzuholen, die er wegen seiner vorzeitigen Abreise in seinem Hotel noch erwartet. Und richtig findet sie einen bereits geöffneten Brief vor, den er selbst verfasst und falsch adressiert hat, so dass er an den Absender zurückgekommen ist. Daraus geht hervor, dass er vergeblich auf eine Dame gewartet hat, zu der er per Chiffre-Anzeige Kontakt aufgenommen hatte.

In Straßburg trifft sie ihn nicht an, sondern zwei Geschäftsleute, die von ihm betrogen worden sind. Mit einem von ihnen macht sie in der Folge selbst ein Geschäft mit dem Geld, das sie sich von jener Dame leiht, auf die Le Docteur vergeblich gewartet hatte und zu der sie in seinem Namen Kontakt aufgenommen hat, wie erst im Nachhinein herauskommt (O, 113). In diesem Zusammenhang stellt sich heraus, dass sie auch mit dem Croupier, André Reber, zusammenarbeitet, den sie bittet, für sie den Docteur zu mimen, um der Dame so viel Geld wie möglich aus der Tasche zu ziehen. Später erfährt man, dass Reber für sie auch Uhren versetzt (an die sie nicht auf legalem Weg gelangt ist, wenn sie sie nicht als Geschenke von Verehrern erhalten hat).

Le Docteur taucht nach einigen Wochen, Ende Mai (O, 100), völlig abgerissen und ohne Gepäck wieder bei ihr auf (O, 104). Ihm gegenüber verschweigt sie, dass Monsieur Reber ihr geholfen hat, was sie im analeptischen „Kapitel in Klammern“ nachreicht (O, 116). Stattdessen gibt sie ihm zu verstehen, die Dame habe gezahlt, ohne den Docteur je gesehen zu haben. „Denn es ist mein Grundsatz: Ich lüge nie!“ (O, 125). Gleichzeitig gibt sie zu, dass sie seinem Charme ebenso erlegen ist wie seiner hochstaplerischen Andeutung, er trage sich mit dem Gedanken, ein Testament zu machen.Footnote 54 Nun ist es aber sie, die ihm aus der Patsche hilft und ihm Obdach anbietet, allerdings nicht ganz selbstlos, denn sie „bedarf einer repräsentativen männlichen Protektion“ (O, 129), um dem Mädchenpensionat ihren einwandfreien Familienstand vorzugaukeln. Obwohl er Verpflichtungen gegenüber seiner vermeintlichen Tochter scheut, lässt er sich doch dazu überreden, sie nach Sacré-Cœur zu begleiten. Womöglich ahnt er, dass er gar nicht ihr Vater ist. Daraus ergibt sich dann eine Verwechslungskomödie, weil die Tochter ihn tatsächlich zunächst für ihren (königlichen) Vater hält, während er Gefallen an ihr als junger Frau findet. Marie-Anastasia reißt aus und wird erst am Ende mit Hilfe ihres Onkels Felix in Paris aufgespürt und zurückgebracht.

Danach gibt es eine narrative Ellipse, es vergehen „ein, zwei Saisons“ (O, 217). Die Geschäfte von Olympia laufen nicht wie gewünscht. Sie beherbergt den Docteur auf ihre Kosten, die nicht unerheblich sind. Er erweist sich für sie als Verlustgeschäft. Sie leben auf Pump und bekommen nun keinen Kredit mehr. Auch auf den inzwischen zu Rollmöpsen weiter verarbeiteten Heringen ist sie sitzen geblieben, die sie in Straßburg angekauft hatte und auf die zwischendurch mehrmals angespielt wird.Footnote 55 André Reber rät ihr, sich an den Waffenfabrikanten zu wenden, der in der Eingangsszene bereits eine Rolle innehatte. Entscheidend ist am Ende aber doch eine andere Idee. Es gelingt ihr mit Hilfe ihres Bruders, ihres Rechtsanwalts sowie des Docteur, sich zu sanieren. Letzterer ist in den Besitz des Bühler Bergs gekommen, „einer der sieben Plätze auf der ganzen Welt übrigens, wo das Ozon positiv sympathisch geladen ist“ (O, 39), wie er dem Waffenproduzenten am Anfang versichert. Doch ist das Gelände so weit außerhalb der Stadt, dass es praktisch wertlos ist, wie ihr Rechtsanwalt Siebenschein zunächst mitteilt (O, 245 f.). Olympias Bruder Felix schafft es, das Gerücht um „die Errichtung eines Erholungsheimes für Offiziere“ auf dem Berg zu streuen, das Olympia dort plant, um es dem „herrlichen jungen Kaiser selbst“ zu schenken (O, 273). Dadurch soll der Wert des Geländes steigen und Olympias Auskommen auf längere Zeit gesichert werden. In Wahrheit, so ist aufgrund von Anspielungen jedenfalls zu unterstellen, planen die Beteiligten, in dem zu bauenden Haus ein Bordell einzurichten (O, 250, 268, 276), dessen Personal schon im Anbau der Villa Mon Repos untergebracht ist.

So viel zu den inhaltlichen Verwicklungen, denen zu folgen keineswegs immer leicht ist. Der Roman besteht aus vier Teilen, die drei homodiegetischen Erzählinstanzen zugeordnet sind, neben Olympia, die den ersten und dritten Teil erzählt (zu dem auch eine Reihe von Briefen gehört), ihre Tochter Marie-Anastasia (zweiter Teil) und ihr Bruder Felix (vierter Teil), der in der 2. Auflage lustigerweise mit dem Zweitnamen Thomas angesprochen wird: „Der gute Thomas weiß es nicht besser! (Habe ich erwähnt, daß mein Bruder wenigstens mit einem seiner Vornamen Thomas heißt?)“ (O, 16). Eine Seite später wird Olympia noch direkter:

(Denn wenn Felix – nein, ich wollte natürlich sagen Thomas – wie leicht verwechsele ich Namen – von der phantasiebefeuerten Freude unseres Künstlers Aufhebens macht, weil er ihn einmal in der bis hinab zu den Fersen beflügelten Verhüllung des griechischen Gottes Hermes bildhauerisch verwendete, so kann ich nur lächeln; mich modellierte er nackt!) (O, 17)Footnote 56

Wie bereits erwähnt, verdankt sich diese Änderung den juristischen Auseinandersetzungen sowie dem Ansinnen, mit einer zweiten Auflage den Absatz noch einmal in die Höhe zu treiben. Zugleich aber gelingt es Neumann, mit dieser Umschrift auch den intertextuellen Effekt zu steigern: „Die voll Ironie vorgenommenen Namensänderungen blieben so leicht entschlüsselbar, daß sie keinerlei verschleiernde Wirkung besaßen und wie nachträgliche ironische Kommentare zum ‚Skandal‘ lesbar sind“ (Scheck 1985, 99).

Die unterschiedlichen Erzählinstanzen missfielen manchem zeitgenössischen Leser (vgl. Neumann/Bienek 1962, 63) ebenso wie schon Neumanns Verleger Kurt Desch (Pils 2006, 209). Die engen Beziehungen des Romans zu Thomas Manns Krull wie zu Neumanns eigenem Frühwerk sind in intertextueller Hinsicht interessant, verdecken aber Neumanns eigenen Ansatz zu seinem Nachteil; denn „der Roman [wurde] überwiegend nur als Thomas Mann-Parodie interpretiert“ (Wagener 2007, 190).Footnote 57 Neumanns Parodien lagen inzwischen in mehreren ergänzten Neuauflagen vor, und ältere Literaturkritiker wie Friedrich Sieburg kannten sie noch aus der Zeit der Weimarer Republik, als sich Neumann mit ihnen einen Namen machte. Indes, wie Pils (2006, 207 f.) dargelegt hat, ist Olympia nicht einmal im letzten Teil, der von Olympias Bruder Felix erzählt wird, eine Parodie.Footnote 58 Es ist demgegenüber aufschlussreich, die Unterschiede zwischen Olympias Erzählen und Felix’ Erzählen zu untersuchen. Zwar schürt Olympia durch zahlreiche Verweise auf den Krull (etwa wenn Olympia ihren Bruder mit Bezug auf die Todesumstände des Vaters korrigiert)Footnote 59 immer wieder den Drang, Neumanns Roman im Lichte des Krull zu interpretieren und darauf festzulegen. Doch wollen wir dieser Versuchung hier widerstehen und intertextuelle Bezüge allenfalls dort in Rechnung stellen, wo sie für die Frage nach der Unzuverlässigkeit oder zu kontrastiven Zwecken von Belang sind.

Die Besonderheit von Olympias Unzuverlässigkeit besteht zum einen in vielen falschen sprachlichen Wendungen, die sie benutzt und irrtümlich für hohen Stil hält, und zum andern in ihrem, teils auch philosemitisch verkleideten, Antisemitismus – der unter den Rezipienten möglicherweise selbst so verbreitet war, dass er ihnen kaum auffiel, oder von ihnen nicht thematisiert wurde, weil es in der Adenauerzeit einen unausgesprochenen Konsens des Schweigens gab.

Olympia ist erkennbar eine Erzählerin, die es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und ihre Grundsätze je nach Situation anpasst. Sie ist also nicht nur als Erzählerin unzuverlässig, sondern als Handelnde auch völlig prinzipienlos. Dies gilt nicht zuletzt für ihr Verhältnis zum Docteur, den sie zugleich instrumentalisiert und vielleicht doch auch ein wenig liebt, ihn dann aber ins Sommerhäuschen verbannt, als es im Bett nicht klappt (O, 221). Zugleich ist sie unzuverlässig sich selbst gegenüber: Fülliger geworden, will sie sich „auf eine schmale Diät gesetzt haben“ (O, 222), um sich jedoch sogleich eines opulenten Frühstücks zu erfreuen.

Die psychologischen Aspekte sind indes nicht die Hauptsache. Konstitutiv für Olympias Erzählen ist ihre rhetorische Unzuverlässigkeit. Diese Fälle gehören zu einem großen Teil in den Bereich axiologischer Unzuverlässigkeit, und zwar in den (im Vergleich zur moralischen Unzuverlässigkeit) eher selten realisierten Unterbereich ästhetischer Unzuverlässigkeit. Im Folgenden seien einige Beispiele zitiert. Man wird verstehen, was an dem Text anstrengend ist, wenn man sich vor Augen hält, dass dies nur eine kleine Auswahl ist.

Olympia hat eine Vorliebe für Redensarten, die sie aber unrichtig wiedergibt, und verwendet schiefe Metaphern, nicht selten gemischt mit Vulgarismen. So sucht sie nach einem Vergleich für Gorbakow/le Docteur, um das Imposante seiner Person in Worte zu fassen, und findet diesen: „Eher schon mutete er an wie eine Wildsau, die einem Bullen gleicht“ (O, 35).Footnote 60 Während man dieser Formulierung noch in ihrer Absurdität mit einigem Wohlwollen ihren hyperbolischen Effekt gutschreiben könnte, lässt sich dieses Wohlwollen in den anderen Fällen nicht mehr aufrecht erhalten. Olympia vertut sich ein ums andere Mal. Bald nennt sie etwa „den Anblick seines entleerten Gesichtes“ eine „Fata Morgana“ und ergänzt, um die Tiefe des Eindrucks herauszustellen: „Ich sah nie eine Fata, die mehr Morgana war“ (O, 41). Dies ist ebensowenig ein Wortspiel, das auf das Konto von Olympia geht, wie die folgende Verdrehung einer Redensart von ihr beabsichtigt ist: „Ich drückte ihm eben die Rechte, obgleich das wie den Perlen vorgeworfene Säue war“ (O, 85). Ihre Vorliebe für eine vermeintlich hochsprachliche Ausdrucksweise stößt ebenfalls bei der Variierung einer Redensart an ihre Grenzen: „Das aber ging mir über die Schnur des Hutes!“ (O, 111). Nach ihrer Feststellung, dass sie ihre Tochter beim Docteur ausgestochen hat, stellt sie die rhetorische Frage, ob die Tochter sich gerächt habe (um sie anschließend zu verneinen): „War es der Schatten der von mir siegreich aus dem Felde Geschlagenen, der uns in die Speichen fiel?“ (O, 220).

Überhaupt ist ihr Verhältnis zu ihrer Tochter nicht unbedingt von Mütterlichkeit geprägt: „Sollst du mit den Händen im Schoße danebenstehen, während dich eine jeder Stattlichkeit bare Gans aus dem Felde schlägt?“ (O, 218) Aber Olympia hat noch weitere Argumente gegen die Tochter zur Hand, die natürlich nur vorgeschoben sind. Hier spricht sie zu sich selbst: „Auch hast du – vergiß es nicht! – strenge Grundsätze moralischer, wenn nicht geradezu feinreligiöser Natur!“ (O, 218). Sie musste also einschreiten und die Tochter vor dem Mann schützen, indem sie sich seiner annahm. „Kein Pelikan konnte selbstentfleischenderweise innerlich in blutigere Stücke zerrissen sein“ als ihr „Mutterherz“ (O, 218).

Aber Olympia kann sich auch einfacher ausdrücken. Als sie dem Croupier André Reber eröffnet, dass sich le Docteur als Verlustgeschäft erwiesen hat, schreibt sie: „Nie zuvor haben die Hoffnungen einer Dame so weit übers Ziel geschissen – ein unfeiner Ausdruck des Grafen W., den ich niemals verwenden würde, es wäre denn unter brutalem Zwang“ (O, 231).

Auf die Verwechslung von Namen habe ich oben bereits hingewiesen. Aber auch hier geht Neumann weiter und findet noch einen Witz mehr: „ich entsinne mich eben: Kropp heißt er, mit einem r“ (O, 28), so als gäbe es eine Variante dieses Namens mit zwei „r“. Und später lässt er sie über ihr Verhältnis zu Namen im Allgemeinen sagen: „der auf eine königstreue Weise konstitutionell-demokratisch Gesinnten sind sie [Namen], um ein weiteres Dichterwort zu prägen, lediglich Schall und Brauch“ (O, 36). In diesem Satz ist nicht nur ein politisches Paradox und ein falsches Zitat eingebaut, sondern auch ein unpassender Wortgebrauch („prägen“ statt „zitieren“).

Eine Verwechslung eines Wortes mit einem verwandten Wort („Zustand“ statt „Stand“) ergibt sich aus ihrer Erwartung, dass die sich streitenden Herren ein Duell verabreden: „Es ist dies der von der Dame stets mit Spannung beobachtete Augenblick, da Persönlichkeiten einigermaßen gleichartigen Zustandes sich selbzweit in die Herrentoilette zurückzuziehen pflegen, um ein Tauschgeschäft in Visitenkarten in die Wege zu leiten“ (O, 29). Häufiger unterläuft ihr die Verwechslung von Fremdwörtern. Le Docteur stellt sich vor als „Professor der vegetativen Konstitutionstherapie“ (O, 36), eine zwar leere Bezeichnung, die aber immerhin aus medizinischen Elementen besteht. Sie verballhornt sie zu „Professor der vegetarischen Konstipationstheorie“ (O, 37), also zu einer Theorie der Verstopfung.

Immer wieder versucht Olympia, mit literarischem Wissen zu glänzen. Zumeist ist es leicht als Unwissen zu identifizieren:

Der griechische Gott Homer, von dem mir ein Professor des hiesigen Gymnasiums auf einem Wohltätigkeitsbasar während einer kurzen Abwesenheit seiner Gattin berichtete, daß er nicht weniger als siebenmal geboren worden sei (ich konnte dieses hochinteressante Naturwunder nicht sogleich weiter verfolgen: sie kam vorschnell von der Toilette zurück) – selbst dieser Homer hatte eine zwar auf gereimte Weise sagenumwobene, deshalb aber durchaus nicht undurchsichtigere Vergangenheit als le Docteur. (O, 51).

Auf den Lehrer spielt sie noch mehrmals an und erzählt auf diese Weise nebenbei die Geschichte eines Ehebruchs. Aber auch sonst dient er ihr dazu, klassisches Wissen ungewollt zu verballhornen: „Du segelst hier, wie jener Gymnasialherr es ausgedrückt hätte, zwischen der Sulla und der Calypso!“ (O, 126).

Solche Witze hatte Neumann möglicherweise im Auge, als er in seiner Autobiographie überlegte, „daß diese Sprach-Scherzhaftigkeit ununterbrochen an Abgründen des Kalauerns, des banalen Ulks […] vorüberjonglierte“ (1963, 487). In der Tat missfiel diese Art der Rede den Kritikern, und es half dem Text wenig, dass das Abgeschmackte der Worte nicht einfach nur für sich selbst steht wie ein Kalauer, sondern die Erzählerin profiliert.Footnote 61 Zugleich charakterisiert den Text eine partielle Schwerverständlichkeit, so dass es eine aufmerksame Lektürehaltung erfordert, nicht nur intertextuelle,Footnote 62 sondern auch intratextuelle Anspielungen zu erkennen. Als sie sich im Gespräch mit dem Croupier über ihre Geldprobleme auslässt, sagt sie: „[…] wie störend wirken da Kathedralen im Hintertrakt, selbst die geborstensten!“ (O, 231). Gemeint ist damit der im Sommerhäuschen lebende Docteur, dessen Gesicht sie zuvor einmal nebenbei als „geborstene Kathedrale“ beschrieben hat.

Die Ansammlung von Stilblüten ist wohl einzigartig. Kein Wunder, dass dieser Roman bei den meisten auf Unverständnis stieß. Die narrative Komplexität der nur mühsam zusammenzusetzenden Handlung und die rhetorische Abgeschmacktheit in semantischer Hinsicht stehen in einem krassen Missverhältnis. Dabei ist auch die narrative Komplexität nicht der Kunstfertigkeit der Literatin Olympia geschuldet, sondern verdankt sich ihrem spontanen, am Mündlichen orientierten Erzählen. Die meistens komplizierte Syntax dient ebenfalls der Kontrastierung, insofern sie nicht zum Gestus der Mündlichkeit und der Spontaneität passt, sondern ihren vergeblichen Kunstwillen markiert, der von den Kalauern, Verballhornungen und Klischees, sowie von ihrem Unwissen und von ihren Vorurteilen ständig konterkariert wird. Durch ihre Ausdrucksweise vermeint Olympia hochwertige Prosa zu verfassen – und scheitert doch in fast jedem ihrer Sätze durch markante rhetorische Schnitzer daran, auch nur korrekt zu schreiben. Ebenso hat sie bestimmte Ansichten über sich selbst und die Welt, die offensichtlich unzutreffend sind. Natürlich lügt sie, natürlich ist ihr selbst moralisches Verhalten nicht wichtig und natürlich offenbart sie Überzeugungen, die als falsch zu erkennen für das Verständnis des Romans unabdingbar sind, wie an dem schon angekündigten anderen Aspekt deutlich wird.Footnote 63

Dieser andere Aspekt von Olympias Unzuverlässigkeit ist ihr Antisemitismus, ein Aspekt, auf den erst die literaturwissenschaftlichen Arbeiten eingehen (Scheck 1985; Pils 2006). Er kommt vor allem in solchen Wendungen zum Ausdruck: „wie mir ein philosophisch veranlagter, wenn auch israelitischer Bekannter einmal auseinandersetzte“ (O, 18), „so ein feinsinniger Mann, wenn auch Israelit“ (O, 20). Ein ganzes Kapitel (Kap. IV) ist ihrem jüdischen Rechtsanwalt namens Siebenschein gewidmet und enthält eine Reihe von Klischees und verbreiteten Vorurteilen, so die Rede von einer „Sinnlichkeit fürs Geschäft“ (O, 58) und von dem „so bezeichnenden Drange jener Volksgenossen anderer Konfession nach dem Höheren“ (O, 60), „wobei sie übersieht“, wie Scheck (1985, 96) bemerkt, „daß diese Eigenschaften genau die ihren sind.“ Und als sie Siebenschein ein lohnendes Geschäft in Aussicht stellt, hält sie seine plötzliche „Unberedtheit“ fest, die „sonst nicht zu den typischen Eigenschaften der Angehörigen jener Konfession“ zähle (O, 63). Auch Felix ist keineswegs frei davon: „Aber nichts gegen die Israeliten – habe ich recht?“ (O, 268), und: „Ich kannte mal an der Universität einen Israeliten – aber hochanständiger Mann“ (O, 270).

Auch hier gilt wieder, dass sich diese Äußerungen so sehr häufen, dass es nicht weiter schwer ist zu erkennen, wie das vom Autor gemeint ist. Doch geht es mir, erstens, nicht darum, die Kunstfertigkeit des Autors zu bewerten, sondern darum, das Phänomen und seine Variationen zu beschreiben; und zweitens muss man sich vor Augen halten, dass solche Formulierungen Olympias damals gängiger waren als heute und vermutlich recht genau wiedergeben, was auch Neumann sich nicht selten anhören musste. Das heißt, für die Zeitgenossen war Olympias Unzuverlässigkeit diesbezüglich vielleicht weniger leicht zu durchschauen, eben weil sie genauso über Juden sprachen wie sie.

Nach Pils (2006, 222) handelt es sich bei Olympias Haltung gegenüber Juden nicht um eine Parodie des Krull, weil Antisemitismus trotz einiger Andeutungen „kaum als ein ausreichend deutlicher Charakterzug der Figur“ des Felix Krull gelten könne. Stattdessen nimmt er an, „dass auf Thomas Mann selbst angespielt wird“ (ebd.). Gerade Manns fiktionale Werke zeigten ein Oszillieren zwischen Faszination und Vorurteil, sind ambivalent, niemals vorurteilsfrei“ (Pils 2006, 223). Deswegen habe Neumann seine Figuren antisemitisch charakterisiert und in Bezug auf das Werk von der „Vertracktheit der Aggression“ (1963, 487) gesprochen, die Pils hinter dem von Neumann (ebd.) so bezeichneten „hintergründigen Scherz“ und der „hintergründige[n] Ovation“ vermutet. Das ist plausibel, denn, wie so vieles bei Thomas Mann, sind auch Krulls antisemitische Untertöne nicht von seiner partiellen Unzuverlässigkeit gedeckt, sondern stimmen möglicherweise ebenso mit der ambivalenten Einstellung des Autors überein wie viele andere Details der Krullschen Vita mit biographischen Einzelheiten Thomas Manns. Nicht zuletzt charakterisiert Neumann (1961b, 269) selbst in dem schon zitierten Brief an seinen Verleger Desch die Figur Olympia „als eine Dokumentation meines Dankes und meiner ein wenig vertrackten Beziehungen zu Thomas Mann“.

3.3 Der Kurzroman Luise (1966)

Auch wenn Neumann nach den Querelen mit Olympia ein ambivalentes Verhältnis zu seinen Impersonationen hatte, wie es in den zitierten autobiographischen Äußerungen zum Ausdruck kommt (vgl. Anm. 61), schrieb er 1963 mit Luise noch eine weitere Impersonation (vgl. Wagener 2007, 42). Luise, verwitwete Klahm und geborene Schröder, ist eine sechzigjährige Toilettenwärterin im Hamburger Hauptbahnhof an ihrem letzten Arbeitstag vor der Rente. Ihr Monolog besteht in der Hauptsache aus ihren Repliken in mehreren Dialogen, wobei die Repliken ihrer Gesprächspartner ausgespart bleiben, ganz so wie in Leo Perutz’ Nur ein Druck auf den Knopf (1930). Der Text ist in sechs Kapitel unterteilt. Mit Ausnahme von einem Kapitel spricht sie in jedem mit einer anderen Person: mit ihrer Nachfolgerin Frau Lütjens, einem Kriminalinspektor (und ehemaligen Gestapo-Mann), einem jüdischen Reisenden, ihrer Jugendfreundin Wilhelmine und ihrer sechzehnjährigen Tochter Luischen. Das dritte Kapitel ist ein Selbstgespräch.

Luise möchte am Abend nach Thüringen reisen, zu Verwandten ihres zweiten, ebenfalls bereits verstorbenen Ehemannes Prohaska. Während sie sich mit den Toilettennutzern unterhält, spricht sie eifrig der Flasche Bommerlunder zu, die sie noch „hinter’n Pappkartong mit den Geruchvertreibungspatronen“ gefunden hat (L, 305). Am Ende ist sie ziemlich betrunken, wie sich an ihrer Sprache zeigt.

Luises Sprechstil ist ein Kunstprodukt auf der Basis „eines hanseatisch-berlinischen Mischdialekts“, wie Neumann (1966, 400) ihn im Nachwort selbst charakterisiert. Einiges wie die Verdrehung von Redensarten und Fremdwörtern erinnert an Olympia, doch gibt es kein Ringen um hohen Stil, im Gegenteil.Footnote 64 Auffällig ist, dass sie sich in der Bewertung bestimmter Gesprächsgegenstände dem Erwartungshorizont ihres jeweiligen Gegenübers anpasst, die sie allerdings kaum zu Wort kommen lässt. Dies zeigt sich spätestens im zweiten Gespräch mit Wernicke, dem Kriminalinspektor, von dem sie glaubt, er statte ihr einen Besuch ab, weil eine Kundin ihr kostbares Armband in der Toilette verloren haben will, weshalb Luise bereits auf einem Polizeirevier war, um eine Aussage zu machen. Doch davon weiß der Inspektor gar nichts. Stattdessen möchte er sie befragen, weil sie in die DDR übersiedeln will, sich aber selbst einmal als politisch Verfolgte ausgegeben hat, um an staatliche Leistungen der Bundesrepublik zu gelangen (vgl. L, 311 f.). Auf dem Wege dieser Befragung erfährt man Weiteres über Luises Biographie. Sie wurde 1903 in Wandsbek geboren und heiratete 1933 den deutsch-dänischen SA-Mann Gustav Klahm.Footnote 65 Hier zeigt sich, dass sie meint, mit einem offiziellen Repräsentanten der Bundesrepublik zu sprechen, denn sie spielt die SA-Mitgliedschaft herunter: „[…] bei der SA war der doch nur, weil man so die tausend Mark Ehebeihilfe gekriegt hat“ (L, 313).

In dieses Bild passt ihre ambivalente Äußerung, in der sich Anerkennung und Ablehnung Hitlers neutralisieren. Diese Haltung ist längst zu einem Klischee geworden, aber damals war sie, so kann man unterstellen, wohl weit verbreitet:

Was immer man gegen ihn sagt, Sie wissen, wen ich meine – für den kleinen Mann hat er ja was getan, Autobahnen und Wehrhoheit und so. Oder Kadeeff. Muß man ja sachlich zugeben, kann man sich leisten, gerade wenn man wie ich immer dagegen gewesen ist – stimmt? Sind wir ja in ’ner demokratischen Republik für, mit Grundgesetz, daß man das sagen kann, nicht? (L, 313)

Anschließend stellt sich heraus, dass ihr Mann es sogar bis zum Sturmbannführer gebracht hat und im Zuge des Röhm-Putsches, angeblich aufgrund einer Verwechslung, ums Leben gekommen ist. Damit ist klar, dass er nicht nur wegen finanzieller Vorteile in die SA eingetreten sein kann, sondern dort bereits eine längere und verdiente Karriere durchlaufen hat. Luise versucht vergeblich, den Lebenslauf zu schönen, indem sie ihn an die Entnazifizierungswünsche anpasst, die sie von offiziellen Stellen erwartet. Zugleich gibt sie unfreiwillig zu verstehen, dass ihr Heiratsmotiv der finanzielle Anreiz gewesen ist. Diese Haltung wird sich später bestätigen. Damit erweist sich Luise als ein Mensch, der seine ideologische Haltung von der persönlichen bzw. wirtschaftlichen Situation abhängig macht.Footnote 66

Sie kommt aus dem nazistischen Milieu. Ihre eigene Gesinnung ist nicht aggressiv gegen Minderheiten. Die NS-Vorstellungswelt hat sie aber noch immer im Griff, so dass sie NS-Phrasen für ihre privaten Beziehungen, unabsichtlich, adaptiert. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes habe sie wieder den Namen ihres ersten Mannes angenommen. „Aus Gefühl, weil er eben der erste war. Meine Ehre ist Treue. Gelten ja viele Sachen nicht mehr, aber das gilt ja noch, hoffentlich“ (L, 313). Man kann davon ausgehen, dass sie mit der leichten Abwandlung des SS-Wahlspruchs keinen Eid auf Hitler leisten möchte, sondern die darin enthaltene Tugend meint. Zugleich kommt aber dadurch zum Ausdruck, wie stark sie der NS-Vorstellungwelt verhaftet ist und deren Ausbeutung traditioneller Tugendvorstellungen unterliegt. Auch die NS-Propaganda hat noch späte Nachwirkungen, wenn sie erzählt, dass sie ihren zweiten Mann erst 1939 kennengelernt hat, „wo Polen uns schon überfallen hat – ich meine, Sie wissen schon. Hat ja unsereiner nicht gewußt, stimmt?“ (L, 315). Das eigene Nichtwissen perpetuiert Luise ein ums andere Mal: „Von KZs hat man wie gesagt nicht gewußt, daß es überhaupt so was gibt. Und interessierst du dich, Luise, habe mich mir immer gesagt, so kommst du selbst rein!“ (L, 318). Sie habe nicht nur nichts gewusst, auch die Opferzahlen hält sie für übertrieben. Kommt ihre Rede auf Juden, so äußert sie sich ähnlich wie Olympia: „[…] der war’n Jude, unter uns gesagt, aber immer ein hochkorrekter Mensch“ (L, 316). Sie meint Blau, den Chef eines Theaters an der Reeperbahn, in dem sie als Bürokraft arbeitete, bis das Theater „arisiert“ wurde. Das kommentiert sie, indem sie auf die in Hans Globke personifizierte Kontinuität zwischen dem „Dritten Reich“ und der Adenauerregierung hinweist: „Aber Gesetz ist Gesetz, habe ich recht, hat ja doch der gemacht – wie heißt der? Wo noch jetzt immer die rechte Hand von Kanzler ist? Na, egal“ (L, 316). – Dieses „Na, egal“ bezieht sich aus Luises Sicht natürlich darauf, dass ihr der Name entfallen ist; der Autor aber kommuniziert damit mehr. Darin prangert er gewissermaßen die Schwamm-drüber-Mentalität der Zeit an und die Nonchalance, wenn man das so sagen kann, mit der jemand wie Globke hochrangige politische Funktionen ausüben konnte.

Durch ihre Beschäftigung an einem Theater, an dem sie auch als Statistin auf der Bühne ausgeholfen hat, ist sie ans Fronttheater gekommen, mit dem sie unter anderem in Kowno (dem heutigen Kaunas in Litauen) war. An diesem Punkt kreuzen sich Luises und Wernickes Biographien, denn sie bändelte dort offenbar mit einem hochrangigen Gestapo-Beamten an, der Wernickes Vorgesetzter war. Das schafft Vertrauen, denn nun gibt der Inspektor ihren Angeboten nach und lässt sich ein Gläschen Bommerlunder geben. Es wird nicht das letzte bleiben. Damit ändert sich auch Luises Gesprächsverhalten mit Bezug auf die historischen Vorgänge. Nun äußert sie sich in einem Sinne, der erkennen lässt, dass NS-Propaganda und -Ideologie in ihr noch sehr lebendig sind. Man ist an dieser Stelle geneigt, das für ihre wahre Einstellung zu halten. Aber, recht besehen, bleibt doch offen, ob dies der Fall ist. Auch hier orientiert sie sich wahrscheinlich an dem Weltbild ihres Gegenübers. Wiederum gibt es Äußerungen, die belegen sollen, dass man damals eigentlich nicht dafür gewesen sei.

Luise belügt sich bzw. ihren Gesprächspartner aber auch in persönlicher Hinsicht. Sie will den Eindruck einer Frau mit Prinzipien erzeugen und besteht auf ihrem platonischen Verhältnis zu Wernickes ehemaligem Vorgesetzten (der offenbar zwischenzeitlich in Polen als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde). Aber wie aus diversen Ausrutschern und Anspielungen hervorgeht, entspricht dies nicht ihrem tatsächlichen Verhalten. Im weiteren Verlauf erweist sie sich gerade aufgrund ihres strategischen Verhältnisses zu ihren weiblichen Qualitäten als Überlebenskünstlerin, denn sie bleibt nach Kriegsende in der sowjetisch besetzten Zone und hält sich an einen Offizier der Roten Armee. Sie gibt vor, eine Liste mit antikommunistischen Personen von seinem Schreibtisch entwendet zu haben, womit sie ihre politische Verfolgung rechtfertigen möchte.

Am Ende kippt das Gespräch allerdings, weil Wernicke sie mit ihrer Verwicklung in illegale Geschäfte konfrontiert. So hat sie den Vater ihres Kindes der Vergewaltigung bezichtigt, um an Geld zu kommen, und sie war anschließend mit dem Schieber Claus Röpke zusammen, nach dem Wernicke wohl eigentlich fahndet.

Im weiteren Kapitel erfährt man, dass Luise nach dem Krieg im Bereich „Eheanbahnung“ (L, 341) gearbeitet hat. „So in kleinen Gelegenheitsstil natürlich. Braucht man ja sonst’ne Lizenz für“ (ebd.). Nachdem sie selbst einem Betrug zum Opfer gefallen war, musste sie schließlich im Hotel Vier Jahreszeiten als Toilettenfrau anfangen. Von dort kam sie schließlich zum Hauptbahnhof, die letzte Station eines stetigen beruflichen Abstiegs.

Gegenstand des vierten Kapitels ist ein Dialog mit einem „jüdischen Seelsorger“ (L, 345), der während eines Zwischenstopps in Hamburg auf der Suche nach einer Toilettenfrau ist, der er im Namen eines Gemeindemitglieds 200,- US-Dollar übergeben möchte, weil sie dieses Gemeindemitglied seinerzeit vor den Nazis gerettet hat. Luise war es nicht, wie sie zugibt, meint aber doch zunächst das Geld verdient zu haben, weil auch sie nichts gegen Juden gehabt habe. Sie erklärt sich ihrem Gesprächspartner des Langen und Breiten, so auch über den Vater ihrer mittlerweile sechzehnjährigen Tochter Luischen. Sie kommt nicht klar damit, dass es sich um einen dunkelhäutigen amerikanischen Soldaten handelt. Aufgrund ihrer falschen Anschuldigung ist er in Unehren aus der Armee entlassen worden, gewissermaßen eine weitere Leiche auf ihrem Lebensweg. Wie schon gegenüber Wernicke kommt dabei ihr Rassismus zum Ausdruck, denn mit einem „Neger“ will sie nicht zusammen gewesen sein. Überdies zeigt sie wiederum Vorurteile gegenüber Juden und lässt die üblichen Ausreden darüber verlauten, nichts gewusst zu haben; andererseits gibt sie aber auch ihre eigene Schwäche zu erkennen, sowie ihre Armut, und erzählt am Ende die Wahrheit, dass nämlich ihre Vorgängerin bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen ist. Sie hat das Geld nicht verdient und bekommt es am Ende doch. Sie nimmt es an sich, ohne ihrer Nachfolgerin davon abzugeben.

Nach einem Gespräch mit ihrer zu Wohlstand gekommenen Jugendbekannten Wilhelmine, in dem sie wiederum eher NS-affine Positionen vertritt, kommt im letzten Kapitel endlich ihre die ganze Zeit erwartete Tochter zu Wort, die bei C. & A. eine Ausbildung macht. Luise will sich noch von ihr verabschieden. Von Frau Lütjen, die nach der Tochter schauen sollte, hat sie erfahren, dass Luischen von einem Mann abgeholt worden ist. Sie macht sich Sorgen (und ist mittlerweile auch angetrunken, was sich in mehr Wortverdrehungen zeigt). Sie wähnt ihre Tochter in Gefahr. Die Männer wollten doch nur Sex, um sie danach sofort sitzen zu lassen. (Luise kennt das aus eigener Erfahrung und erwartet daher bei ihrer Tochter nichts anderes.) Sie gibt ihrer Tochter eine so kräftige Ohrfeige, dass sie sie im Gesicht verletzt. Im Laufe des Gesprächs stellt sich jedoch heraus, dass der Galan der Tochter, mit dem sie sich bereits seit drei Monaten trifft, nicht nur vermögend ist, sondern es auch ernst meint. Den ersten Kuss gab es im fahrenden Auto nach seinem Heiratsantrag. Daraufhin lässt Luise von ihrer Reise ab, um – mit dem Taxi (das sie sich wahrscheinlich eigentlich nicht leisten kann) – dem Bräutigam ihre Aufwartung zu machen und die gute Partie nicht mehr entkommen zu lassen.

Mit diesem Ende bestätigt sich die eingangs formulierte Annahme, dass Luise sich hauptsächlich von materiellen Anreizen leiten lässt. Dass sie viel Verständnis für NS-Positionen äußert und damit eine typische Vertreterin bundesrepublikanischer Nachkriegswirklichkeit ist, ist schlimm genug; das eigentliche Übel aber ist ihre Gewissenlosigkeit und ihre auf materiellen Vorteil gerichtete Einstellung, die sie erst anfällig für eine solche Position machen.

Luise ist selbst zu großen Teilen eine klischeehafte Figur, deren geistige Einstellung sich wiederum nur von Vorurteilen und Klischees nährt. Sie ist vorwiegend negativ dargestellt wie schon Schnitzlers Leutnant Gustl, mit dem sie nicht nur den Antisemitismus teilt, sondern auch mangelnde Selbsterkenntnis und Empathie. Selbstmitleid ist ihr allerdings fremd. Und anders als bei Gustl äußert sich in ihrem Schicksal auch eine Kritik an sozialen Verhältnissen. Insofern ist Luise als Figur komplexer angelegt. Neumann war alles andere als ein Feminist, und er zeichnet Luise nicht als eine Frau, die aufgrund der männerdominierten Gesellschaft notorisch benachteiligt ist. Im Gegenteil, sie instrumentalisiert Männer zu ihren Gunsten. Trotzdem ist sie in ihrem Leben – das zeigt nicht zuletzt ihr Beruf – nicht immer als Siegerin vom Platz gegangen. Instinktiv will sie ihrer Tochter das Leben, das sie selbst geführt hat, ersparen. Auch wenn sie dann letztlich wieder nach den Prinzipien handelt, nach denen sie immer schon gelebt hat, zeigt sich gerade an der Tochter, dass für jemanden wie sie das Fortkommen keine einfache Angelegenheit ist. Luise spürt das mehr, als dass sie es versteht, und natürlich ist es jenseits ihrer Vorstellungskraft, dass man daran etwas ändern könnte. Sie nimmt die Verhältnisse, wie sie sind, und daraus leitet sie ihre Handlungsoptionen ab, und das heißt: die noch minderjährige Tochter unter die Haube zu bringen. Ein betuchter Junggeselle ist da das beste, was ihr passieren kann.

Die Erzählerfiguren in Neumanns hier vorgestellten Impersonationen sind zwar dumm oder wenigstens ungebildet, aber ihre Monologe sind trotzdem nicht trivial und schon gar nicht immer ganz leicht zu verstehen. Das hat einen Grund, der mit den Persönlichkeiten der Erzählerfiguren zu tun hat. Sie erzählen nicht wie Schriftsteller, sondern eben wie Leute, deren narrative Fähigkeiten nicht sehr ausgeprägt sind. Sie sind nicht empathisch, können sich nicht in ihre Gesprächspartner hineinversetzen. Daher erzählen sie assoziativ und setzen immer wieder das Wissen, über das sie selbst verfügen, beim Gesprächspartner voraus – zu Unrecht, was das Verständnis ihrer Rede nicht immer leicht macht. Daher muss man als Rezipient die Zusammenhänge, teilweise mühsam, selbst rekonstruieren, um die mangelnde Kohärenz der Narration zu kompensieren. Der Effekt ist nun eigentümlicherweise dem nicht unähnlich, den etwa die Prosa eines Uwe Johnson hat, weil auch seine Erzählungen konventionelle Kohärenzerwartungen unterlaufen. Der Unterschied besteht freilich darin, dass Johnson und andere Autoren seines Kalibers einen Kunstanspruch haben (und diesen mit moralischen und epistemischen Ansprüchen verknüpfen), den Neumanns Erzählerfiguren gerade nicht erfüllen. Wir haben es also – vordergründig – hier mit Kohärenzeinbußen qua literarisierter bzw. fingierter Unfähigkeit zu tun und dort mit Kohärenzeinbußen qua intendierten Kunstwollens.

Die aufgesetzte Kunstlosigkeit der Impersonationen Neumanns könnte zu dem Misserfolg beigetragen haben, denn sie unterlaufen bildungsbürgerliche Vorstellungen von angeblich guter Kunst: schlechter Stil, moralisch anrüchige Charaktere und Handlungen, vermeintlich triviale Sujets usw. Dass dies alles funktionalisiert ist, eben weil es sich um unzuverlässiges Erzählen handelt, zeigt jedoch, dass natürlich auch diese Texte einen Kunstanspruch haben, diesen aber verstecken und nicht vor sich hertragen, ja, mehr noch, ihn durch die offenkundigen Allusionen auf den Trivialroman konterkarieren.

Diese Allusionen gibt es auf der Ebene der Figuren und Handlung durch analoge Charaktere und Verwicklungen; sie werden aber auch von den Figuren selbst thematisiert, etwa wenn le Docteur Felix Krull Lektüreempfehlungen gibt, die zugleich als metaliterarischer Kommentar des Autors zu verstehen sind, der damit andeutet, dass auch schon der Krull seine Vorläufer hat. Während Felix „Bade-Mariage unseres großen Dingelstedt“ gelesen hat und „natürlich An der Heilquelle – das neueste Werk des berühmten Friedrich Spielhagen“, preist le Docteur „als Russe“ Ivan Turgenevs Rauch (dessen Titel er nur auf Russisch nennt) und Dostoevskijs Spieler (O, 283).Footnote 67 Es ist gerade die Doppelbödigkeit der Werke dieser Autoren, die sie von den deutschen unterscheidet. Süffisant folgt noch der Rat an Felix, „Meister Kleiderlieb [sic!]“ des Vielschreibers Carl Spindler zu lesen, eine Hochstaplergeschichte (O, 284).Footnote 68 Auch daran kann man leicht sehen, dass Neumann ein literarisches Spiel treibt. Mit dieser Sequenz macht er deutlich, dass die Tradition, in die er sich mit seinem Roman Olympia einreiht, sehr viel weiter reicht als nur bis zum Felix Krull.

3.4 Der Roman Die dunkle Seite des Mondes (1959) und Neumanns literarische Modernität

Zu Neumanns literarischer Produktion in dieser Zeit gehören nicht nur die hier vorgestellten, sogenannten Impersonationen. Es stellt sich die Frage, ob, und gegebenenfalls inwiefern, jene anderen Werke ebenfalls unzuverlässiges Erzählen realisieren. Wie man an dem noch vor Olympia erschienenen Roman Die dunkle Seite des Mondes (1959) sehen kann, lässt sich das Verfahren punktuell auch darin nachweisen; allerdings spielt es für die Poetik des Romans eine untergeordnete Rolle.Footnote 69 Zwar ist auch dieser Roman homodiegetisch; aber sein Stil ist weniger auffällig, wie sogleich ins Auge fällt. Das liegt nicht zuletzt am Bildungsstand der Erzählerfigur. Es handelt sich um den vierundvierzigjährigen Andreas Wirz, einen Rechtsanwalt, der aus einem sowjetischen Lager in seine Heimat zurückgekehrt ist, in eine namenlose österreichische Provinzstadt an der halbwegs durchlässigen Grenze zum wohl sozialistischen Ausland. Dort übernimmt er die Kanzlei seines verstorbenen Vaters, die in der Zwischenzeit von Dr. Pichler geführt wurde. Gleich zu Anfang charakterisiert er sich als jemanden, der „zum erstenmal in seinem Leben zur Feder greift“. Anlass sind die Ereignisse des vergangenen Wochenendes, deren „Protokollierung“ er sich vornimmt (DSM, 7). Diese Ereignisse nehmen ihren Ausgang in der Ankunft seiner Stiefmutter Tatjana, die, nicht älter als er selbst, ihn unter mysteriösen Umständen aufsucht. Sie ist über die Grenze gekommen und leicht verwundet. Was sie will, wird nicht recht klar. Einerseits möchte sie ihr Testament machen und Stiftungen gründen, die Wirz verwalten soll (DSM, 71); andererseits ist sie arm, sie will Patente auf Erfindungen haben, die wertvoll sein sollen. In der folgenden Nacht wird sie offenbar gewaltsam entführt, und Wirz gerät in Verdacht, an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Doch Tatjana taucht wieder auf, überraschenderweise gefolgt von ihrem Mann, Wirzens Vater.Footnote 70

Wie man sieht, gibt es inhaltlich und strukturell Anleihen beim Kriminalroman. Neben der Aufklärung eines vermeintlichen Verbrechens geht es aber auch um die Aufklärung der familiären Beziehungen zwischen den beteiligten Figuren. Charakteristisch für den Roman insgesamt ist sein mystifizierender Gestus, an dem nicht nur die rätselhaften Äußerungen der Figuren Anteil haben, sondern auch der Erzähler selbst. Er ist drogenabhängig und nimmt am Anfang der Ereignisse das Aufputschmittel Pervitin ein, ein Methamphetamin.Footnote 71 Auch Morphium findet sich in seinem Arzneischrank. Immer wieder bezeichnet er sich selbst als ungeschickt und ungelenk, womit er den Eindruck erweckt, die Situation nicht recht unter Kontrolle zu haben. Resultat dieses Erzählens ist, dass vieles von dem, was Gegenstand der zahlreichen Figurengespräche ist, einen ungeklärten Wahrheitsgehalt hat. Was der Fall ist in der erzählten Welt, lässt sich angesichts der vielen Andeutungen, Vermutungen und Widersprüche, die die Figuren äußern, über lange Passagen hinweg nicht feststellen. Leser und Erzähler werden immer wieder mit Aussagen konfrontiert, die vom Erzähler nicht überprüft werden können, dann aber durch den Gang der Ereignisse oftmals widerlegt werden – wobei auch der neue Sachverhalt ungewiss bleibt. Warum die Figuren richtige oder falsche Vermutungen über Sachverhalte streuen, bleibt indes unklar. Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, dass sich darin das Lebensgefühl des Erzählerprotagonisten manifestiert, der auch nach seiner Rückkehr den Boden unter seinen Füßen, der ihm durch seine Emigration entzogen wurde, nicht wieder erlangt. Einschlägig dafür ist sein Kommentar auf Tatjanas Bemerkung, sie sei eine „Opiumesserin“, als sie ihm das Morphium abluchst: „Es klang wie eine Lüge mit falschem Boden: es mochte schon wieder die Wahrheit sein“ (DSM, 67). Tatjanas Person bleibt rätselhaft. Sie personifiziert auf diese Weise die gesamte Geschichte. Der Erzähler vergleicht ihre Persönlichkeit mit einem Koffer „mit mehreren Böden“ (DSM, 78), die einer nach dem anderen einen neuen Inhalt offenbaren. Damit ist auch die Anlage der Geschichte treffend beschrieben, an deren Ende sogar der totgeglaubte Vater auftaucht.

Die Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers lässt sich nur mit Bezug auf einen Sachverhalt ermitteln. Entgegen seiner Erinnerung an Tatjana, durch die er bekundet, sie kaum zu kennen (vgl. DSM, 29–36), soll er ihr laut dem Tagebuch seines Vaters nachgestellt (DSM, 105) und sie womöglich gar „vergewaltigt“ haben (DSM, 133). Diese letzteren Informationen werden nicht weiter in Frage gestellt und könnten damit den wahren Sachverhalt wiedergeben, auch wenn die Quelle dieser Informationen Tatjana ist, der in vielen Fällen nicht zu trauen ist. Da der Schwerpunkt der Erzählung darauf liegt, den Wahrheitsgehalt der Figurenaussagen im Ungewissen zu belassen, ist die Frage aber letztlich sekundär, ob der Erzähler seiner späteren Stiefmutter nachgestellt hat oder nicht. Dass er sie besser kannte, als er sich selbst erinnert oder erinnern will, zeigt, dass seine Beziehungen nicht nur zu den anderen Figuren, sondern auch zu sich selbst bzw. seinem alten Ich brüchig sind.

Zwischen allen Figuren werden letztlich die Verwicklungen durchgespielt, die sich ergeben, wenn die eine der anderen nicht glauben kann, das sie die ist, für die sie sich ausgibt, und das sie das eine sagt und damit das andere meint oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen sucht, über das sie sich ausschweigt. Das ist ein Thema, das auch andere Werke Neumanns auszeichnet, so etwa den noch auf Englisch verfassten Roman Blind Man’s Buff [ „Blindekuh“] (1949), der von einem Aktienhändler handelt, der (kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs) die Identität eines von der SA ermordeten Juden annimmt und mit dessen Tochter Marika zusammenkommt. Bald wähnt er sie im Konzentrationslager und macht sich auf die Suche nach ihr, wobei er selbst in ein Lager kommt und überlebt. Nach dem Krieg trifft er sie wieder, die nie im KZ war, sondern sich als Prostituierte verdingt, was er nicht wahrhaben will. Sie machen sich gegenseitig etwas vor, so wie auch Tatjana und der alte Wirz am Ende von Die dunkle Seite des Mondes. Ähnlich verhält es sich auch in dem Roman Festival (1962), deren Hauptfigur Marguerite in einer Dreiecksbeziehung mit ihrer jungen Liebhaberin und ihrem eigentlich ehemaligen Liebhaber steckt.

Die zuletzt erwähnten Romane, die Neumann selbst nicht zu seinen Impersonationen zählt, unterscheiden sich von diesen darin, dass sie an populäre literarische Genres anknüpfen, Die dunkle Seite des Mondes an den englischen mystery-Roman, Festival an den erotischen Roman. Die Verwicklungen und Thematiken werden jedoch so weit getrieben, dass sie die Grenzen dieser Genres überschreiten. Hierin zeigt sich auch die zeittypische Modernität des Erzählers Robert Neumann. Durch literarische Tricks – vor allem durch die Übersteigerung narrativer Verfahren – wird die Stabilität sowohl der erzählten Welt als auch der Identität der Figuren in Frage gestellt.

Dem anderen seine Äußerungen über sich selbst nicht zu glauben, weil sie interessegeleitet und daher nicht unbedingt wahrheitsgemäß sind, ist auch ein Effekt, den die Betrügerin und Hochstaplerin Olympia erzeugt. Dass Neumann eine Vorliebe für solche Figuren hatte, verdankt sich möglicherweise dem Umstand, dass sie das Lebensgefühl personifizieren, das er als Literat wie als Mensch der Moderne hatte. Die oben erwähnte Korrektur der väterlichen Todesumstände (vgl. Anm. 59) leitet Olympia mit einer kurzen Reflexion über den Komplex Vergangenheit/Erinnerung ein. In ihrer eigentümlichen Diktion: „Die Vergangenheit lebt! Sie modelliert sich ja doch mit jedem ihrer figürlichen Atemzüge nach unserer Gegenwart!“ (O, 14). Hier zeigt sich Neumanns modernes Verständnis davon, das sowohl in der Literatur als auch in der Literaturwissenschaft bis heute gängige Münze ist. Erinnerung ist manipulativ, und was man in Form einer historischen Aussage erfährt, ist aus diesem Grunde prinzipiell von zweifelhaftem Wahrheitswert. Das gilt sogar für die eigene Identität: „Wir sind, wer wir heute sind. Die Dame, die gestern meinen Namen und meine Kleider trug – gut, ich bin niemals kleinlich gewesen, es läge nicht in meiner Natur, ich bin willens, sie als eine entfernte Bekannte gelten zu lassen“ (ebd.). Die Pointe dieser Passage ist freilich, dass Olympia auch an dieser Stelle nicht das Sprachrohr des Autors ist, sondern ihre Prinzipienlosigkeit zum Ausdruck bringt, die nicht einmal vor ihrer Identität Halt macht. Dass diese Überzeugung zugleich eine Idee der künstlerischen Moderne ausdrückt, geschieht eher unfreiwillig.

In einem Nachruf zitiert Rudolf Walter Leonhardt (1975) am Ende zwei der letzten Sätze, die er von Neumann vernommen hat: „Was Ihre Generation von meinen Sachen hält, […] interessiert mich eigentlich nicht mehr so sehr. Aber wenn die Jungen meine Bücher wieder entdeckten, das wäre ein Spaß!“ – Zumindest im Zusammenhang mit der Geschichte des unzuverlässigen Erzählens (sowie der Geschichte literarisierter Mündlichkeit) gebührt Neumann ein wichtiger Platz in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Dass er ihn bislang noch nicht gefunden hat, hängt vielleicht auch mit seiner Frontstellung gegenüber der Gruppe 47 zusammen, die nach wie vor die Auseinandersetzung mit der Nachkriegsliteratur dominiert. So machte er sich über den einflussreichen Alfred Andersch lustig (vgl. Neumann 1959). Schwerwiegender und ernster waren seine Klüngel-Vorwürfe gegen die gesamte Gruppe (wobei er Andersch, Walser und andere, die sich bereits von ihr distanziert hatten, ausdrücklich ausnahm) im Zuge der konkret-Kampagne (Neumann 1966b). Wie sehr ihm das geschadet hat, lässt sich allerdings nicht sagen. Es wäre sicher zu einfach, dies als Grund dafür anzunehmen, dass er ins literaturgeschichtliche Abseits geriet. Aufschlussreicher ist gerade im Hinblick auf Andersch, dass er dessen unzuverlässig erzählten Roman Efraim später gegen Kritik und Antisemitismus-Vorwürfe in Schutz nahm (Neumann 1967; Stadler 2013, 253). Noch in einem Brief an Gisela Berglund vom 22.9.1970 erwähnt er den Roman im Zusammenhang mit potentiellen Kontinuitäten zum Nationalsozialismus als Ausnahme (Neumann 2013, 855). Ob er Andersch auch dann noch so wohlmeinend beurteilt hätte, wenn er um dessen Modifikationen seiner Vita gewusst hätte (s. u. Kap. IX), lässt sich freilich nicht mehr feststellen. Unabhängig davon, wie aufrichtig Andersch selbst war, ist es für den vorliegenden Zusammenhang jedenfalls bezeichnend und damit wohl auch kein Zufall, dass ein in Sachen Unzuverlässigkeit versierter Autor wie Neumann keine Schwierigkeiten mit der Erzählanlage von Anderschs Roman hatte.

4 Hermann Brochs Bergroman

Schließlich wurde auch im Nachlassroman von Hermann Broch der Anlage nach unzuverlässiges Erzählen entdeckt (Roche 1983). Es ist vielleicht eine Koinzidenz ohne größere Bedeutung, dass Broch in der Zeit der Konzeption des Romans mit Robert Neumann zusammentraf. Trotzdem soll das hier festgehalten werden, denn die Autoren tauschten sich auch über narrative Konzeptionen aus, und es ist immerhin auffällig, dass Brochs damals entstehende Verzauberung als homodiegetisch konzipiertes Werk sich „schärfstens von allen seinen anderen Romanen abhebt“ (Durzak 1978, 152).

Es sind wohl kaum gegensätzlichere literarische Charaktere als Broch und Neumann denkbar, jedenfalls gemäß der pointierten Darstellung von Neumann selbst (1963, 108–110). Hier der sich bescheiden gebende Nicht-Literat Broch, der sich angeblich als Philosoph sah, aber insgeheim, wie aus seinen Briefen hervorgeht, den Vergleich seines Werks mit dem von James Joyce nicht scheute; dort der damals eigenem Bekunden nach größenwahnsinnige und jedenfalls ehrgeizige Jungliterat Neumann, der sich aber später im Klaren darüber war, wie relativ literarischer Erfolg und literarische Qualität sind, und dessen Ironie auch vor sich selbst nicht Halt machte.Footnote 72

Neumann hielt sich in den Sommern 1935 bis 1937 in Altaussee auf und war mehrmals in Wien (Wagener 2007, 56 u. 84).Footnote 73 Mit Broch befand er sich in poetologischem Austausch, wie aus den Briefen hervorgeht, die sie wechselten. Nachdem Neumann ihm eine Zusammenfassung seines späteren Romans An den Wassern von Babylon geschickt hatte, antwortete Broch am 29. August 1937 offenbar unter Anspielung auf diese Gespräche und im Lichte seiner eigenen formbezogenen Kämpfe, dass und „wie sehr Sie sich mit dem Problem der Romanform herumschlagen“, und ahnte, „in welcher Richtung sich Ihre Lösung bewegt (die Lösung des doppelten, dreifachen, vierfachen Bodens einer publikumsadäquaten Geschichte)“ (Neumann 2013, 485).

Einen doppelten Boden hat Broch möglicherweise auch seinem eigenen Roman eingezogen, den er in dieser Zeit zu schreiben begann: Die Verzauberung, erster Teil einer geplanten Trilogie mit dem Titel Demeter. Laut Entstehungschronologie begann Broch mit der Ausarbeitung Anfang 1935. Im September zog er für zehn Monate in ein Tiroler Alpendorf, wo er die zwei ersten überlieferten Fassungen des Fragment gebliebenen Romans niederschrieb (Broch, KW 3).Footnote 74 Nur die erste Fassung schloss er ab, die unmittelbar im Anschluss begonnene zweite Fassung ließ er unvollendet. Erst im Jahr vor seinem Tod nahm Broch die Arbeit an dem Roman wieder auf und erstellte eine dritte Fassung, die er auch nicht mehr zu Ende bringen konnte. Publiziert wurde der Roman posthum im Jahr 1953 unter dem Titel Der Versucher. Dabei handelt es sich um eine Kompilation des vom Rhein Verlag bestellten Herausgebers Felix Stössinger, der in dieser Ausgabe einen Lesetext aus den verschiedenen Fassungen und weiteren Notizen zusammenstellte (vgl. Broch 1953).Footnote 75

Aus diesen Gründen ist eine Beurteilung des Romans schwierig. Interessant ist jedoch, dass sich Broch über die Rolle des Erzählers offensichtlich unschlüssig war, denn er änderte die Konzeption der Figur, hielt aber gleichzeitig an der für ihn ungewöhnlichen homodiegetischen Erzählweise fest. Erzählerfigur ist ein Landarzt, der sich über die nicht lange zurückliegenden Ereignisse im Alpendorf Kuppron Klarheit verschaffen will. Sie handeln von der „Verzauberung“ der Dorfbewohner durch Marius Ratti, einen Wanderprediger, der in dieser heute meist als Faschismus-Parabel verstandenen Geschichte antizivilisatorische Emotionen und Haltungen schürt.Footnote 76 Höhepunkt ist ein Menschenopfer, dem auch der Erzähler beiwohnt, ohne einzugreifen. Nicht so sehr an dieser Stelle aber erweist sich der Erzähler als unzuverlässig, denn er lässt gar keinen Zweifel daran aufkommen, dass er durch seine Erstarrung Unrecht getan hat. Überhaupt steht er Ratti durchgehend kritisch gegenüber, auch schon als erlebendes Ich. Nur während des Ritualmords ist er augenscheinlich nicht Herr seiner selbst.

Broch schreibt in einer Anfang 1936 entstandenen Inhaltsangabe, dass der Landarzt, „ohne daß er sich’s eigens eingesteht, von der ihm widerfahrenen Verhexung sowie von der nun geschehenen Enthexung“ wisse (KW 3, 381 f.). Auch wenn hier davon die Rede ist, dass der Arzt sich etwas nicht „eingesteht“, ist diese Charakterisierung nicht sehr eindeutig im Hinblick auf die Unzuverlässigkeit des Arzt-Erzählers. Erst in einer später auf Englisch verfassten Kurzbeschreibung äußert sich Broch recht eindeutig im Sinne einer Konzeption, der gemäß der Erzähler als unzuverlässig zu erachten ist: „The growth of this [Ratti’s] movement is reflected in the diary of the village doctor – a person of average intelligence – who believes himself to be an objective observer of psychological phenomena while failing to realize that he himself is gradually falling under the spell he has set out to record“ (KW 3, 386).

Worin besteht die Anfälligkeit des Erzählers für den Einfluss Rattis? Sie sei geprägt von einer unbewussten Faszination: „An der Oberfläche begegnet der Arzt Ratti mit einiger Abneigung, insgeheim aber fasziniert ihn die geheimnisvolle Gestalt, und er ertappt sich dabei, wie er Ratti beipflichtet“ (Reidy 2012, 16). Als Beispiel wird erwähnt, dass den Arzt Rattis Energie imponiere, mit der er vorgehe, etwa gegen Radioapparate. Dies ist jedoch ein eher schwächerer Beleg für die narrative Unzuverlässigkeit, denn dass der Arzt die Energie bewundert, heißt weder, dass er Rattis Vorgehen gutheißt, noch dass er insgeheim seinem Einfluss erliegt. Auch sein Versagen Dr. Barbara gegenüber, erzählt in einer Analepse, in der sich seine Beziehung zu einer kommunistischen Ärztin als eigentliche Ursache für seinen Rückzug aufs Land anbietet, hat nicht unbedingt etwas mit Ratti zu tun. Auffällig (wenigstens auf den zweiten Blick) aber sind einige Äquivalenzen zwischen Ratti und dem Erzähler. Im Vorwort des Erzählers, in dem er von den vermeintlichen Gründen für seinen Umzug aufs Land erzählt, „klingt in sophistizierterer Form der Hass auf Zivilisation, Urbanität und Fortschritt an, den Ratti später polternd vertritt“ (Reidy 2012, 15). Seine Wissenschaftsskepsis und seine Anti-Urbanität sind demnach der fruchtbare Boden, auf den Rattis Theorien fallen, wie bereits Roche (1983) feststellt. „Der Überdruß des Erzählers an vernünftigen Denkweisen führt […] zu seiner Bereitschaft, am Opfer Irmgards teilzunehmen“ (Roche 1983, 132).

Die Unzuverlässigkeit des Arztes ist, so gesehen, sehr subtil im Roman angelegt. In axiologischer Hinsicht ordnet er die Geschehnisse durchaus richtig – d. h. im Sinne Brochs richtig – ein, und seine Antipathie gegenüber Ratti ist eindeutig. Dennoch gibt es eine gewisse Affinität zwischen beiden. Das ist es, was dem Arzt möglicherweise entgeht. Eine genauere Einordnung muss sich an der Aussageabsicht Brochs messen lassen. Nicht dass der Arzt ist, wie er ist, soll der Grund für seine Unzuverlässigkeit sein, sondern seine mangelnde awareness für seine psychischen Anlagen, die die Voraussetzung dafür sind, dass er, wenn auch nur zeitweise – aber in einem ganz entscheidenden Moment –, der Massensuggestion durch Ratti erliegt. Wäre er sich seiner Schwäche bewusst, hätte er sich gegen den Massenwahn wappnen können.

Diese Interpretation steht und fällt mit der axiologischen Beurteilung der Ansichten des Arztes. Wenn, wie W. G. Sebald (1991, 121) meint, die „Interpretation der Ereignisse“ durch den Landarzt „die Billigung seines Autors hat“, dann erscheint der Schluss „auf eine in hohem Grad suspekte Ideologie“ des Romans (ebd., 219) naheliegend. Der Landarzt verkennt demnach die Ursachen faschistischer Ideologie, weil sie Broch selbst nicht richtig beurteile. Sebald ignoriert in seiner Darstellung die Hinweise auf die Unzuverlässigkeit des Landarztes. Gewiss gibt Broch dem Landarzt Empfindungen mit, die ihm selbst nahe sind. Gleichzeitig kann er aber diese Empfindungen axiologisch diskreditieren. In einem Brief an seine Übersetzerin Willa Muir vom 18. März 1935 macht Broch dazu am Ende eine aufschlussreiche Bemerkung:

Ich verstehe sehr gut, daß Sie es in der Stadt nicht länger aushalten. Wer wirklich arbeiten will, muß einen Baum sehen können oder einen Berg oder das Meer. Stadt ist furchtbar. Aber auch dies ist ein Symptom für das Zu-Ende-gehen der Kunst und des Geistes: denn alles Geistige und Künstlerische ist eigentlich städtische Funktion, ist es immer gewesen. Alles kehrt sich um, kehrt sich gegen sich selbst. (Broch, KW 13.1, 338)

Zu dieser Zeit hielt sich Broch noch in Laxenburg bei Wien auf und beklagte sich mehrfach über das Flachland. Ein halbes Jahr später siedelte er in das Tiroler Alpendorf über, das ihm die Eindrücke lieferte, die er dann dem Landarzt in den Mund legen konnte. Es spricht also einiges dafür, dass Broch selbst sozusagen antizivilisatorische Impulse fühlte, denn er sah sich selbst als Kind seiner Zeit, – diese Impulse aber ideologisch durchaus kritisch einschätzte. Insofern ist es plausibler, die Unreflektiertheit in Bezug auf sich selbst als Ausweis seiner Unzuverlässigkeit zu begreifen, als den Landarzt schlicht als Sprachrohr seines Autors zu sehen. Freilich, das sei abschließend betont, liegt die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit nicht offen zutage und steht zudem unter dem Vorbehalt der Fragmentarizität des Werks.Footnote 77

Dem gegenüber steht die Überlegung, dass es gerade Brochs Ziel gewesen sei, Uneindeutigkeit über die Werteverteilung und den Zusammenhang von Figurenhandeln und sozialer bzw. individueller Entwicklung herzustellen. Es gehe gar nicht um die Frage, ob der Erzähler unzuverlässig sei oder nicht, sondern darum, dass sich der Leser in den komplizierten Konflikt hineindenkt:

Unmöglich ist es, den Bericht des Arztes so zu neutralisieren, daß über die Aktivität Rattis und ihre Folgen ein eindeutiges Urteil zu fällen wäre. Es geht nicht an, den Roman in eine sich quasi objektiv gerierende Geschichtsschreibung zu verwandeln und die Person des Chronisten so zu eskamotieren, daß eine unwidersprüchliche und in ihrer politischen Diagnose klare Darstellung eines auch erzählbaren Zusammenhanges sich herauspräparieren ließe. Viel eher soll der Leser durch dieses Ich, das sich über sich selbst nicht im klaren ist, teilhaftig der Bedrohung und Faszination werden, die von Marius Ratti ausgeht. (Schmidt-Dengler 1986, 150)

Diese Festlegung stellt jedoch den fragmentarischen Charakter des Werks nicht in Rechnung. Warum Broch mit der ersten Fassung nicht zufrieden war, ist nicht ganz klar. Waren es Brochs eigene Widersprüche (das entspricht ungefähr Sebalds Interpretation), die er „nicht hat beseitigen können“ (Roche 1983, 144), oder fehlte es an einer Instanz im Roman, die den axiologischen Maßstab für die Beurteilung der nur vermeintlich positiven Figuren des Landarztes und der Mutter Gisson abgab? Die verschiedenen Texte geben für alle Positionen Argumente.

Möglicherweise ist das auch der Unterschied zwischen Broch und Neumann. Während die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanzen Neumanns offen auf der Hand liegt, ist zumindest der Erzähler in der Verzauberung einer, dem man aufgrund seiner intellektuellen Überlegenheit gegenüber den Dorfbewohnern sowie seinem grüblerischen Naturell viel Kredit einzuräumen geneigt ist. Dass er vielleicht als narrative Autorität über die anderen fungiert, nicht aber über sich selbst, zeigt sich nicht sogleich. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Literaturwissenschaft weiterhin über Brochs Texte nachdenkt, über die Texte Neumanns jedoch kaum.

5 Zur Frage nach einer Tradition des unzuverlässigen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur

5.1 Abbruch einer Tradition

Hermann Brochs Verzauberung ist, das kann man festhalten, bestimmt nicht traditionsbildend geworden. Nicht nur ist, wie erwähnt, der Roman untypisch für Brochs Werk insgesamt, das unzuverlässige Erzählen ist auch nur ziemlich schwach darin realisiert. Der Landarzt erzählt überwiegend zuverlässig. Im Vergleich dazu ist der Bezugsbereich seiner Unzuverlässigkeit recht gering. Der Fragmentcharakter des Werks, die darin vielleicht begründete Unentschiedenheit hinsichtlich der Profilierung der Erzählerfigur und der unklare Bewertungsmaßstab für die Axiologie des Erzählers tragen außerdem zu der geringen Signifikanz des Erzählverfahrens in dem Roman bei. Dass aber Broch während der Arbeit an der Verzauberung gerade mit Neumann im Dialog stand, in dem auch künstlerische Gestaltungsprobleme zur Sprache kamen, kann immerhin als Indiz für Brochs Berücksichtigung von Neumanns Erzählkonzeption und somit als Erklärung für sein temporäres Interesse an der Form des unzuverlässigen homodiegetischen Erzählens dienen.

So hat Broch möglicherweise, über Neumann vermittelt, wenigstens einen kleinen Anteil an einer Tradition, in der einige Autoren stehen, die man ansonsten nicht mit ihm in Verbindung bringen würde und deren Werk in nicht unbeträchtlichem Maß durch das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens geprägt ist. Auffälligerweise stammen auch sie aus Österreich und lassen sich damit einer Tradition zuordnen, die in Arthur Schnitzler einen ihrer deutschsprachigen Fix- oder sogar Ausgangspunkte hat. Wie wir bereits gesehen haben, bezieht sich Neumann ganz explizit auf Schnitzler, ohne ein reiner Epigone zu sein, denn er entwickelt die Technik sprachlich und motivisch fort, indem er, seiner Zeit entsprechend, seinen Geschichten ein anderes Milieu zugrunde legt und dieses Milieu eben auch durch seine besondere Sprache konturiert.

Neumann ist eher als Nachzügler dieser Tradition zu sehen, denn die anderen Autoren, die man dieser „Schnitzler“-Tradition zuordnen könnte, sind älter und gehören der Generation zwischen Schnitzler und Neumann an. Zu denken ist in erster Linie an Leo Perutz und Ernst Weiß, in deren Werk das unzuverlässige Erzählen einen großen Platz einnimmt. Aber auch so verschiedene Autoren wie Stefan Zweig, Franz Werfel und einige andere, Kafka etwa, lassen sich zumindest mit einzelnen Werken in diesem Zusammenhang nennen.Footnote 78

Von Perutz weiß man, dass er Schnitzler sehr schätzte. So verfasste er anlässlich der Verleihung des Grillparzer-Preises an Schnitzler 1908 ein Feuilleton, in dem er nicht zuletzt auf den ein Jahr zuvor erschienen Novellenband Dämmerseelen von Schnitzler einging, „der auch in technischen Fragen der Novelle Perutz’ großes Vorbild war“ (Müller 2007, 43).Footnote 79 Mindestens mit den beiden Erzählungen Andreas Thameyers letzter Brief und Die Weissagung enthält der Novellenband zwei geradezu vorbildliche Beispiele für das unzuverlässige Erzählen. Für Aurnhammer (2013, 131) ist die noch vor Leutnant Gustl im Jahr 1900 entstandene Brief-Erzählung gar „ein Meisterstück unzuverlässigen Erzählens, das […] die Möglichkeiten der Ich-Erzählung im Präsens bis an die Grenzen des Inneren Monologs forciert und in seiner doppelbödigen Strategie der Verdrängung und latenten Anklage seinesgleichen sucht.“

Anders als bei Perutz, für dessen Erzählen die Psychologie der Figuren keine große Rolle spielt, ist die Nähe zu bzw. die Aufgeschlossenheit für Sigmund Freuds Auffassung des menschlichen Geistes in literarischer Hinsicht immer auch ein Motor für das unzuverlässige Erzählen. Das gilt bereits für Schnitzler, aber auch für seine jüngeren Nachfolger, etwa Stefan Zweig. „Vermutlich hat Zweig von Schnitzler die Kunst und die Technik übernommen, die großen psychoanalytischen und metapsychologischen Themen erzählerisch darzustellen, die Freud in seinem Brief vom 14. Mai 1922 [an Schnitzler] ansprach: die Wahrheiten des Unbewussten, die Triebnatur des Menschen, die Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten […]“ (LeRider 2018, 50).

In dem genannten Brief spricht Freud auch von Schnitzlers „Skepsis – was die Leute Pessimismus heißen“ (zit. nach ebd.) und scheint damit weniger einen Hinweis auf die Technik als auf die Motivik zu geben. Dennoch lässt sich hier ein Zusammenhang herstellen.Footnote 80 Freuds Ausdruck „Skepsis“ bezieht sich auf die Intransparenz des Selbst. Diese kann man von außen motivisch darstellen, aber auch von innen, womit die Intransparenz Eingang in die Erzähltechnik findet bzw. in sie übersetzt wird, und eben dafür ist Schnitzler berühmt und darin hat er Nachfolger gefunden. Zu den Genannten ist Ernst Weiß hinzuzuzählen, der mit seinen späten Ich-Romanen zu dem Schnitzlerschen Erzählansatz einerseits zurückfand und ihn andererseits auch weiterentwickelte. So sind die Erzähler dieser Romane sich selbst intransparent, und zugleich ist diese Intransparenz in Teilen nicht mehr auflösbar (vgl. Kindt 2008, 211 f.).Footnote 81

Das unzuverlässige Erzählen scheint sich literaturgeschichtlich – mit Ausnahme von Neumann – nicht von hier aus in der Nachkriegszeit fortgesetzt zu haben. Autoren wie Leo Perutz oder Ernst Weiß wurden kaum mehr gelesen. Zwar erschienen von ihnen noch Werke aus dem Nachlass oder wurden neu aufgelegt, und Perutz, der den Holocaust überlebt hatte, publizierte mit Nachts unter der steinernen Brücke (1953) sogar noch selbst einen Roman; aber ihre besondere Erzählweise wurde damals noch nicht erkannt, geschweige denn gewürdigt.Footnote 82 Es wurde nicht verstanden, dass sie unzuverlässige Erzähler eingesetzt haben, sondern ihr Werk im Falle von Perutz als phantastische Literatur und damit als obsolete Spartenliteratur abgetan oder im Falle von Weiß’ fiktiven Autobiographien als Realismus im Stile des 19. Jahrhunderts missverstanden.Footnote 83 Demgegenüber haben vielgelesene Autoren wie Franz Werfel oder Franz Kafka unzuverlässiges Erzählen eher selten bzw. in ihren weniger stark rezipierten Werken eingesetzt, und insbesondere Kafka ist für andere Verfahren berühmt geworden.

Diese wenigen Hinweise dürften genügen, um zu belegen, dass es nicht abwegig ist, von einer Tradition des unzuverlässigen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur zu sprechen. Im gegebenen Rahmen kann dies nicht weiter ausgeführt werden. Sicherlich wird man weitere Autoren hier einreihen können. Entscheidend für die vorliegende Themenstellung indes ist die Frage, wie sich die hier untersuchten Werke zu dieser Tradition verhalten. Es ist nicht schwer zu sehen, dass die beiden wirkmächtigsten Autoren, Anna Seghers und Thomas Mann, keinen großen Anteil an dieser Tradition haben, sondern einem anderen Typus und damit einer anderen Tradition zuzuordnen sind. Somit lässt sich von einem Abbruch der skizzierten Tradition sprechen.

5.2 Ein Blick noch weiter zurück

Es versteht sich, dass die Rekonstruktion der formgeschichtlichen Entwicklung des unzuverlässigen Erzählens abhängig ist von dem Begriff, den man von dem Phänomen hat. Legt man der Rekonstruktion einen weit gefassten Begriff zugrunde, wird man den Beginn früher ansetzen; einigt man sich hingegen auf einen eng gefassten Begriff, ist der Zeitpunkt, an dem das unzuverlässige Erzählen als Verfahren identifizierbar wird, eher später zu sehen. Außerdem muss man berücksichtigen, dass man es nicht mit einem, sondern mit zwei Begriffen zu tun hat: dem axiologisch unzuverlässigen Erzählen einerseits und dem mimetisch unzuverlässigen Erzählen andererseits.

Da die Axiologie gemeinhin schwer genau zu ermitteln ist, wird man bei dieser Erzählform eher geneigt sein, strittige Fälle für positive Beispiele zu halten. Möglicherweise gibt es sogar einen forschungspsychologischen bzw. -praktischen bias bei der Feststellung von Unzuverlässigkeit. Damit ist gemeint, dass man dazu tendiert, das Phänomen, das man zu untersuchen sich zur Aufgabe gemacht hat, auch in seinem Korpus zu entdecken, selbst wenn man nach genauer Lektüre zu dem Schluss kommt, dass der Anfangsverdacht sich nicht bestätigt. Stellt sich am Ende nicht das erwartete Ergebnis heraus, hat man den ganzen Aufwand umsonst getrieben und viel Zeit verloren. Am Ende stünde ein negatives Ergebnis, und solche negativen Ergebnisse werden in der Literaturwissenschaft gewöhnlich nicht publiziert und nicht honoriert. Es ist daher aus der Sicht des Untersuchenden unter praktischen Erwägungen rational, den Begriff zu modifizieren, damit die getane Arbeit nicht verfällt, sondern eben für eine leicht veränderte Fragestellung weiter genutzt werden kann. Ob dieses Vorgehen der Wissenschaft dienlich ist, kann man für fraglich halten. Aber das zu beantworten ist nicht die Aufgabe, der hier nachgegangen wird.

Was das axiologisch unzuverlässige Erzählen angeht, gibt es diesem Vorbehalt zum Trotz selbst unter einem eng gefassten Begriff gute Gründe für die Annahme, dass es bereits im pikaresken Roman realisiert wurde, etwa in Grimmelshausens Courasche (1670) (vgl. Rademacher 2011). Das heißt aber selbstverständlich nicht, dass damit alle pikaresken Romane axiologisch unzuverlässig erzählt wären. Nur dort, wo auch das erzählende Ich noch unbekehrt und unbelehrbar ist, kann von unzuverlässigem Erzählen die Rede sein.

Geht man nun von einem eng gefassten Begriff des mimetisch unzuverlässigen Erzählens aus, dürften die Anfänge weitaus später liegen. Unter den ersten Autoren, die das Verfahren unstrittig angewendet haben, sind Edgar Allen Poe und Nikolaj Gogol’, bezeichnenderweise beides Autoren, die am Ausgang der Romantik dem Realismus in der Literatur den Weg ebneten.Footnote 84 In der russischen Literatur ist es vor allem Fëdor Dostoevskij mit seiner Vorliebe für borderline-Figuren, der dem von Gogol’ vorgezeichneten Weg des unzuverlässigen Erzählens weiter folgt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich in einzelnen Werken seiner frühen Schaffensphase noch romantische Ideen finden, die unter der Maßgabe des Realismus zum unzuverlässigen Erzählen führten. Man denke nur an das Doppelgänger-Motiv, für das in dem gleichnamigen Roman von Dostoevskij aus dem Jahr 1846 noch keine angemessene (literaturgeschichtlich gesehen) realistische, d. h. (in diesem Fall auch theoretisch gesehen) keine mimetische Erzählweise gefunden wurde.

Bekanntlich unterscheidet sich die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur im 19. Jahrhundert von der anderer Sprachkulturen. Das unzuverlässige Erzählen scheint hier keine allzu große Rolle gespielt zu haben.Footnote 85 Allenfalls einige Romane wie Stopfkuchen (1891) und Erzählungen wie Holunderblüte (1863) von Wilhelm Raabe sind m. E. Kandidaten, die für eine nähere Analyse in Frage kommen.Footnote 86 Es ist allerdings – wenn die Beobachtung richtig ist, dass das unzuverlässige Erzählen (im engen Sinne) historisch aus der literarischen Naturalisierung romantischer Weltvorstellungen erwachsen ist – kein Wunder, dass das unzuverlässige Erzählen in der deutschsprachigen Literatur zu einer Zeit stärkere Beachtung fand, die durch die Wiederentdeckung der Romantik charakterisiert ist und deshalb früher auch „Neoromantik“ genannt wurde. Und zwar waren es gerade Autoren, die sich kritisch mit als romantisch angesehenen Vorstellungen, wozu nicht zuletzt der Okkultismus zählte, auseinandersetzten. Zu diesen Autoren zählt Arthur Schnitzler, dessen Erzählungen Die Weissagung (1905) oder Das Tagebuch der Redegonda (1911) diesem Strang zugeordnet werden können. In der oben erwähnten Erzählung Andreas Thameyers letzter Brief (1902) ist es analog eine obskure wissenschaftliche Theorie, die die Funktion des Okkultismus in jenen Erzählungen übernimmt.

5.3 Ein Modell der Entwicklung mit einem Ausblick

Im Folgenden soll ein einfaches Modell skizziert werden, das es ermöglicht, einen formgeschichtlichen Strang des unzuverlässigen Erzählens zu bestimmen, der neben anderen Strängen verläuft (und sich mit den anderen Strängen mehr oder weniger verwickeln kann). Der Zweck des Modells ist, das unzuverlässige Erzählen mit verwandten Verfahren abzugleichen und dadurch eine Entwicklungshypothese zu generieren. Die Stränge sind, um das Bild etwas zu füllen, aufgebaut aus mehreren Fäden, die gewissermaßen die Konstanten sind. Ein Strang kann aus mehreren Fäden bestehen, die ihrerseits unterschiedlich dick sind. Übersetzt bedeutet dies: Ein Traditionsstrang setzt sich aus mehreren Werken zusammen, die (in einer bestimmten Hinsicht, also etwa mit Blick auf ein bestimmtes Erzählverfahren) einander ähnlich sind und in einer Kontaktbeziehung stehen. Die Fäden sind die literarischen Verfahren, die in den jeweiligen Werken mehr oder weniger stark realisiert sind (was der Fadenstärke entspricht). Auch ihre Anzahl innerhalb eines Strangs kann variieren. Das soll andeuten, dass ein Werk nicht nur durch ein Erzählverfahren charakterisiert ist, sondern durch mehrere. In diesem Modell sind die Konstanten also in Übereinstimmung mit seiner formgeschichtlichen Zielsetzung die jeweiligen literarischen Verfahren. Je nach Fragestellung kann man ein beliebiges Verfahren oder auch ein Element, etwa ein bestimmtes Motiv, in das Modell eingeben und seine Verteilung über mehrere Werke untersuchen.

Hier soll aber nicht einfach nur das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens in das Modell eingegeben werden. Die Pointe des Ansatzes ist hingegen, dass als konstante Fäden zwei allgemeinere Phänomene angenommen werden, die für das unzuverlässige Erzählen charakteristisch sind, aber auch für einige andere Verfahren. Der Sinn dieses Vorgehens liegt darin, dass dadurch das unzuverlässige Erzählen mit anderen Verfahren vergleichbar wird. Mit einem solchen Modell kann man die Verwandtschaft verschiedener Verfahren erklären und zugleich ihre jeweilige Besonderheit im Kontrast zueinander zeigen. Die spezielle Verknüpfung dieser beiden Fäden bildet sozusagen den Strang des unzuverlässigen Erzählens.

Die erste Konstante: Mehrfach habe ich im I. Kapitel die Reduktion des Erzählerprivilegs erwähnt, die eine Voraussetzung für das unzuverlässige Erzählen ist. Dieses allgemeine Phänomen lässt sich auch durch andere Verfahren erreichen, allen voran durch die Usurpation der Erzählerrede durch die Figurenrede: durch interne Fokalisierung bzw. Dominantsetzung der Figurenperspektive, erlebte Rede usw. Mit Bezug auf das Bild zur Veranschaulichung des Modells könnte man von Fasern sprechen, aus denen die einzelnen Fäden bestehen.

Die Effekte, die damit verbunden sind, ziehen nach sich, dass durch die eingeschränkte Perspektive einer Figur einerseits die Bewertung dem Leser überlassen wird und andererseits auch nicht mehr die ganze Wahrheit präsentiert wird. Der Leser muss das ergänzen. Das unzuverlässige Erzählen ist, so gesehen, als Radikalisierung dieser Reduktion zu betrachten. Nicht nur wird zu wenig Information geboten, sondern eben auch falsche Information. Damit die Effekte zur Geltung kommen, müssen die fraglichen Eigenschaften jedoch im Prinzip identifizierbar sein. Die prinzipielle Erkennbarkeit der Welt steht also ebenso wenig in Frage wie eine vereindeutigende Interpretation hinsichtlich derjenigen Sachverhalte oder Werte, die von der Erzählinstanz falsch dargestellt werden.

Die zweite Konstante ist die Reduktion der Intelligibilität der erzählten Welt. Hier sind es in erster Linie Verfahren der Symbolisierung, Fragmentarisierung und Ambiguisierung, die das Ziel haben, den Zugang zur erzählten Welt so zu erschweren, dass bestimmte Eigenschaften nicht mehr eindeutig bis überhaupt nicht mehr identifizierbar sind. Anders als bei der ersten Konstante sind hier Offenheit und Vagheit typische Effekte.

Dies sind nicht die einzigen Konstanten. Davon unterscheiden lassen sich anti-mimetische Verfahren, die allerdings weniger narrative als thematische Mittel sind, etwa die gewissermaßen unrealistische Zusammensetzung der erzählten Welt. Diese Verfahren kommen zwar in den bislang betrachteten Werken nicht zur Anwendung und sind auch, wie in Kap. I dargelegt, mit dem unzuverlässigen Erzählen schlecht vereinbar; für viele Werke der Nachkriegsliteratur muss dieser Traditionsstrang aber dennoch berücksichtigt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass diese Konstanten auch miteinander kombiniert werden können. Sie schließen einander nicht aus. In Bezug auf bestimmte Eigenschaften der erzählten Welt kann ein Roman unzuverlässig erzählt sein und in Bezug auf andere ambig, und als drittes Moment kann auch eine partiell anti-mimetische Erzählweise hinzukommen.

Wenn man die Beispiele des zurückliegenden Kapitels Revue passieren lässt, kann man mit Hilfe dieses Modells sehen, dass in Neumanns Werken die Reduktion des Erzählerprivilegs besonders ausgeprägt ist. Eine Reduktion der Intelligibilität der erzählten Welt lässt sich zwar auch bemerken, insofern die Verwicklungen sehr weit getrieben werden, dass es Mühe kostet, sie zu durchschauen; aber diese Reduktion scheint eher eine in Kauf genommene Folge der Erzähltechnik zu sein als ästhetisches Programm. In den Romanen von Hermann Broch, Thomas Mann und Anna Seghers hingegen ist die Reduktion des Erzählerprivilegs nicht sehr stark. Sie verdankt sich vor allem der Subjektivität der Ich-Erzähler. In weiten Teilen verfügen sie aber durchaus über die epistemische Autorität über die von ihnen erzählten Ereignisse. Wie dargelegt, gibt es allenfalls die Axiologie der Erzähler betreffend hier und da berechtigte Zweifel an ihrer Verlässlichkeit. Auch die Reduktion der Intelligibilität der erzählten Welt ist nicht allzu weit getrieben. Was sich bei ihnen zeigt, ist höchstens, dass die Handlungsmotive der Erzähler nicht vollständig ermittelbar sind, sondern dass Raum für mehrere Deutungen gegeben wird.

Mit Blick auf die Ergebnisse der folgenden Studien kann man sagen, dass der Typus des unzuverlässigen Erzählens in Reinform nur in einer recht eng umgrenzten Tradition anzutreffen ist, und zwar in der Tradition, die von Max Frisch neu begründet wurde und in der jüngere Autoren aus der Schweiz stehen wie Walter Matthias Diggelmann, Walter Vogt und Otto F. Walter, aber auch Alfred Andersch, der mit Efraim direkt an Frischs Erzählweise anknüpft. Wie in Kap. I bereits erwähnt und in Kap. IV ausgeführt, spricht einiges dafür, dass ein wesentliches Movens für diese Entwicklung Frischs Idee war, Brechts antiillusionistische Theatertheorie auf die Prosa zu übertragen. Interessant ist vor diesem Hintergrund, dass im selben Jahr wie Frischs Stiller (1954) mit Erwin Strittmatters Tinko ein Beispiel unzuverlässigen Erzählens in der DDR von einem Autor vorgelegt wurde, der ebenfalls eng mit Brecht zusammenarbeitete und das unzuverlässige Erzählen, vermutlich in unikaler Weise, im Sinne des Marxismus einsetzte. Demgegenüber kann man sagen, dass in der DDR mit dem literaturpolitisch vorgeschriebenen Realismus-Gebot das unzuverlässige Erzählen durch die Mimesis-Präsumtion eine Möglichkeit war, die Ideologie des sozialistischen Realismus zu unterlaufen. Daher wurde es später von den Autoren immer öfter verwendet. Dies erklärt im Übrigen auch, warum die schweizerische Literatur in der DDR vergleichsweise wohlgelitten war.

Im Gegensatz dazu sind weite Teile der bundesdeutschen und der österreichischen Nachkriegsliteratur stark durch die Reduktion der Intelligibilität der erzählten Welt und anti-mimetische Erzählweisen geprägt. Das unzuverlässige Erzählen scheint mir hier häufig ein Sekundär- oder Epiphänomen zu sein, wie ich an mehreren Beispielen zeigen werde. Die Reduktion des Erzählerprivilegs geht einher entweder mit einer starken Reduktion der Intelligibilität der erzählten Welt oder aber mit einer zumindest partiell anti-mimetischen Erzählweise. Ein Epiphänomen ist es überall dort, wo es sich offenbar unabsichtlich oder gewissermaßen unentschieden realisiert und von andersartigen Erzählpoetiken (etwa dem Nouveau Roman) überlagert wird, ein Sekundärphänomen dort, wo es sich zwar als intendiertes Verfahren nachweisen lässt, aber ebenfalls durch die Dominanz anderer Verfahren häufig unerkannt geblieben ist. Ein Beispiel für das unzuverlässige Erzählen als Sekundärphänomen stammt von Arno Schmidt, bei dem es durch die Artifizialität der Prosa sowie durch eine metaliterarische Anlage in seiner Effektivität stark reduziert wird. Ein Epiphänomen ist es hingegen z. B. in Thomas Bernhards Frost (1963), wo es sich unter Beachtung der Mimesis-Präsumtion nachweisen lässt, die jedoch keineswegs zwingend für den Roman gilt.