Am Schluss ist es vielleicht erlaubt, etwas zur Genese dieses Buches zu sagen. Ursprünglich geplant war eine spezielle, selektive Literaturgeschichte der DDR: nämlich anhand des unzuverlässigen Erzählens. Bis auf einige Ausnahmen galt und gilt die Erzählliteratur der DDR als konformistisch und uninteressant. Ziel der literaturgeschichtlich orientierten Darstellung des unzuverlässigen Erzählens in der DDR war, diese Ansicht zu widerlegen, indem mit Hilfe der Kategorie gezeigt wird, dass manche Romane komplexer sind, als eine schnelle, oberflächliche Lektüre vermuten lässt und dass auch der Hinweis auf den politischen Konformismus mancher Autoren kein hinreichender Grund für die literarische Aburteilung ist.

Als Leitgattung des sozialistischen Realismus stand gerade der Roman in der DDR unter besonderer Beobachtung. Entsprechend wurde am mimetischen Erzählen weitgehend festgehalten. Eine Möglichkeit, dieses Postulat zu konterkarieren, war die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanzen. Und tatsächlich lässt es sich nachweisen, und zwar nicht erst in den letzten Jahren der DDR, als die Literatur trotz des durch den Weggang zahlreicher renommierter Autoren bedingten Aderlasses sich immer mehr Freiheiten erkämpfte. Schon früh gab es dieses Phänomen auch in der DDR-Literatur. Meine literaturgeschichtliche Hypothese war und ist noch immer, dass sich die Funktion im Laufe der Zeit änderte. Während es zunächst im Geiste des Marxismus eingesetzt wurde, verkehrte es sich später ins Gegenteil. Vordergründig parteiliche Erzählinstanzen konnten auf diese Weise eine subversive Botschaft transportieren.

Doch ist es nach wie vor schwierig, die Literaturwissenschaft für die DDR zu interessieren, und so änderte ich die Konzeption meines Projekts, indem ich sie auf die ganze deutschsprachige Literatur ausweitete und den Zeitraum eingrenzte. Zwei Dinge zeigten sich schnell. Um literaturgeschichtliche Tiefenschärfe zu erhalten, musste ich, erstens, den Blick auch auf die Zeit vor 1945 richten: darum das ausführliche II. Kapitel. Zweitens war die Diagnose unzuverlässigen Erzählens oftmals nicht so unproblematisch wie ursprünglich angenommen, so dass auf einzelne umfangreiche Texte viel mehr Zeit und Mühe verwendet werden musste als gedacht. Darum auch sind alle Textanalysen dieses Bandes umfangreicher geworden als geplant. Aber Sorgfalt hat ihren Preis, und ich habe die Hoffnung, dass die Haltbarkeit der Ergebnisse sich dadurch umso mehr verlängert und ihre Validität steigert.

Dieses Schlusskapitel soll die Untersuchung in zwei Schritten abrunden: mit einem Resümee des Erreichten und mit einem Ausblick in Form von kürzeren und einer längeren exemplarischen Analyse von Texten der DDR-Literatur auf das, was noch zu leisten ist.

1 Epilog: Rückblick auf das unzuverlässige Erzählen nach 1945

Die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchungen können nicht in eine einzige, alles zusammenfassende These gebündelt werden. Auf der Basis der vielen Einzelheiten lassen sich immerhin wenige grobe Linien durch die Literaturgeschichte ziehen. Zunächst aber zu der Frage, was für Typen von Ergebnissen diese Arbeit erbracht hat.

In den Fällen vielgelesener Texte wurden nicht nur Klärungen mit Blick auf die teils uneinheitlichen, teils nur an Oberflächenphänomenen orientierten Zuschreibungen narrativer Unzuverlässigkeit herbeigeführt, sondern auch neue Aspekte mit Blick auf die Interpretation dieser Texte erarbeitet. Der andere Teil von Analysen ist weitgehend vergessenen Texten gewidmet, deren weiterer Erschließung damit der Boden bereitet wird. Insgesamt geben die Studien, die auch jeweils für sich stehen können, einen Überblick über die Verteilung des unzuverlässigen Erzählens im angegebenen Zeitraum und bestätigen die These, dass es zwei voneinander unabhängige Stränge des unzuverlässigen Erzählens gibt. Der eine wird von Robert Neumann verkörpert und endete mit ihm, der andere von Max Frisch, an dem nicht nur einige jüngere Autoren aus der Schweiz anknüpften, sondern auch, wie im letzten Kapitel gezeigt, Alfred Andersch. Demgegenüber ist das unzuverlässige Erzählen in Werken, die aus der Gruppe 47 hervorgegangen sind, nur schwach ausgeprägt.

Die Vorstellung, die sich hinter dieser Sichtweise verbirgt, habe ich im Kap. II.5.3. zu modellieren versucht. Mir stellt sich die Entwicklung des unzuverlässigen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts so dar, dass es einen Traditionsstrang gibt, der bei Arthur Schnitzler einsetzt. Gebildet wird dieser Strang von auffällig vielen Werken, deren Autoren sich Schnitzler künstlerisch verpflichtet fühlten. Das trifft auch noch auf Robert Neumann zu, der diese Erzählweise bis in die Nachkriegszeit praktizierte, aber selbst keinen Anknüpfungspunkt mehr bildete, weil die Vorlieben sich änderten. Das dem unzuverlässigen Erzählen zugrunde liegende Verfahren, das in der Reduktion des Erzählerprivilegs besteht, wurde entweder anders umgesetzt (also nicht vorzugsweise durch falsche, sondern durch vage oder fragmentarisierte Sachverhaltsdarstellungen) oder ganz ersetzt (durch instabile Welten und die Reduktion des mimetischen Erzählens etc.).

Eine der literarischen Strömungen, die die Vorkriegs- mit der Nachkriegsliteratur verbinden, ist der sog. Magische Realismus. Es ist nicht bekannt, dass er eine besondere Affinität zum unzuverlässigen Erzählen hätte. Im Gegenteil, es ist zu erwarten, dass wohl die wenigsten Werke, die dieser Strömung zugeordnet werden können, unzuverlässig erzählt sind. Das hat seinen guten Grund. Er liegt darin, dass es weniger die Reduktion des epistemischen und axiologischen Erzählerprivilegs ist, was die Werke des Magischen Realismus charakterisiert, als vielmehr die Reduktion des mimetischen Anspruchs zugunsten einer – aus der Sicht der Autoren – höheren Wahrheit. Dass die Kategorie des unzuverlässigen Erzählens trotzdem relevant auch für die Interpretation solcher Werke sein kann, zeigen die Analysen von Werken des vergessenen Autors Heinz Risse. Auch wenn sich seine Erzähler letztlich als zuverlässig erweisen, steht doch außer Frage, dass der Autor Signale für ihre Unzuverlässigkeit kalkuliert einsetzt.

Die Werke des mit Heinz Risse zeitweise verbundenen Hans Erich Nossack gehören ebenfalls in den Umkreis des Magischen Realismus. An seinem bekanntesten Roman Spätestens im November kann man sehen, dass die „magischen“ Elemente in eine mimetisch unzuverlässig erzählte Geschichte eingebettet sein können. Auch jenseits des Magischen Realismus, im Frühwerk von Arno Schmidt, in dem der mimetische Anspruch teilweise reduziert ist, wird man fündig. Schließlich kann man insbesondere an Thomas Bernhards erstem Roman Frost die Erkenntnis gewinnen, dass die Zuschreibung von mimetischer Unzuverlässigkeit davon abhängt, wie man den mimetischen Charakter der erzählten Geschichte bewertet. Frost gibt für beide Interpretationsansätze jeweils gute Gründe.

Die zuletzt genannten Autoren waren alle Einzelgänger oder hielten sich dafür. Das fällt auf, hat aber im vorliegenden Zusammenhang nichts zu sagen. Dass sie sich von der Gruppe 47 ferngehalten haben, ist nur ein kontingenter Faktor. Thomas Bernhard hätte nichts dagegen gehabt, eingeladen zu werden. Was sie bzw. die von ihnen in Betracht gezogenen Werke bei aller Unterschiedlichkeit vereint, ist etwas anderes. Die Reduktion des mimetischen und axiologischen Erzählerprivilegs scheint mir vor dem Hintergrund ihrer anderen Werke eine Ausnahme zu sein. Der Werkgruppe ist stattdessen eigen, dass der mimetische Anspruch insgesamt reduziert ist. (Fiktionalisierte) Tatsachenwahrheit wird einer alternativen literarischen oder, wie auch immer gearteten, höheren Wahrheit geopfert und das Spiel mit der Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz dieser untergeordnet. Daher ist das unzuverlässige Erzählen hier eine Ausnahme. Es stiftet keine eigene Tradition.

Demgegenüber lässt sich bei Max Frischs ersten Nachkriegsromanen der Beginn einer neuen Tradition des unzuverlässigen Erzählens ansetzen. Diese These muss man nach zwei Seiten hin absichern: hinsichtlich der Vergangenheit und hinsichtlich der Zukunft. Eine neu einsetzende Tradition fängt mit diesen Romanen an, weil Frisch sich, nach allem, was man weiß, nicht an Autoren orientierte, die man gewöhnlich mit Schnitzlers Erzählkunst in einen Zusammenhang bringt. Außerdem hat er nicht von Anfang an unzuverlässig erzählt, sondern erst an einem bestimmten Punkt seiner literarischen Entwicklung: nach der Bekanntschaft mit Brecht und in der Folge seines USA-Aufenthaltes. Alles spricht dafür, dass den Romanen eine neu erdachte Konzeption zugrunde liegt – die, technisch gesehen, freilich nicht neu war.

Dass sich daraus dann etwas entwickelte, was man eine Tradition nennen kann, ist darin begründet, dass mehrere jüngere Autoren, die alle aus der Schweiz kommen und in einem positiven Verhältnis zu dem älteren Frisch stehen, sich ebenfalls dieses Verfahrens bedienten, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und mit eigenen Schwerpunkten. Wie zuletzt gezeigt, schließt mit Andersch daneben auch ein Autor derselben Generation ganz bewusst an Frisch an.

Eine Voraussetzung, auf der die vorliegenden Untersuchungen basiert, ist ein enger Begriff des unzuverlässigen Erzählens. Der Vorteil liegt darin, dass das unzuverlässige Erzählen im engen Sinne vergleichbar wird mit verwandten, aber eben nicht identischen Erzählweisen, die charakteristisch sind für modernes Erzählen. Damit komme ich noch einmal auf das Modell literarischer Traditionsstränge zurück. Wie gesagt, lässt sich in dessen Längsschnitt, also im zeitlichen Verlauf der Traditionsstränge zeigen, dass es eine Tradition gibt, dessen Strang in der Zeit des Nationalsozialismus abbricht und dann mit Max Frisch nach dem Krieg neu einsetzt, weil er sich an anderen Konzeptionen orientierte. Robert Neumann ist einer der wenigen Autoren, die dem älteren Traditionsstrang zugehört und diesen in die Nachkriegszeit fortsetzt. Anerkennung hat er dafür bislang nicht gefunden, was sicherlich auch daran liegt, dass die Tradition des unzuverlässigen Erzählens bislang als solche nicht identifiziert wurde, obwohl mehrere Untersuchungen zu einzelnen älteren Autoren wie Leo Perutz und Ernst Weiß vorliegen. Abgesehen davon, dass es gar nicht so wenige Fälle gibt, in denen die Unzuverlässigkeit des unzuverlässigen Erzählens lange nicht erkannt wurde und daher nicht berücksichtigt werden konnte, ist ein Grund, warum diese Traditionslinie kaum beachtet wurde, meines Erachtens darin zu sehen, dass diese Tradition insgesamt auch in der literarischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik und infolgedessen in der Literaturwissenschaft im Schatten einer anderen Tradition lag.

Damit komme ich zu der anderen Dimension des Modells, nämlich zu seinem Querschnitt. Der andere Traditionsstrang, der so viel mächtiger ist, besteht aus Werken, in denen das Erzählen nicht nur problematisiert, sondern seine Möglichkeit geleugnet wird. Beim unzuverlässigen Erzählen wird das Erzählen als Vorgang nicht in Frage gestellt, sondern nur sein Gehalt. Demgegenüber wird in der anderen Tradition mit dem erzählten Gehalt auch das Erzählen selbst als unangemessen ausgewiesen. Um diese beiden Erzählkonzeptionen gut auseinanderhalten zu können, ist ein enger Begriff des unzuverlässigen Erzählens nützlich. Beide Stränge teilen eine Komponente, sind durch einen gemeinsamen Faden miteinander verbunden: die Reduktion des Erzählerprivilegs. Dieser Faden fasert sich gewissermaßen in unterschiedlicher Stärke auf. Im unzuverlässigen Erzählen geht das Erzählerprivileg dadurch verloren, dass die Erzählinstanz Falsches oder Unrichtiges erzählt. Im zunächst personalen Erzählen hingegen verstummt die Erzählinstanz mehr und mehr und delegiert mehrere Standpunkte an die Figuren, bis das Erzählen als solches überhaupt in Frage gestellt wird, indem die Erzählbarkeit der Welt als unmöglich behauptet wird.

Ich sehe einen fundamentalen Unterschied zwischen einem Erzählen, dessen mimetischer (oder axiologischer) Anspruch im Prinzip erhalten bleibt, und einem Erzählen, das diesen Anspruch verabschiedet. Aus diesem Grund habe ich in der Definition die Komponente eliminiert, der gemäß unentscheidbare Sachverhalte auch als Grund für die Unzuverlässigkeit einer Erzählinstanz gelten können. Das heißt nicht, dass unzuverlässig erzählende Texte nicht auch unentscheidbare Sachverhalte beinhalten können; es heißt nur, dass diese nicht der Grund für die Unzuverlässigkeit sind.

Es gibt weitere mögliche Gründe, warum das unzuverlässige Erzählen so lange im Schatten gestanden hat. Ich denke, dass dieser Traditionsstrang schlanker ist. Entsprechend dem Bild zur Veranschaulichung besteht er hauptsächlich aus der Reduktion des Erzählerprivilegs. Der andere Traditionsstrang ist dicker und enthält mehrere andere kräftige Fäden: die Reduktion der Intelligibilität und die Reduktion des mimetischen Anspruchs. Die darin involvierten literarischen Verfahren führen dazu, dass diese Texte an narrativer Kohärenz und kognitiver Zugänglichkeit einbüßen, jedenfalls für nicht-professionelle Leser. Ein nicht untypischer Fall ist, um langsam zum nächsten Abschnitt überzuleiten, Nachdenken über Christa T. (1969) von Christa Wolf, ein Wendepunkt in der Literatur der DDR, wirkmächtig aber zunächst vor allem über die Bundesrepublik, wo es wohl nicht zuletzt auch deshalb viel Anklang fand, weil damit die DDR-Literatur nach dem ihr verloren gegangenen Buch von Uwe Johnson, Mutmassungen über Jakob, zu einer Erzählkonzeption fand, die sich dem, was in der Bundesrepublik üblich war, annäherte. Hier wird das Erzählen in ein Nachdenken überführt, das seine eigene Vorläufigkeit ausstellt und damit die Intelligibilität der erzählten Welt und ihre Darstellbarkeit teilweise in Zweifel zieht. So heißt es im siebten Kapitel: „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen. Wenn man es aber erzählen kann, wie es war, dann ist man nicht dabeigewesen, oder die Geschichte ist lange her, so daß einem Unbefangenheit leichtfällt. Allein daß man trennen muß und hintereinanderreihen, um es erzählbar zu machen, was in Wirklichkeit miteinander vermischt ist bis zur Unlösbarkeit…“ (N, 82). Die Erzählerin „erzählt“ im Rückgriff auf Dokumente aus der Hand von Christa T., etwa einen nicht abgeschickten Brief. „Ich erfinde ihn nicht, aber ich erlaube mir, ihn zu kürzen, zusammenzurücken, was bei ihr verstreut ist“ (N, 90). Den Lesern wird etwas vorenthalten, und es ist unmöglich, die Anteile der Erzählerin an dem, was folgt, genau zu bestimmen. Offenkundig kommt es auf etwas anderes an als im Falle narrativer Unzuverlässigkeit.

Mein Name sei Gantenbein ist ein Beispiel, mit dem auch Frisch das unzuverlässige Erzählen in dieser Richtung hinter sich zu lassen versucht. Das heißt, auch beim späteren Frisch zeigt sich, was ansonsten ein weiteres der Ergebnisse dieser Untersuchung ist: Unzuverlässiges Erzählen selbst im strengen Sinne geht gar nicht so selten mit der anderen Erzählform einher.

2 Prolog: Ausblick auf das unzuverlässige Erzählen in der DDR

Offiziell galt in der DDR die Literaturdoktrin des sozialistischen Realismus. Seine Vorgaben konnten durchaus flexibel gehandhabt werden, und im Lauf der Jahrzehnte wurde sie immer unwichtiger. Sie war aber immer geeignet, politisch missliebige Werke nach Bedarf auszusondern. Die Vorgaben dieser Doktrin waren so gefasst, dass die Behörden sich auf sie berufen konnten, um die Veröffentlichung zu verhindern. Eine dieser Vorgaben ist das Realismus-Postulat.Footnote 1 Es steht mit einer der Voraussetzungen des unzuverlässigen Erzählens in inniger Beziehung: der Mimesis-Präsumtion. Eine These, die sich aus dieser Nähe ergibt, ist, dass für jene Autoren, die die Vorgaben des sozialistischen Realismus unterlaufen wollten, das unzuverlässige Erzählen ein geradezu ideales Verfahren war, um die Vorgaben an der Oberfläche zu wahren und sie zugleich untergründig in Frage zu stellen. In der Tat gibt es dafür zahlreiche Beispiele. Je älter die DDR wurde, umso stärker häuften sich die Beispiele.

Auch in der frühen DDR gibt es bereits Beispiele für das unzuverlässige Erzählen, wenn die Anzahl auch überschaubar ist. Charakteristisch ist indes, dass in diesen Beispielen der Zweck des unzuverlässigen Erzählens nicht, wie später, darin lag, die offiziell erwünschten Normen zu unterlaufen, sondern, umgekehrt, „bürgerliche“ Normen zu diskreditieren.

2.1 Die Unzuverlässigkeit des Reaktionärs: Frühe Beispiele von Hermlin und Strittmatter

Dass für Arno Schmidt Ambrose Bierce’ Erzählung The Occurrence at Owl Creek Bridge von Bedeutung war, konnte bereits verbucht werden. Und schon einer der frühen Meister des unzuverlässigen Erzählens, Leo Perutz, ist durch diese Schule gegangen, wie man an Zwischen neun und neun sehen kann. So ist es letztlich keine Überraschung, dass man auch am Beginn der DDR-Literatur auf den Namen des Amerikaners trifft – vor Beginn der DDR-Literatur, muss man korrekterweise sagen, denn Stephan Hermlins Erzählung Der Leutnant Yorck von Wartenburg (1945) gehört noch der Exilliteratur an. Inspiriert ist sie vom Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 und entstanden um die Jahreswende 1944/45, wie Hermlin in einem Brief erläutert (Durzak 1979, 84). Streng genommen, gehört sie also nicht zur DDR-Literatur. Da aber ihr Autor als DDR-Schriftsteller bekannt ist und er von Beginn an eine die DDR-Literatur prägende Gestalt war, ist es nicht verkehrt, sie hier zu berücksichtigen.

Im Unterschied zu Arno Schmidts Adaption in Gadir ist Hermlins Umsetzung insofern näher am Original, als sie die heterodiegetische Erzählkonzeption des Bierce-Textes beibehält. Nur ihr eigen ist die antifaschistische Haltung, die von Anfang an zum Ausdruck kommt. Über die Axiologie herrscht kein Zweifel. Ein signifikanter Unterschied zum Original besteht zudem in dem physikalisch plausibler gestalteten Übergang von innerer Wahrnehmung zur Halluzination. Im Gegensatz zu Peyton Farquhar, dessen Tod augenblicklich durch Genickbruch erfolgt, wird Yorck von Wartenburg wie seine Mithäftlinge aufgrund eines Schraubenmechanismus stranguliert, der die Todesqualen verlängert. Die Atemnot wird durch Lockerung des Mechanismus immer wieder kurz gelindert, so dass die Schilderung von Yorcks Qualen mehr Platz eingeräumt wird. Irgendwann bemerkt er am Rande der völligen Erschöpfung, dass er länger atmen kann als bisher. Als er unter großen Anstrengungen seine Augen öffnet, sieht er, dass die Henker tot am Boden liegen, und spürt, wie er vom Galgen befreit wird. Es folgt die lange Vision seiner Befreiung mit der Reise in die Sowjetunion. Wie sich am Ende herausstellt, ist das nicht wahr. Man kann es so auffassen, dass die Erzählung an dieser Stelle mit Hilfe des bekannten Fokalisierungstricks etwas Falsches zu verstehen gibt. Am Ende ist Yorck nicht tot, sondern versteht sogar noch, dass er halluziniert hat, als er bemerkt, dass der Henker die Schraube zum letzten Mal anzieht.

Nicht mimetische, sondern axiologische Unzuverlässigkeit charakterisiert das nächste Beispiel. Erwin Strittmatters Tinko (1954) ist homodiegetisch erzählt. Erzähler ist ein Kind namens Martin Kraske, das bei seinem aus marxistischer Sicht reaktionären Großvater aufwächst und über weite Strecken unter dessen Einfluss steht. Seinem Vater, der lange in der Sowjetunion war, ist er entfremdet. Er nennt ihn nur den „Heimkehrer“. In der Axiologie des Romans ist jedoch gerade der Vater der positive Held, den der sozialistische Realismus forderte. Er hat aus der Sowjetunion neue landwirtschaftliche Methoden mitgebracht, für die er in der Dorfgemeinschaft wirbt. Insbesondere der Großvater stemmt sich gegen jegliche Neuerungen, und Tinko ist sich mit ihm in der Ablehnung des „Heimkehrers“ lange einig. Auch hat er vor allem Unsinn im Kopf, ist schlecht in der Schule und leidet zugleich unter der Ausbeutung des Großvaters. Erst unter dem Einfluss des engagierten Dorfschullehrers erlangt Tinko mehr Verständnis und entwickelt sich langsam zu einer sozialistischen Persönlichkeit. Erst an dieser Stelle nähert sich Tinko in seinen Äußerungen der Axiologie an, die man für die erzählte Welt als gültig annehmen muss.

Im Vergleich zu anderen Romanen der Zeit ist Tinko von erheblichem sprachlichem Interesse. Die Romanfiguren sind nicht ganz so holzschnittartig in Gut und Böse eingeteilt, wie man es aus zeitgenössischen Romanen sonst kennt. Insbesondere der Großvater ist mit seinem Hang zu Wortspielen und Reimereien, die Tinko gern übernimmt, nicht nur negativ dargestellt, sondern eine durchaus eigenwillige Figur, die nur der falschen Weltanschauung anhängt und deshalb dem Untergang geweiht ist. Ein weiterer Aspekt, der den Roman heraushebt, ist eben in der Unzuverlässigkeit seines Erzählers zu sehen.

Blickt man zurück auf die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, so mag es im Übrigen von Bedeutung sein, dass Strittmatter in der Entstehungszeit eng mit Bertolt Brecht zusammenarbeitete, aus der das Stück Katzgraben (1953) hervorgegangen ist. Die Erzählposition in Tinko verfremdet die Axiologie, und so kann man aufgrund der Koinzidenz darauf schließen, dass Brecht für Strittmatters Erzählen in Tinko ähnlich prägend war wie für Frischs in seinen Romanen.

Der Verfremdungsaspekt trieb auch eine Rezensentin um, die das Buch einerseits beeindruckte, aber auch befremdete. Die junge Christa Wolf widmete dem Buch, das in zwei Verlagen zugleich erschien (Aufbau und Kinderbuchverlag), eine ausführliche Besprechung (Wolf 1955). Ihr Zwiespalt lässt sich an dem von ihr partiell bemerkten unzuverlässigen Erzählen deutlich machen. Für sie besteht die besondere Qualität von Tinko darin, dass das Werk nicht der sozialistisch-realistischen Poetik der Plakativität folgt, sondern Spielräume öffnet: „Es hinterläßt nicht jenes beklemmende Gefühl im Leser: Nun ist alles in Ordnung. Ein solches Gefühl tötet wie ein chemisches Gift das Leben der Menschen in einem Buch, es sterilisiert alle Keime, die fruchtbar im Leser weiterwachsen könnten“ (Wolf 1955, 142).

Mit Blick auf das vom sozialistischen Realismus verordnete Totalitätsgebot kritisiert Wolf die Wahl eines Ich-Erzählers, dessen Subjektivität nicht der Empfehlung entspricht, die für die sozialistisch-realistische Leitgattung galt. Dafür lobt sie aber zunächst die „wirklich sehr reizvolle[n] Effekte“, die aus der Diskrepanz zwischen dem kognitiven Horizont des kindlichen Erzählers und den ernsten Angelegenheiten, von denen er erzählt, resultieren (ebd., 144). Entsprechend hält sie Strittmatter zugute, „daß er durch die scheinbar naive Erzählung des Jungen immer die objektiv richtige Einschätzung der Vorgänge und Handlungen hindurchschimmern läßt“ (ebd., 143). Wolf diagnostiziert also das Phänomen des unzuverlässigen Erzählers recht genau, ohne es freilich als solches zu benennen.

Andere Eigenheiten des Ich-Erzählers Tinko findet die Rezensentin weniger gut. So kritisiert sie die „Einfachheit, ja Primitivität, die auch in der Sprache ihren Niederschlag findet“ und Partien aus Tinkos Erzählerrede, „die weit die Grenze des dem Kind noch Zugänglichen überschreiten“ (ebd., 144). Beides aber lässt sich gerade mit dem Phänomen der Unzuverlässigkeit erklären. Denn Tinko wird als ein Junge mit einer besonderen Begabung geschildert: Sein Gedächtnis ist außergewöhnlich leistungsstark. Daher ist es überhaupt kein Bruch, dass Tinko so viel wiedergeben kann, was seinen Horizont eigentlich übersteigt. Er gibt wieder, ohne alles zu verstehen. Bis er seine ideologische Wendung vollzieht, plappert Tinko vor allem die Phrasen seines Großvaters nach.

Auch der andere monierte Aspekt ist stimmig. Die „Einfachheit, ja Primitivität“ (s. o.) von Tinkos Rede repräsentiert sozusagen die Urwüchsigkeit seines Talents, dem auf diese Weise die Qualität eines ungeschliffenen Diamanten anhaftet. Wolf als damals noch gläubige Gefolgsfrau des sozialistischen Realismus musste den niederen Redestil kritisieren, weil die Doktrin einen mittleren Stil vorschrieb und die Verbindung von Figuren der Arbeiterklasse mit „primitiver“ Rhetorik und ebensolchem Benehmen unter dem Verdikt des Naturalismus als unzumutbare Herabsetzung der Arbeiterklasse ablehnte.Footnote 2

Aus Wolfs Rezension spricht also neben großer Wertschätzung auch eine gewisse Ratlosigkeit, die sich als Resultante aus der Diskrepanz zwischen den auf Transparenz zielenden Vorgaben des sozialistischen Realismus einerseits und einem an der klassischen Moderne orientierten Kunstanspruch der jungen Rezensentin andererseits beschreiben lässt. Diese Diskrepanz manifestiert sich in der Kategorie der Verfremdung. „Anscheinend will der Autor durch diesen Kunstgriff [Einsatz eines Ich-Erzählers] eine stärkere Unmittelbarkeit des Eindrucks erreichen und auch einen gewissen Verfremdungseffekt erzielen“ (ebd., 143), merkt Wolf an. Verfremdung steht dem Transparenzgebot des sozialistischen Realismus diametral entgegen – darum die Zurückhaltung der Rezensentin. Auf der anderen Seite sorgen gerade die Verfremdungseffekte in Tinko dafür, dass sich Strittmatters Werk vom Rest der zeitgenössischen Romanliteratur so stark abhebt. Das Phänomen narrativer Unzuverlässigkeit ist genau an dieser Schnittstelle angesiedelt. Eine Geschichte, die in allen wichtigen Facetten der marxistischen Fortschritts- und Klassenideologie folgt, wird erst durch einen narrativen Kniff zu einem besonderen literarhistorischen Ereignis, dem die zeitgenössische Literaturkritik zu Recht große Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Es fragt sich, warum das Werk in Strittmatters Œuvre eine eher untergeordnete Rolle spielt. Die Antwort könnte folgendermaßen lauten:

Tinko war Schullektüre und laut Impressum der Ausgabe des Kinderbuchverlages empfohlen für „Kinder von 13 Jahren an“. Aus Wolfs Rezension geht hervor, dass die Zeitgenossen die Frage kontrovers diskutierten, ob das Buch ein Kinderbuch sei oder nicht. Schon Wolf weist darauf hin, dass das Werk Qualitäten hat, die wie etwa sein besonderer Humor von Jugendlichen vermutlich nicht erfasst werden können. Der Umstand aber, dass es als Schullektüre diente (vgl. Allgemeinbildung, Lehrplanwerk, Unterricht. Berlin[-Ost], Volk und Wissen, S. 293 f.) und nur im Kinderbuchverlag wieder aufgelegt wurde, mag dazu beigetragen haben, dass es seither nur als Kinderbuch rezipiert wurde. Dieser Rezeptionsverlauf verstellt jedoch die Sicht auf die zeitgenössische Rezeption, die Tinko sofort als Werk von außergewöhnlichem Rang einstufte (vgl. Thome 1955, Victor 1955, Ebert 1955, 2).

Das könnte auch ein Grund sein, warum es in der DDR nicht stilbildend wurde. Man könnte es jedoch zum Anlass nehmen, die Kinder- und Jugendbuchliteratur der DDR nach diesem Verfahren abzuklopfen und mit der der Bundesrepublik in dieser Zeit zu vergleichen. Allemal zeigt Tinko gerade auch im Vergleich mit Hermlins Bierce-Adaption, dass das unzuverlässige Erzählen in mehrfacher Hinsicht im Roman integriert und nicht auf eine Pointe reduziert ist, die in der Leutnant-Erzählung Hermlins mit dem unzuverlässig Erzählten (Yorcks Befreiungshalluzination) ansonsten nichts zu tun hat und durch ihre Irrealität höchstens die Verzweiflung ausdrückt, die sich aufgrund des sich hinziehenden Krieges im Autor möglicherweise breit gemacht hatte.

2.2 Angedeutete Unzuverlässigkeit. Beispiele aus den 60er Jahren

Mit dem zweiten Jahrzehnt der DDR-Literatur, ab 1960, ist eine signifikante und oft kommentierte Veränderung in der Erzählliteratur der DDR zu beobachten. Traditionell wird sie mit der Bitterfelder Konferenz von 1959 erklärt, einer ursprünglich vom Mitteldeutschen Verlag geplanten und dann von höheren Stellen organisierten und bedeutend erweiterten Autorenversammlung. Unter dem einschlägigen Motto „Greif zur Feder, Kumpel!“ bestand ihr offizielles Ziel darin, die Kluft zwischen (künstlerisch ungebildeten) Arbeitern und (künstlerisch gebildeten) Bürgerlichen zu überwinden, indem letztere in die Betriebe gehen sollten, um den Arbeitern künstlerische Literatur näher zu bringen. Daraus gingen die sog. Zirkel schreibender Arbeiter hervor, die zum Teil von jungen, (bald) namhaften Autoren und Autorinnen wie Christa Wolf und Brigitte Reimann geleitet wurden. Dass dieses Projekt vermutlich insofern als gescheitert zu betrachten ist, als die grundsätzliche Kluft zwischen ästhetisch zugänglichen und unzugänglichen Menschen nicht eingeebnet werden konnte, thematisierte die offizielle Seite nicht. Stattdessen bot die Konferenz nachträglich die Möglichkeit, die erwähnten Veränderungen in der literarischen Landschaft der DDR als Ergebnis einer wegweisenden staatlichen Initiative – eben dem Bitterfelder Weg – darzustellen. Doch drückt sie mehr das Wunschdenken der Propaganda aus, als dass sie die Veränderungen angemessen erklärt. Literatur sowohl über Arbeiter als auch von Arbeitern hatte es auch schon früher gegeben.

Kurz gefasst, besteht das Neue der Werke zu Beginn der 60er Jahre, um die es geht, darin, dass sie, noch vorsichtig und meist von einem grundsätzlich sozialistischen Standpunkt aus, systemimmanente Widersprüche thematisierten. Der narrative Antagonist war nicht mehr der Saboteur aus dem Westen wie zumeist in der Literatur der 50er Jahre, sondern der erstarrte Sozialist, der unfähig ist, auf sich verändernde Moralvorstellungen zu reagieren. Außerdem haben die gewöhnlich jungen Protagonisten nicht selten einen bürgerlichen Hintergrund, die mit einer Arbeiterumgebung konfrontiert werden. Deshalb heißt diese Literatur, passenderweise nach Reimanns Ankunft im Alltag (1961) Ankunftsliteratur (vgl. Aumüller 2011). Nicht von ungefähr waren es vor allem junge Literaten, die von sich reden machten. Das deutet an, dass die beste Erklärung für die Veränderungen, wie so häufig, darin besteht, dass eine neue Autorengeneration auf den Plan tritt, die einen anderen Blick auf die Gegenwart wirft und empfänglicher für neue literarische Verfahren ist.

Vielleicht am sichtbarsten sind diese neuen Erzählverfahren in Wolfs Der geteilte Himmel (1963). Das Werk, dessen Geschichte noch vor dem Mauerbau spielt, ist teils homodiegetisch, teils heterodiegetisch angelegt. Diese für die damaligen literarischen Verhältnisse der DDR außergewöhnliche Erzählkonzeption ist inhaltlich durch die Problematik der jungen weiblichen Hauptfigur Rita gerechtfertigt. Ihr zehn Jahre älterer Geliebter Manfred, ein Chemiker, entschließt sich aufgrund beruflicher Querelen, in den Westen zu gehen. Rita folgt ihm zunächst, kehrt aber bald zurück und bricht zusammen. Die durch heterodiegetische Abschnitte realisierte Gegenwartserzählung, die von Ritas Rekonvaleszenz handelt, bietet Antworten auf die Fragen, die die Haupterzählung aufwirft.

Das Werk ist nicht unzuverlässig erzählt. Man kann aber an ihm gut sehen, wie die Erzählverfahren miteinander zusammenhängen. Die Welt ist grundsätzlich stabil. Doch die epistemische Situation der Hauptfigur steht teilweise in Frage. Insgesamt stellt das Werk einen Bewusstwerdungsprozess dar. Es wird nichts Falsches erzählt, aber manches ist anfangs verworren, etwa das Verhältnis von heterodiegetischen und homodiegetischen Passagen. Die für das Werk geltenden Wertvorstellungen bilden sich erst heraus. Rita muss die Erfahrung im Westen machen, um zu erkennen, was wirklich zählt: nicht das Individuum, sondern das Kollektiv, nicht vergängliche Liebe, sondern der Aufbau des Sozialismus. Dass diese Botschaft nicht ganz so plakativ realisiert ist wie hier zusammengefasst, liegt an der behutsamen und reflektierenden Erzählweise sowie an Ritas nicht ganz stabiler emotionaler Situation. Darüber gelangt eine gewisse Ambivalenz in den Text. Das Erzählprivileg erscheint dadurch reduziert, auch wenn kognitiv bzw. mimetisch und axiologisch die Verhältnisse klar sind. Diese Verhältnisse sind zunächst offen, ohne dass sie irreführend dargestellt würden.

Wolfs frühes Werk findet in Nachdenken über Christa T. (1969) seine ungleich bedeutsamere Fortsetzung.Footnote 3 Die Offenheit wird hier sehr viel kühner und konsequenter realisiert. Die Frage nach der Unzuverlässigkeit verschwindet hinter dem Ansinnen, auf der Suche nach einer neuen literarischen Authentizität die Grenzen der Fiktionalität zu sprengen. Nimmt man das frühere Werk Wolfs als Vorläufer, dessen Ansätze in Nachdenken über Christa T. radikalisiert werden, so wird man es, um das Modell aus Kap. II.5.3 aufzugreifen, einem anderen Traditionsstrang als dem des unzuverlässigen Erzählens zuordnen. Indes sind beide Stränge mindestens über einen Faden miteinander verbunden: die Reduktion des Erzählerprivilegs, den Verlust der Auktorialität. Bis zu Nachdenken über Christa T. musste allerdings noch einiges geschehen. Auf dem Weg finden sich Werke, die am Erzählerprivileg noch sehr vorsichtig und nur stellenweise rühren. Sie tun es aber auf eine Weise, die man als angedeutete Unzuverlässigkeit charakterisieren kann, „angedeutet“ insofern, als sie stellenweise Lesarten zulassen, die die jeweiligen Erzählpassagen mit der Unzuverlässigkeit der Erzählinstanzen erklären können, ohne dass der gesamte Text davon erfasst würde. Wenn Nachdenken über Christa T. in diesem Sinne stellenweise offensichtlich Unwahres enthält, so ist auch in diesem Fall eine Erklärung mit Hilfe des Begriffs der Unzuverlässigkeit nicht ausgeschlossen.Footnote 4 Insgesamt gesehen, dominieren allerdings andere Verfahren wie Redeinterferenzen, Fragmentarisierung, Fiktionalisierung zweiter Ordnung u. ä.,Footnote 5 so dass man den Roman – analog übrigens zu Johnsons Mutmassungen über Jakob oder Handkes Hornissen – eher der anderen Tradition zurechnen muss.

Nicht vergleichbar mit Christa T. und auch nicht ganz so avanciert wie Der geteilte Himmel, aber in der Anlage und in der Thematik nicht unähnlich dem Buch von Wolf ist Reimanns ebenfalls 1963 erschienenes Werk Die Geschwister. Hier ist es der Bruder der Erzählerin, der vor der Republikflucht steht. Die Hauptgeschichte ist zugleich die Vorgeschichte, die in Rückblenden erzählt wird. Das Werk wurde meist als linientreu wahrgenommen, denn die Erzählerin Elisabeth nimmt in der Auseinandersetzung mit ihrem Bruder Uli einen klaren Standpunkt ein, der von ihrem Freund und Genossen Joachim zusätzlich autorisiert wird. Zugleich gibt es aber einen Konflikt mit einem anderen, älteren Genossen, der sie denunziert. Darin zeigt sich der zeittypische Gegensatz zwischen Dogmatismus und progressivem Sozialismus als Generationenkonflikt.

In beiden Fällen lassen sich die fiktiven Ereignisse mit biographischen Erfahrungen Reimanns in Verbindung bringen. Was den Konflikt mit dem Bruder angeht, lässt sich der Standpunkt der Erzählerin mit dem der Autorin abgleichen, denn Reimann stritt sich mit ihrem in den Westen gegangenen Bruder und ergriff eindeutig Partei für die DDR. Doch sollte man nicht der simplen Parallelisierung von Autorin und Erzählerin folgen, denn die Argumente des Bruders könnten zur Überbetonung von Reimanns Position in ihren Formulierungen geführt haben. Ihre eigene Skepsis mag sie vor ihm vertuscht haben. In ihrem Text Die Geschwister aber lässt die Skepsis sich durch eine geschickt angebrachte Doppeldeutigkeit erkennen.

In diesem wie Ankunft im Alltag als „Erzählung“ gekennzeichneten, aber selbständig erschienenen Text gibt es am Ende eine Ambivalenz, die durch Wiederholung ins Auge fällt und als letzter Satz besonders markiert ist: „Was seid ihr bloß für Menschen?“ (Ge, 183), fragt Uli rhetorisch. Er kann anerkennend gemeint sein, dann nämlich, wenn er damit ausdrücken will, dass Joachim und Elisabeth es schließlich doch vermochten, ihn von seiner Republikflucht abzuhalten und die Sache damit zum Guten zu wenden. Er kann aber genauso gut das Gegenteil ausdrücken, nämlich Verachtung, weil sie ihn nach dieser Lesart nur mit unlauteren Mitteln davon abhalten. Tatsächlich deutet sich vorher ein Vertrauensmissbrauch an. Uli meint, dass er gezwungen sei, in der DDR zu bleiben, weil er auf der „Fahndungsliste“ stehe (Ge, 181). Sie und Joachim ließen ihm gar keine andere Wahl, als von seiner Flucht abzusehen (vgl. auch Aumüller 2011, 308).

Auch wenn Elisabeth es leugnet, dass er gefährdet sei, ist die andere Lesart in Ulis Ausspruch angelegt. Damit ist auch Elisabeth Unzuverlässigkeit in dieser Frage in dem Text als Möglichkeit enthalten, sofern man die Freiheit der Entscheidung als Norm anerkennt. Insbesondere Joachim würde sich schuldig machen, wenn er Ulis Flucht nicht meldete. Uli kann also auch deshalb nicht fliehen, weil er sonst jemand anderem schaden würde. Entweder er wird selbst vorher aufgehalten und bestraft, weil Joachim die Information weitergibt, oder Joachim muss mit Strafe rechnen, wenn er die Information verschweigt. Elisabeth hat damit Ulis Vertrauen durch die Weitergabe der Information missbraucht und setzt ihn mit den zu gewärtigenden Konsequenzen unter Druck, auch wenn dies vom Text nicht weiter thematisiert, sondern in ein letztlich offenes Ende überführt wird. Das offene Ende ist eine Neuerung und trägt nicht unwesentlich zu der literarisch-ästhetischen Verschiebung bei, die die Literatur der DDR zu Beginn der sechziger Jahre kennzeichnet. Auch Ankunft im Alltag und Karl-Heinz Jakobs’ im selben Jahr erschienener Roman Beschreibung eines Sommers enden offen. Eine optimistische Lesart im Sinne der sozialistischen Umerziehung einer ideologisch gefährdeten Figur ist dadurch genauso möglich wie eine pessimistische Lesart. Die Offenheit des Endes lässt sich auch als weiteres Argument für die angedeutete Unzuverlässigkeit dieser Texte anführen, indem beide Phänomene eine vereindeutigende Lesart im Sinne des Sozialismus konterkarieren. So sehr eine Autorin wie Reimann zu dieser Zeit noch bereit war, politisch für den Sozialismus einzustehen – in ästhetischer Hinsicht war die Kompromissbereitschaft nicht grenzenlos.Footnote 6 Der ästhetische common sense auch unter Befürwortern des sozialistischen Realismus ging mittlerweile sowieso dahin, zu viel Eindeutigkeit für ästhetisch unbefriedigend zu halten. Das zeittypische Signalwort dafür war „Schematismus“.Footnote 7 Auch diese Verschiebung spricht dafür, dass die Autoren bewusst Verfahren wie das offene Ende oder angedeutete Unzuverlässigkeit eingesetzt haben, ohne sie allzu offensiv in Szene setzen zu können. Schematismus war zwar unerwünscht, aber Abstand zu sog. modernistischen Verfahren (die für die Theoretiker des sozialistischen Realismus bürgerlichen Verfall bedeuteten) und Allgemeinverständlichkeit (damals bekannt unter dem Ausdruck „Volkstümlichkeit“) mussten trotzdem gewahrt bleiben.

Ein anderes Beispiel für die nur angedeutete Unzuverlässigkeit, bevor ich zu einer exemplarischen Analyse eines klareren Falles komme, ist Hermann Kants Aula (1965). Der Roman ist zwar äußerlich eine Er-Erzählung, aber er lässt sich als homodiegetisch auffassen, insofern man seinen Helden Robert Iswall auch als seinen Verfasser sehen kann. Anlass für Robert, sich an seine Erlebnisse auf der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) zwischen 1949 und 1952 zu erinnern, die wiederum einen wesentlichen Inhalt des Romans darstellen, ist die Aufforderung des Direktors, eine Rede zur Schließung der ABF zu halten. Einiges hat Iswall verdrängt. Daher möchte er im Archiv der ABF recherchieren und einen alten Freund aufsuchen, den er seither nicht mehr gesehen hat (und den er seinerzeit verraten hat, um eine Frau für sich zu gewinnen). Nach landläufiger Interpretation lösen sich alle Probleme in Wohlgefallen auf (vgl. Emmerich 1996, 203 f.). Das setzt aber voraus, dass man die Erzählung für zuverlässig hält. Es gibt jedoch Indikatoren, die Iswalls unzulänglichen Charakter andeuten und damit die axiologische Unzuverlässigkeit des Erzählens. Dass er seinen engen Freund Trullesand mit seiner Intrige ausgerechnet für Jahre nach China schickt, mag diesem in der Welt des Romans am Ende nicht geschadet haben. Die Schuldgefühle, die ihn fast das Leben kosten, weil sie ursächlich für einen schweren Autounfall sind, hat Iswall aber zu Recht. Es handelt sich um die Verletzung der Norm, dass man keinem anderen schaden solle, erst recht nicht einem engen Freund. Selbst wenn diese Norm durch eine andere überlagert wird, nämlich der, dass die Ereignisse sich kraft einer höheren (sprich: marxistischen) Notwendigkeit zum Guten wenden, bleibt der Normbruch bestehen, nicht zuletzt auch, weil er eine lang anhaltende axiologische Spannung erzeugt.

2.3 „[…] ihr Monofilstrumpf war nahtlos und fleischfarben“. Jakobs’ Beschreibung eines Sommers (1961)

Karl-Heinz Jakobs’ Beschreibung eines Sommers ist ein weiterer Titel aus jener Zeit, der in der DDR große Aufmerksamkeit erfuhr.Footnote 8 Das Buch wurde schnell verfilmt, mit Christel Bodenstein und Manfred Krug in den Hauptrollen. Der Publikumserfolg könnte wiederum dafür gesorgt haben, dass der Absatz seines Buches weiter stieg. Sein Autor war nun einer der prominenten Autoren der DDR. In einer Notiz in der Berliner Zeitung vom 24. Januar 1965 wurde die achte Auflage angekündigt und „das hunderttausendste Exemplar“ erwartet (BZ 1965, 6), Arend (1995, 242) spricht von einer Gesamtauflage, die mehr als doppelt so hoch ist.

Da Jakobs heute nicht so bekannt ist, mögen ein paar biographische Anmerkungen gestattet sein. 1929 in Ostpreußen geboren, gehörte er zur selben Generation wie Wolf und Reimann. Seine Berufsausbildung erhielt er in der SBZ bzw. DDR. Charakteristisch ist sein zunächst affirmatives Verhältnis zu dem Staat, der ihm das Studium im Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ ermöglichte. Es fand Ausdruck in einer SED-Mitgliedschaft. Trotzdem opferte Jakobs ihm nicht alle künstlerischen Prinzipien. Schon Beschreibung eines Sommers ist eigenwillig, die späteren Romane Eine Pyramide für mich (1971) und Die Interviewer (1973) noch mehr.Footnote 9 Um dies heute würdigen zu können, muss man allerdings die Literatur der fünfziger Jahre kennen. Die Bezugnahmen auf diese Literatur sind in seinen Werken offensichtlich, und erst in den Modifikationen, die Jakobs vornimmt, wird sein eigener literarischer Ansatz deutlich.

Zur Abkehr Jakobs’ vom DDR-Regime führte die Begegnung mit Dorothea Garai (1899–1982), die 1933 ins Moskauer Exil ging und die Jahre von 1937 bis 1956 im GULag verbrachte. Ihr Schicksal sowie der Umstand, dass sie darüber nicht reden durfte, öffneten ihm die Augen über den Stalinismus.Footnote 10 Außerdem schloss sich Jakobs den Protesten gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann an und später gegen die Verurteilung Stefan Heyms. Er wurde aus der SED und bald auch aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. 1981 kam er in die Bundesrepublik und lebte bis zu seinem Tod 2015 in der Nähe von Wuppertal.

Was an Beschreibung eines Sommers sofort ins Auge sticht, ist neben der homodiegetischen Erzählweise die sog. harte Schreibweise. Dies bemerkten auch die Rezensenten. Darunter verstand man, kurz gesagt, knappe Sätze kerniger Erzählsubjekte, als deren literarisches Vorbild Ernest Hemingway galt. In dem Roman „kann man Seiten aufschlagen, wo man dann meinen könnte, in einem der frühen Romane von Ernest Hemingway zu sein. Ein ‚Ich‘ erzählt, trocken, sachlich, nüchtern; Glanzlichter des Zynismus sind über der Welt aufgesteckt […]“ (Ullrich 1961, 10). Den harten Stil kannte man aus der Kriegsprosa der fünfziger Jahre, und er war nicht unumstritten (vgl. Langermann 1990, Gansel 2014). Daher wirkt es fast, als wolle Christa Wolf in ihrer Rezension das Buch aus der Schusslinie nehmen, wenn sie es der sowjetischen Tradition zuordnet, die sie „wichtiger und fruchtbarer für Jakobs“ hält, „als die sehr augenfällige, aber doch nur stilistische Beziehung zur Schreibweise amerikanischer Autoren, besonders Hemingways“ (Wolf 1961, 133).

Es wäre eine eigene Untersuchung wert, warum Jakobs mit dieser Erzählkonzeption zu diesem Zeitpunkt durchkam. Auch dieses Werk wurde in der DDR kontrovers diskutiert, aber es wurde nicht verfemt wie andere Bücher davor. Ein Beispiel ist Siegfried Pitschmanns 1959 abgeschlossenes Manuskript Erziehung eines Helden, an dem kurz zuvor ein Exempel statuiert worden war, was seinen Autor, den damaligen Ehemann Brigitte Reimanns, in einen Selbstmordversuch trieb.Footnote 11

Möglicherweise brauchte es diesen (damals kaum nach außen gedrungenen) Skandal, damit künftig der Weg frei wurde für ein ähnliches Buch eines anderen Autors, der durch seine Biographie und seine SED-Mitgliedschaft politisch zuverlässiger erschien.Footnote 12 Eben deshalb konnte Jakobs es sich erlauben, einen unzuverlässigen Erzähler einzusetzen. In den zeitgenössischen Rezensionen erkannte man, dass man es mit einem Anti-Helden zu tun hatte. Da das Buch die Druckgenehmigung erhalten hatte und von keinem Geringeren als dem ansonsten als Hardliner bekannten Alfred Kurella auf dem V. Schriftstellerkongreß im Juni 1961 gelobt worden war (vgl. Arend 1995, 250), konnten die Rezensenten davon ausgehen, dass dieses für den sozialistischen Realismus ungewöhnliche Verfahren gebilligt wurde, und diskutierten das Für und Wider.Footnote 13 Der linientreue Autor Günter Ebert drückt in seiner Rezension im Neuen Deutschland einen eher ablehnenden Standpunkt aus und macht Jakobs den „Vorwurf, im Subjektiven steckengeblieben zu sein“ (1961, 2). Auch das offene Ende sieht Ebert kritisch. Er vermisst die ideologischen Leitplanken, die den Lesern die richtige sozialistisch-realistische Orientierung geben.

Der Rezensent der Neuen Zeit hingegen steht der fehlenden Auktorialität aufgeschlossener gegenüber. Er sieht darin, dass die Leser von der Machart zum Denken angeregt werden, eine Stärke des Buches. Jakobs lasse seine Leser bewusst im Ungewissen. „Sollen sie selbst nachdenken, selbst entscheiden … indem der Autor seinen unentschiedenen Helden nun auch noch in ein Problem führt, für das Patentlösungen nicht geliefert werden und nicht geliefert werden können“ (Ullrich 1961, 10).Footnote 14 Das Problem ist, dass der Held, ein der SED skeptisch bis ablehnend gegenüberstehender Bauingenieur, eine mit einem vorbildlichen Genossen verheiratete Frau liebt, die selbst ebenfalls in der Partei ist. Dieser ist der Lebenswandel ihrer Mitglieder nicht einerlei. Sie drängt sich mit Maßregelungen in das Privatleben und besteht darauf, dass die Liebenden ihr Verhältnis lösen.

Der dreißigjährige Erzählerprotagonist namens Tom Breitsprecher wird als Frauenheld eingeführt. Die Ferien verbringt er mit verschiedenen Frauen. Über sie spricht er in einem teils zwar zeittypischen, teils aber auch für damalige Verhältnisse leicht chauvinistischen Ton: Am „Nacktbadestrand“ sieht er „einige dicke Männer […] und einige nicht mehr ganz junge Frauen, und die hübschen jungen Dinger waren stolz und prüde“ (BS, 6). Seine zweite wichtige Eigenschaft ist, ein engagierter Bauingenieur zu sein, dessen Fähigkeiten für die DDR unverzichtbar sind. Er weiß darum und kann sich erlauben, seine Ferien selbst zu verlängern. Schließlich ist er nicht in der Partei. Das weiß auch Trude Neutz, eine Kaderleiterin, die ihn für den Bau eines neuen Chemiewerks im fiktiven Wartha gewinnen will. Gemeint ist das Kombinat in Schwedt, wo Jakobs selbst 1959 mehrere Monate beschäftigt war (vgl. Arend 1995, 242). „[E]s wär uns bedeutend lieber, wenn wir jemand anders schicken könnten als ausgerechnet dich“ (BS, 10), sagt Trude und macht nolens volens auf den Fachkräftemangel aufmerksam. Indirekt teilt sich hier ein tatsächliches Problem mit, das mit dem zunehmenden Exodus der Bevölkerung immer drängender wurde. Sie hätte ihn lieber nicht engagiert. Es sei ein Wagnis, ihn nach Wartha zu schicken, denn „du bist [zwar] unser bester Ingenieur. Moralisch aber bist du ein Dreck“ (BS, 14). Er solle „[a]ufhören mit Saufen und Huren“ (ebd.).

Als Tom zaudert, appelliert sie an seinen Ehrgeiz und Arbeitseifer. Damit erreicht sie ihn. Aber sie kann sich nicht enthalten, seine ideologische Unabhängigkeit zu brandmarken. Davon lässt sich Tom nicht beeindrucken, sondern macht sich über sie lustig: „Sie hatte alle Weichheit aus ihrem Gesicht entfernt, und es hatte den Ausdruck angenommen, der sehr zu der Art ihrer eben dargebotenen Kleinkinderagitation paßte. Ich glaube, sie hatte nicht einmal gemerkt, wie sehr sie mich mit so was belustigte“ (BS, 15).

An dieser Stelle ist eine klare Opposition zwischen der Parteilinie und dem Erzählerprotagonisten aufgebaut. Nimmt man nun an, dass für in der DDR veröffentlichte Werke – zumal zu jener Zeit – gilt, dass die Werte des sozialistischen Realismus und damit die Norm der Parteilichkeit in der erzählten Welt gelten, und wendet man die Daumenregel (R) für axiologische Unzuverlässigkeit darauf an, so lässt sich Tom bereits hier als axiologisch unzuverlässiger Erzähler charakterisieren.

Wie gleich deutlich werden wird, können diese Werte auch von Repräsentanten der sonst diese Werte zuverlässig garantierenden Partei unterlaufen werden. Das ändert aber nichts daran, dass sie in der erzählten Welt, die viele Eigenschaften mit der DDR teilt, trotzdem gelten. Es ist in einer Gesellschaft mit einem politischen System wie in der DDR sinnvoll, den von oben vorgegebenen (im Übrigen bewusst unscharfen und bei Bedarf adaptierbaren) axiologischen Maßstab zunächst als Grundlage im Sinne einer Arbeitshypothese anzunehmen. Selbst Werke, die davon abweichen, sind auf diesen Maßstab bezogen. Man kann die Bedeutung von Jakobs’ Buch vor diesem Hintergrund gar nicht hoch genug einschätzen. Es ist meines Wissens der erste breit rezipierte Roman überhaupt, der die Norm der Parteilichkeit beharrlich bis zum Ende unterläuft – selbst wenn man davon ausgeht, dass dies eigentlich mit der Absicht geschah, die Auffassung der Partei durch die Unzuverlässigkeit des Erzählers in Geltung zu lassen.

Es ist nicht möglich, aus dem Werk allein eine definitive Entscheidung zu treffen. Aus der Perspektive einer Ambivalenz-Poetik ist gerade dies reizvoll. Wenn auch die Sprache aus heutiger Sicht manchmal altbacken wirkt und die Geschichte trivial, ist das Spiel mit den Normen und Motiven des sozialistischen Realismus beachtlich und der Umgang mit ihnen für die DDR-Literatur regelrecht revolutionär. Der Grund liegt im Wesentlichen darin, dass der Konflikt nicht wie in anderen damals kontrovers diskutierten Werke, etwa Ole Bienkopp (1963) von Erwin Strittmatter oder Spur der Steine (1964) von Erik Neutsch, innerhalb der Partei angesiedelt ist, sondern zwischen der Position der Partei, die obendrein selbst nicht vollkommen klar ist, und der Position eines Unentschiedenen.

Dass Tom, wie zitiert, mit Bezug auf Trudes Überzeugungsversuche von „Kleinkinderagitation“ spricht, kann unschwer als Affront gegen die Partei aufgefasst werden. „Fängt man das Buch von Jakobs zu lesen an, so ist man zuerst fast abgestoßen […]. Der ‚Held‘ und Ich-Erzähler ist ein reichlich unangenehmer Patron. Ein Angeber, ein Weiberheld, hochnäsig“, sagt Kurella in seinem Beitrag auf dem V. Schriftstellerkongress (1961, 253). „Ein nach üblichen Maßstäben unerfreulicher Typ also“ (Ullrich 1961, 10), heißt es auch in einer positiven Rezension. Die anstößigsten Stellen verschweigen die Rezensenten indes. Am Abend bevor Tom zur Baustelle fahren wird, lernt er die Dame mit dem nahtlosen und fleischfarbenen Monofilstrumpf kennen, betrinkt sich mit ihr, „und an ihrem Mund erkannte ich, daß sie pervers war“ (BS, 24). Was immer das heißen soll. Es hält ihn aber nicht davon ab, mehrmals mit ihr in der Nacht zu schlafen, bis Trude Neutz ihn abholen kommt, um ihn zur Baustelle zu fahren. Dort angekommen, entschuldigt er sich kurz bei ihr: „Ich verschwand um ein paar Ecken und kotzte gegen eine Mauer“ (BS, 28). Außerdem begeistert er sich für Poker. Tom mag Nervenkitzel und Bluffen. Sein Lebenswandel ist das eine, seine ideologische Einstellung das andere. Auf der Fahrt nach Wartha erblickt er Feldarbeiter, die mühsam einzelne Löcher graben und Setzlinge einpflanzen. Zynisch kommentiert er: „Hier, bitte […], hier haben wir eben das Neue auf dem Land gesehn“ (BS, 28). Das „Neue“ ist ein Schlüsselwort der Aufbauliteratur, das den sozialistischen Fortschritt signalisiert. Hier wird Toms Unzuverlässigkeit deutlich markiert durch den Chauffeur, der kenntnisreich anmerkt, dass es sich um Tabakpflanzen handele, die nicht anders gesetzt werden können. Das lässt Tom verstummen. Auch später wird seine Antipathie gegenüber der Partei wiederholt deutlich, etwa wenn er angesichts einer Schlägerei, in die der Genosse Doberge verwickelt ist, süffisant anmerkt, dass er sich „gern an[sieht], wie ein FDJ-Sekretär argumentiert“ (BS, 131).

Trotzdem ist Tom nicht ganz verloren für den Sozialismus. Dafür gibt es zahlreiche Belege. Als Trude ihn ideologisch festzulegen versucht, entzieht er sich und redet sich damit heraus, dass er allein an die Mathematik glaube. Aber er ist verunsichert. Er hat das Gefühl, dass er nicht sehr überzeugend argumentiert. Es deutet sich an, dass die Rede von der Mathematik für ihn nur ein Ausweichmanöver ist. „Ich ärgerte mich plötzlich, denn ich hatte gespürt, daß es reine Phrase war, was ich gesagt hatte“ (BS, 16).Footnote 15

Ein weiterer Befund, der für Tom spricht, ist seine antifaschistische Grundhaltung. Zwar ist er ein Kind, das im Nationalsozialismus geprägt wurde; doch ist seine Einstellung diesbezüglich eindeutig. Dieser Hintergrund fungiert lediglich als Begründung für sein ideologisches Zurückbleiben. „Es gibt nichts, was er mehr haßt als den Faschismus. Der Faschismus hat ihn zum Zyniker gemacht“ (BS, 204), sagt sein Freund Schibulla über ihn, der die nötige Autorität im Werk hat und es wissen muss. Die Figur des Tom erweist sich somit vom Standpunkt der Partei aus als Identifikationsangebot an diejenigen, die als Kinder unverschuldet mit NS-Ideologie indoktriniert wurden und nun nicht leichtfertig aufgegeben werden bzw. nicht in die Flucht in den Westen getrieben werden sollten.Footnote 16

Die axiologische Gemengelage nach den ersten Kapiteln spricht gegen Tom Breitsprecher. Er ist aber nicht komplett unzuverlässig, sondern teilt etwa die Norm des Antifaschismus und gibt bei aller großsprecherischen Attitüde Selbstzweifel in ideologischer Hinsicht zu erkennen. Als Zeitgenosse könnte man vor dem Hintergrund der bis dahin bekannten Literatur erwarten, dass Tom eine ähnliche Wandlung durchmacht wie Tinko. Doch Beschreibung eines Sommers geht einen anderen Weg.

Es gibt kleine Widerhaken, die die Darstellung der Partei nicht so glatt erscheinen lassen, wie man zunächst erwarten mag, zumindest in der Form, in der sie Trude Neutz repräsentiert. Es ist nur ein kleines, aber vor dem Hintergrund der Aufbauromane vielsagendes Detail: Später besucht Trude erneut die Baustelle, und zwar in „Pumps mit hohen Absätzen“ (BS, 153). Das ist nicht nur für die Baustelle unangemessenes Schuhwerk, wie Tom und Grit später feststellen (BS, 157), sondern auch im semiotischen System des Aufbauromans, auf das Beschreibung eines Sommers bezogen ist, ohne dazu zu gehören, ein negatives Merkmal.Footnote 17 Dieses Detail diskreditiert nicht die Partei als solche, denn inzwischen gibt es eine Reihe weiterer Figuren, die als Repräsentanten der Partei in Frage kommt. Aber es diskreditiert die Ebene der Funktionäre. Auch die anderen Funktionärsfiguren geben nicht immer ein gutes Bild ab. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es keine eindeutig herausragende Vorbildfigur gibt, die die Ebene des einfachen, parteitreuen Arbeiters repräsentiert, wie in anderen zeitgenössischen Romanen, z. B. Meister Hamann in Reimanns Ankunft im Alltag. Schibulla ist ein Kandidat, aber er ist zu sehr Randfigur und wird zwischendurch, wenn auch zu Unrecht, wegen Sabotageverdachts verhaftet.

Daher muss man zu dem Schluss kommen, dass auch die Gegenseite, die Partei, nicht ohne Schatten dargestellt ist. Macht dieser Umstand Tom weniger unzuverlässig? – Nein. In axiologischer Hinsicht bleibt er unzuverlässig, weil man seine beharrliche Weigerung, sich den Maßnahmen der Partei zu unterwerfen, als Verstoß gegen zentrale Normen verstehen muss. Zudem bringt er durch sein Verhalten weniger sich selbst als seine Geliebte in die Bredouille. Dass auch manche Parteirepräsentanten nicht angemessen handeln und sogar die Partei als ganze durch Unterlassen den zentralen Konflikt unfreiwillig anheizt (auch dies eigentlich ein unerhörter Zug der Geschichte!), spricht nicht gegen Toms Unzuverlässigkeit. Es spricht nur dafür, dass in der erzählten Welt von Beschreibung eines Sommers selbst die Partei nicht immer recht hat. Das zeigt sehr deutlich, warum dieser Roman so ein einschneidendes Ereignis war: Der positive Wert wird nicht mehr von der Partei – und schon gar nicht von ihren Repräsentanten – verkörpert, sondern fungiert nur noch als unerreichbares Ideal, an dem sich alle messen lassen müssen: Genossen wie Nicht-Genossen.

Eine Ausnahme, eine Absicherung gibt es allerdings. Äußerlich unfehlbar ist Grits Ehemann Georg, jedenfalls in den Augen von Grit, für die er jedoch „in seiner Vorbildlichkeit reizlos“ ist (Ebert 1961, 2). In dieser Figur lässt sich – mit etwas gutem Willen – die Verkörperung eines idealen Genossen erkennen. Allerdings wird er in der Geschichte nur erwähnt, über ihn wird nur gesprochen. Selbst tritt er nicht in Erscheinung. Außerdem vermag er es nicht, Grit zu halten. Auch dieser Umstand spricht für sich, und ein dem Roman gegenüber kritisch eingestellter Rezensent wie Ebert musste das entsprechend monieren.

Auch in dem zentralen Konflikt spiegelt sich die Ambivalenz von Toms Unzuverlässigkeit und dem Unvermögen der Partei wider. Tom wird eindeutig als Frauenheld eingeführt, der nicht auf eine feste Beziehung aus ist, sondern auf erotische Erfahrungen. Ein Strukturalist würde in dem Roman möglicherweise eine Äquivalenz bzw. Homologie zwischen Frauen und Baustellen erkennen. Für Tom sind Frauen in seiner Freizeit das, was für ihn in beruflicher Hinsicht Baustellen sind, Objekte seiner Begierde, seines Lebens- und Erfahrungshungers und seines Ehrgeizes. So lernt er Grit erst näher kennen, nachdem er mit ihrer Freundin angebandelt hat, und versucht mit ihr auf nicht sehr zartfühlende Weise zu flirten, indem er mit ihr symbolisch-ironisch über ihren Ehering spricht, den sie auf der Baustelle abnehmen solle. Dies fasst sie aber nur wörtlich auf (BS, 57 f.). Er versteht zu diesem Zeitpunkt selbst nicht, dass sie seine Anspielungen nicht begreift. Stattdessen geht er davon aus, dass sie seinen Flirt aufnimmt.

Trotz dieses Missverständnisses stellt sich schnell heraus, dass Grit eine ernste Person ist und dass sie sich in ihn entsprechend aufrichtig verliebt. Aufgrund seines Lebenswandels kann man sich bei Tom indes nicht so sicher sein, dass er aufrichtig ist, denn auch er bekennt, verliebt zu sein (BS, 92 f.). Sie lässt sich überzeugen. Es fehlen im Anschluss daran deutliche Signale, dass es anders sein könnte, und so ist der Leser geneigt, Tom eine Veränderung seiner Einstellung abzunehmen. Doch gilt dies nur, solange Grit in der Nähe ist. Als er getrennt von ihr ist, etwa als er sich in der zweiten Septemberhälfte für zwei Wochen in Ungarn aufhält, deuten sich Frauengeschichten an, auch wenn der Ausdruck „Budapester Geschichten“ (BS, 172) nicht eindeutig ist.Footnote 18 Zwar beteuert er auch später seine Liebe, sowohl sich selbst gegenüber (BS, 201) als auch ihr gegenüber (BS, 212); da er das aber als erlebendes Ich äußert, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob er es sich einredet. Es wird nicht widerlegt, dass er letztlich nur ein unverbesserlicher Schürzenjäger ist, der allein deshalb an seiner, nur vermeintlichen, Liebe festhält, weil sie sich ihm aus Parteiräson entzieht.Footnote 19

Diese Interpretationsmöglichkeit, die sich auf die Aufbauromane berufen kann, ist in dem Roman angelegt. Demnach wäre Tom auch in persönlicher Hinsicht axiologisch unzuverlässig. Die übergeordnete Parteilichkeit des Romans bliebe damit gewahrt. Offensichtlicher ist jedoch, von der Aufrichtigkeit auch Toms auszugehen. Dann muss die Parteilichkeit in die Zukunft der Geschichte projiziert werden, die der Roman nicht mehr erzählt, sondern allenfalls am Ende andeutet. Diese offizielle, sozusagen optimistische Lesart fasst Christa Wolf in folgende Worte: „Ein schwerer persönlicher Konflikt bringt seine [Toms] inneren Widersprüche zum Ausbruch, stellt alles in Frage, was er gesichert glaubte: Sein gutes Ansehen als Ingenieur, sein Verhältnis zu den Mitarbeitern führt ihn bis an den Rand des Zusammenbruchs und schließlich, da er auf tragfähigem Boden steht, an den Beginn der Genesung“ (Wolf 1961, 130).

Trotzdem bleibt das offene Ende zweideutig. Das Ende wäre nicht offen, wenn es nicht auch eine andere Interpretation erlaubte. Aus der Liebesbeziehung zwischen Tom und Grit entsteht ein Problem. Die Liebe ist nicht notwendigerweise nur eine Initialzündung für seine Läuterung (ganz im Sinne Grits, die ihre Liebe mit dem Reiz begründet, den sein Widerstand auf sie ausübt).Footnote 20 Sie wirkt auch auf das Geschehen auf der Baustelle zurück. Dass die Liebe nicht zur Erfüllung gelangt, vereitelt, so die pessimistische Lesart, letztlich den Erfolg, den sie zwischenzeitlich gehabt hat. Wenn ihre Gefühle füreinander aufrichtig sind, dann ist der Eingriff in diese Beziehung durch die Partei heikel.

Diese Verbindung von ideologischer und individueller Ebene ist von Beginn an ein Bestandteil der Liebesgeschichte. Und es ist gerade das widersprüchliche Verhältnis, das Anlass für die Liebe Grits ist. An Tom reizt sie, dass er sie zum Widerspruch herausfordert. Die Frage der Ideologie wird hier abermals mit der Frage nach der persönlichen Anziehung verknüpft. Ihren Mann Georg empfindet sie als langweilig. Er habe „einen Fehler gemacht: Er hat alle Probleme von mir ferngehalten, hat alle Schwierigkeiten allein aus dem Weg geräumt“ (BS, 100). Diese Verknüpfung von Ideologie und Gefühl nimmt vorweg, was später die Zuspitzung des Konflikts ausmacht.

Grit muss ihren Mann darüber informieren, dass sie ihre Ehe lösen möchte. Dies wird durch äußere Umstände immer wieder verhindert, durch Feuer auf der Baustelle ebenso wie durch die arbeitsbedingte Abwesenheit Georgs. Auch die Partei reagiert nicht. Wie später einer ihrer Vertreter deutlich macht, hat sie durch ihr Versäumnis mit zu dem Problem beigetragen. „Warum haben wir uns nicht früher so um sie gekümmert?“ (BS, 198), fragt Schibulla und mahnt, dass man Tom nicht aufgeben dürfe, sondern um ihn kämpfen müsse.

Schon früh ahnt Tom, dass ihr Verhältnis den Genossen nicht gefällt. Der erwähnte Doberge lässt es ihn spüren. Dass auf Baustellen gestohlen wird, nimmt Tom hin, er kennt es nicht anders, aber die Partei kann das nicht dulden, und Doberge macht Tom dafür verantwortlich, dass dies ausgerechnet in seinem Verantwortungsbereich geschieht, denn „schlechte Beispiele verderben die beste Moral“ (BS, 132).Footnote 21 Zwar wird die Vorladung von Grit aufgrund äußerer Umstände verschoben, aber bei einer regulären Parteiversammlung kommt die Angelegenheit doch zur Sprache, wie Tom nachträglich erfährt (BS, 162). Die Konsequenz ist, dass zunächst Grit eine Parteirüge erhält und von der Baustelle verwiesen wird, damit sie sich mit ihrem Mann aussöhnt. Die Frau muss büßen, weil Tom nicht in der Partei ist und zugleich ein unverzichtbarer Ingenieur, der sich auch während seines sommerlichen Verhältnisses mit Grit um seine Baustelle und seine Mitarbeiter verdient macht.

Man könnte denken, Toms Reise nach Ungarn sei ebenfalls dem Ziel geschuldet, ihn von der Baustelle fernzuhalten, aber sie ist tatsächlich als Belohnung gedacht (BS, 165). Auch dies hat gravierende Folgen, noch ehe Tom abreist. Grit fährt nicht wie vorgesehen ins heimatliche Oelsnitz, sondern zu Tom in seine Berliner Wohnung, um ihn vor seiner Abreise zu verabschieden. Sie belügt die Partei, und als es herauskommt, droht ihr der Parteiausschluss. Aufgrund der Fürsprache ihrer Freundin wird sie nur zur Kandidatin zurückgestuft (BS, 177 f.).

Das erfährt der Leser aus mehreren an Tom gerichteten Briefen von Grit. Sie sieht nun ihre Fehler ein und hat die Absicht, den Entscheidungen der Partei zu folgen. Diese hat ihre Position leicht modifiziert. Grit wird nicht mehr gezwungen, bei ihrem Mann zu bleiben. Sie will sich von ihm scheiden lassen. Aber sie darf Tom bis auf weiteres nicht mehr sehen. Aus der Sicht der Partei müssen sie sich erst bewähren, bevor man ihnen einen Neustart ihrer Beziehung erlaubt.

Und noch etwas ist nun anders. Die Partei nimmt sich auch Tom vor, nachdem er aus Ungarn zurückgekehrt ist. Ausdrücklich ist nun in den Worten des Genossen Marke davon die Rede, dass nicht die Frau allein ausbaden soll, was Mann und Frau zusammen falsch gemacht haben: „Immer waren es die Frauen und Mädchen, die verachtet, die angeprangert wurden, wenn sie sich auf außereheliche Verhältnisse einließen. Den Mann traf nie was. Dies hier ist ein Päzedenzfall [sic!]: Die Ehebrecherin haben wir bestraft, jetzt bestrafen wir den Ehebrecher, weil wir es so wollen“ (BS, 196). Die erste Maßnahme, die Parteirüge, die allein Grit traf, war Ausdruck der alten patriarchalen Perspektive. Jetzt wird auch Tom bestraft, in dem er von seinem Posten suspendiert wird. Die Partei hat sich also korrigiert und nimmt nun eine progressive, geschlechtergerechte Position ein.

Das ist aller Ehren wert. Allerdings wirkt die Empörung über den Ehebruch, die den gesamten Konflikt trägt, auf heutige Leser sicherlich übertrieben. Darin drücken sich nicht nur Moralvorstellungen aus, die manche als „spießbürgerlich“ bezeichnen würden. Befremdlich wirkt in erster Linie, dass die Partei sich in diesem Maße für das Privatleben ihrer Mitglieder interessiert. Doch das ist genau der Punkt, an dem der Roman ansetzt. Auch wenn nach außen hin die Partei letztlich im Recht ist – wenn man die sozialistische Axiologie als Maßstab für die Beurteilung akzeptiert –, bleibt der tiefere Konflikt bestehen, der sich in der Frage äußert, wie viel Macht die Partei über das Private denn haben darf. Anders gefragt: Vertragen sich die Moralvorstellungen der Partei mit den wirtschaftlichen und politischen Zielen, die im Roman vom Aufbau des Chemiekombinats und dem Werben um bzw. dem Angewiesensein auf (nicht-sozialistische) Fachkräfte verkörpert werden?

Im Großen und Ganzen funktioniert Tom als Leiter seines Baustellenabschnitts bestens. Die Ungarnreise, die als Belohnung für seine Verdienste gekennzeichnet wird, ist die offizielle, d. h. parteiliche Anerkennung seiner Arbeitskraft. Dass die Konzentration vom Bau abgelenkt wird, liegt nicht an dem außerehelichen Verhältnis. Im Gegenteil, es wirkt sogar beflügelnd auf Tom, wie er selbst reflektiert. Die Arbeit in Wartha und die Liebe von Grit gehören zueinander.

„Jawohl, ich war ihr rettungslos verfallen. Und ich wußte mit einemmal, daß dies kein Zufall war. Die Erlebnisse der letzten Monate hatten mich dazu gebracht […]; ich wußte mit einemmal, daß wir – Grit und ich – nie dazu gekommen wären, uns als unentbehrlich füreinander zu halten, wenn wir uns woanders begegnet wären.“ (BS, 201)

Das ist, psychologisch gesehen, gar nicht unwahrscheinlich. Wichtiger ist aber etwas anderes, denn hier zeigt sich wieder die Motivsprache des sozialistischen Realismus, die Synchronisierung von individueller und ideologischer Sphäre, von Liebe und Arbeit/Nutzen für die Gesellschaft. Diesen Zusammenhang missachtet die Partei durch ihre Maßnahmen gegen Grit und Tom.

Es ist nicht leicht zu sagen, ob dies in der Konzeption des Romans so vorgesehen war. Aber diese Interpretation tut ihm keine Gewalt an. Sie liegt nahe, wenn man das Literatursystem mit seiner etablierten Motivik zugrunde legt, die der Roman an mehreren Stellen aufnimmt. Im Resultat wird also die angesprochene Ambivalenz auch hier durchgehalten. Tom handelt axiologisch unzuverlässig, indem er das moralische Gebot der Partei fortgesetzt missachtet. So wie die Dinge liegen, muss er Konsequenzen gewärtigen. Ihnen ist er sich früh bewusst: „Mich beunruhigte Doberges Einladung an Grit“ (BS, 116). Aber er ändert sein Verhalten nicht. Er ist auch insofern unzuverlässig, als er nicht absieht, dass die Folgen zunächst nur Grit treffen. Andererseits ist auch die Position der Partei alles andere als sakrosankt. Vordergründig muss man sie zwar als Maßstab ansetzen. Wollte man den Roman gegen Angriffe aus der Partei verteidigen, könnte man immer auf die Reden der SED-Figuren verweisen, die die axiologisch verbindliche Position ausdrücken. Zugleich aber spricht der Ausgang der Geschichte eine andere Sprache, denn die Maßnahmen der Partei im Hinblick auf die Wiederherstellung der Moral auf der Baustelle sind nicht effektiv, was den Fortgang der Arbeit betrifft; und sie sind auch nicht effektiv, was die Persönlichkeit Toms angeht. Sie blickt gewissermaßen nur auf die Gesinnung, nicht aber auf die Folgen.

Nach Schibullas Rede muss Tom nicht nur die Relegation von der Baustelle hinnehmen, sondern auch erkennen, dass Grit sich der Partei fügt. Er will sich mit der Trennung jedoch nicht arrangieren. Er besteht darauf, sie noch einmal zu sehen, und betrinkt sich. Offenbar ist er schon nicht mehr Herr seiner selbst. Kurz darauf stellt sich heraus, dass er an Hepatitis erkrankt ist. Seine Trunkenheit und Schwäche halten ihn von einer Vergewaltigung ab (BS, 213).Footnote 22 Danach liegt er mehrere Wochen im Krankenhaus. Grit hält den Kontakt zu ihm, indem sie ihm ins Krankenhaus schreibt, aber sie begegnen sich nicht mehr. Nach seiner Entlassung im Spätherbst bekommt er einen neuen Auftrag, und damit ist die Beschreibung des Sommers zu Ende. Sie schließt mit der Erinnerung an einen Sommertag mit Grit.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass kritische Rezensionen sich an diesem Ende stießen. Für die positiven Einschätzungen passte die Offenheit hingegen zu dem Ansinnen, die Schlüsse aus den erzählten Ereignissen nicht vorzuschreiben, sondern den Lesern zu überlassen. Es zeigt sich, dass die einfache Liebesgeschichte eingewickelt ist in ein Netz aus Widersprüchen, das nicht ganz so leicht zu entwirren ist. Hier die dogmatische Parteiposition, die den Anspruch hat, das Privatleben ihrer Mitglieder und letztlich aller Menschen in ihrem Einflussbereich zu kontrollieren, und die sich an der Oberfläche durchsetzt; dort die Entwicklung der Ereignisse – Chaos auf der Baustelle, unverbesserlicher Ingenieur, – die ihre Ineffizienz offenbart.

Poetologisch gesehen, zeigt sich, dass der Roman wie eine Kippfigur angelegt ist.Footnote 23 Je nachdem, welche Perspektive man einnimmt, verändert sich die Bedeutung. Insbesondere die zeitgenössische Lesart offizieller Kritiker, die die dogmatische Erzählliteratur der fünfziger Jahre im Blick hatten, wird dadurch bedient, dass die Partei das Heft des Handelns in der Hand behält und sich durchsetzt. Nach dieser Lesart ist Tom moralisch ziemlich verkommen, wie Trude Neutz schon zu Anfang des Romans deutlich macht. Auch Toms Zusammenbruch stützt diese Lesart. Danach wäre er ein Anti-Held, mit dem man sich nicht identifizieren soll. Und wenn man es doch tut, dann sollte man für sich die Konsequenzen ziehen, die Tom gerade nicht zieht. Gemäß der anderen Lesart hingegen, die insbesondere heutzutage näher liegt, aber vielleicht auch damals schon gerade nicht-professionellen Lesern nahe lag, „ist Tom als Sympathieträger angelegt“ (Arend 1995, 245). Danach hätte die Liebe immer recht, und die Maßnahmen der Partei erwiesen sich als unangemessen. Ein unzuverlässiger Erzähler ist Tom auch in dieser Lesart, aber seine Vergehen wiegen weit weniger schwer.

Beschreibung eines Sommers markiert damit – ganz im Sinne der Ankunftsliteratur – die Veränderung des Literatursystems in der DDR. Wurde das Verfahren axiologischer Unzuverlässigkeit in Tinko noch im Einklang mit der sozialistischen Ideologie eingesetzt und am Ende eindeutig aufgelöst, so setzt sich dies in Jakobs’ Roman zwar fort, aber die Ideologie wird mit Bezug auf das Liebesproblem, das die Sphäre des Privaten symbolisiert, problematisiert. Hier knüpft die weitere Entwicklung an. Jakobs bleibt dem Verfahren in seinem nächsten Roman treu. Wie zu Beginn des Abschnitts erwähnt, ist auch der Ich-Erzähler Paul Satie in Ein Pyramide für mich (1971) ein unzuverlässiger Erzähler, und zwar nicht nur in axiologischer, sondern auch in mimetischer Hinsicht. In den folgenden Jahren gibt es in der DDR-Literatur immer mehr Werke mit diesem Verfahren.

Dies zu untersuchen ist eine lohnende Aufgabe und muss einem weiteren Band vorbehalten bleiben.