1 Zur Theorie des unzuverlässigen Erzählens

Die Theorie des unzuverlässigen Erzählens ist seit mehr als zwanzig Jahren einer der produktivsten Bereiche der Narratologie. Die Folge ist eine inzwischen kaum mehr zu überschauende Anzahl von Publikationen zu dem Thema. Ziel des vorliegenden Kapitels ist, eine schlanke, anwendungsorientierte Variante der Theorie des unzuverlässigen Erzählens vorzustellen, damit das eigentliche Ziel dieses Buchs erreicht werden kann: durch Einzelanalysen die Bedeutung aufzudecken, die das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens für deutschsprachige Nachkriegsromane hat. Es ist zu diesem Zweck nicht nötig, die gesamte Geschichte der Theorie seit Wayne C. Booth (1961) aufzuarbeiten und die einzelnen Vorschläge zu bewerten. Stattdessen wird an einzelnen in der Forschungsliteratur diskutierten Aspekten angeknüpft, die mir zur Erreichung des Ziels dienlich erscheinen.

Das Grundproblem, vor dem jeder steht, der erzählliterarische Texte mit Blick auf ihre Unzuverlässigkeit untersuchen möchte, besteht darin, dass höchst strittig ist, was überhaupt unter dem Begriff des unzuverlässigen Erzählens verstanden wird.Footnote 1 Es ist daher nicht zielführend, nur eine weitere Definition zu dekretieren und alles unberücksichtigt zu lassen, was dieser Definition nicht entspricht. Dies hat damit zu tun, dass es mir nicht vordringlich darum zu tun ist, einzelne Texte zu klassifizieren und mit erfolgter Einsortierung ad acta zu legen. Nein, es geht darum, mit Hilfe der Theorie unzuverlässigen Erzählens dafür in Betracht kommende Texte zu erschließen und sie unter der Fragestellung zu analysieren, was diejenigen Merkmale, die dafür sprechen, dass die Texte unzuverlässig erzählt sind, zur literarischen Bedeutung der Texte beitragen.Footnote 2 Mich interessiert also nicht nur die Frage, ob ein Text unzuverlässig erzählt ist, sondern vor allem inwiefern er unzuverlässig erzählt ist – und auch ggf. inwiefern nicht – und was das für Konsequenzen für weitergehende Interpretationsfragen hat.Footnote 3

Und dennoch: Wer danach fragt, inwiefern ein Text unzuverlässig erzählt ist, benötigt auch eine Antwort auf die Frage, ob ein Text unzuverlässig erzählt ist. Diese Frage werde ich pragmatisch zu beantworten versuchen. Das heißt: Im Kontrast etwa zu dem (theoretisch anspruchsvolleren) Ziel von Jacke (2020), auf der Basis einer ausführlichen Rekonstruktion bisheriger Ansätze mit anschließender Evaluation einen maximal anschlussfähigen Begriff zu definieren bzw. die Anschlussfähigkeit dadurch zu erreichen, dass so viele Elemente wie möglich konserviert werden, um möglichst vielen von Literaturwissenschaftlern geäußerten Intuitionen gerecht zu werden, besteht mein Weg in der pragmatischen Abkürzung, so viele Elemente wie möglich zu eliminieren, so dass ein konsensfähiges konzeptuelles Residuum entsteht, das dann – je nach Vorannahmen und speziellen Interpretationsabsichten – aufgefüllt werden kann. Metaphorisch gesagt, ist das Ziel der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle einigen können müssten.

Zu diesem Zweck werde ich im ersten Abschn. 1.1 dieses Unterkapitels die Struktur des Begriffs analysieren und im Anschluss daran einige Komponenten problematisieren. Diese weiteren Abschn. 1.2 – 1.8 sowie das zweite Unterkapitel mit Hinweisen zur zugrunde gelegten Interpretationskonzeption richten sich an Leser, die ein besonderes Interesse an theoretischen Fragen haben. Alle anderen mögen sich gleich dem dritten Unterkapitel zuwenden, in dem ich anhand von exemplarischen Kurzanalysen mein Analyseinstrumentarium vorstelle, das ich direkt aus den einzelnen Komponenten des Begriffs gewinne. Dieses dritte Unterkapitel veranschaulicht den methodologischen Teil der Theorie und gibt systematische Hinweise zur Ermittlung von Unzuverlässigkeit, während die nun folgenden Abschnitte der Frage gewidmet sind, was Unzuverlässigkeit meiner Ansicht nach im Kern ist.

1.1 Struktur des Konzepts ‚unzuverlässiges Erzählen‘

Ungeachtet seiner begriffsgeschichtlichen Herkunft aus der rhetorischen Schule der US-amerikanischen Literaturwissenschaft (Chicago School) und seiner dadurch bedingten Verbindung mit dem Konzept des impliziten Autors (vgl. Kindt/Müller 2006), mag es aufgrund der folgenden Entwicklung naheliegen, den Begriff des unzuverlässigen Erzählens auf der Basis der Narratologie zu rekonstruieren. Nutzt man die narratologische Terminologie als Metatheorie, könnte man – in erster Annäherung – den Kern des Konzepts darin erblicken, dass Teile des discours mit Teilen der histoire nicht zusammenpassen. Anders gesagt, die Wiedergabe oder Einschätzung von dem, was in der erzählten Welt geschieht, stimmt nicht in allen Fällen.

Es ist aufschlussreich zu überlegen, inwiefern diese erste Annäherung unzureichend ist. Auch der in die Debatte Uneingeweihte wird rasch bemerken, dass alle Begriffe, die in der Formulierung vorkommen, vage sind. Offen bleibt die Frage nach der Instanz: Wessen „Wiedergabe oder Einschätzung“ ist gemeint? Sodann: Was ist mit der „erzählten Welt“ gemeint? Wie verhält sie sich zur erzählten Geschichte und zur Instanz und wie zu unserer Welt? In zentraler Weise erläuterungsbedürftig ist darüber hinaus die Relation selbst bzw. ihr qualitativer Aspekt: Was heißt es, dass die Wiedergabe „nicht stimmt“? Und schließlich der angedeutete quantitative Aspekt: Hat das Ausmaß der Fälle, die nicht stimmen, Einfluss auf die qualitative Bestimmung? Betrifft die Relation den gesamten Text oder nur einzelne Teile? Wie verhält sich eine Passage zum gesamten Text? Und selbst wenn man auf diese Fragen befriedigende Antworten gefunden hat, bleibt noch ein ganzer Komplex weiterer Fragen übrig: Wie stellt man all das fest? Wie lassen sich Zuschreibungen begründen?

Ehe ich Antworten auf diese Fragen gebe, möchte ich mit Hilfe dieser Fragen zunächst die Struktur des Konzepts klären. Sein äußerliches Kennzeichen besteht darin, dass es zwei Ausdrücke zusammenbringt: „Unzuverlässigkeit“ und „Erzählen“. Es ist klar, dass „Unzuverlässigkeit“ eine besondere Eigenschaft bezeichnet, und es versteht sich, dass es diese Eigenschaft ist, um die es geht. Das Erzählen ist lediglich der Träger dieser Eigenschaft. Trotzdem sind einige klärende Worte auch dazu angebracht. Ursprünglich waren es Erzähler, denen Unzuverlässigkeit zugeschrieben wurde, aber es wurde noch nicht, wie heute, scharf zwischen Reflektor- und Erzählinstanzen unterschieden. Nach der Isolierung der Erzählinstanz mit ihrem besonderen Privileg, epistemische Autorität über die erzählte Welt zu sein, galt lange die Einschränkung, dass allein homodiegetische Erzähler unzuverlässig sein können. Dass nun vermehrt von „Erzählen“ die Rede ist, vermeidet solche Festlegungen – ganz unabhängig davon, ob sie nicht vielleicht doch sinnvoll sind. Ohnehin aber ist „Erzählen“ ein Ausdruck, der zwar im vorliegenden Zusammenhang fest etabliert ist, aber doch insofern in die Irre führen könnte, als er sich auf etwas bezieht, worum es bei der Frage nach der Unzuverlässigkeit nicht zentral geht. Dem am weitesten verbreiteten groben Verständnis nach ist Erzählen die Wiedergabe von Zustandsveränderungen bzw. Ereignissen. Für die Frage nach der Unzuverlässigkeit ist aber die Wiedergabe (oder Einschätzung) jeglicher Inhalte – um es so unverfänglich wie möglich zu formulieren – relevant. „Erzählen“ ist hier also keinesfalls in einem engen Sinne zu verstehen, sondern in einem weiten Sinn. Um dieser Gesamtheit jeglicher Inhalte terminologisch gerecht zu werden, ist von „erzählter Welt“ die Rede. Der wesentliche Punkt, der durch den Ausdruck „Erzählen“ markiert wird, ist abgesehen von dem Umstand, sich auf eine Geschichte oder gar Welt zu beziehen, der, dass die Sätze größtenteils fiktional sind und zugleich – auf einer bestimmten Ebene des Verstehens – den Anspruch haben, so verstanden zu werden, als seien sie zutreffend. Die fiktionalen Sätze eines als „Erzählen“ apostrophierten Werks mögen ihre Welt erzeugen, aber für die Frage nach der Unzuverlässigkeit ist es unabdingbar, dass diese Sätze auf einer bestimmten Ebene so gemeint und so aufzufassen sind, als drückten sie Wahrheiten aus, die die erzählte Welt ausmachen.

Im letzten Absatz tauchen einige neue Begriffe auf, von denen jeder für sich problematisch genug ist: Werk, Wahrheit, Fiktionalität. Man wird jedoch nicht ohne sie auskommen, wenn man klären möchte, was unzuverlässiges Erzählen ist. Dass Fiktionalität eine wichtige weitere Eigenschaft ist, die eine Rolle spielt, mag an dieser Stelle noch rätselhaft erscheinen, wird aber später (Anm. 7) begründet. Hier sei zunächst der andere angesprochene Aspekt als erstes Element des Konzepts verdeutlicht: Bei der Komponente des Erzählens geht es in Verbindung mit der Frage nach der Unzuverlässigkeit darum, dass sich Sätze der Erzählrede auf Sachverhalte beziehen und diese als bestehend behaupten, bzw. darum, dass mit Hilfe von Sätzen Dinge oder Ereignisse namhaft gemacht und ihnen Eigenschaften zugeschrieben werden.

Die ersten Komponenten des Konzepts lassen sich demnach folgendermaßen spezifizieren: 1. Sachverhalte 2. Aussagen der Erzählrede über diese Sachverhalte. Sachverhalt ist ein in der Philosophie des 20. Jahrhunderts vieldiskutierter Begriff. Für meine Zwecke ist er nützlich, weil er allgemeiner ist als der narratologisch etablierte Begriff des Ereignisses und zugleich spezifischer für das mit Unzuverlässigkeit verbundene epistemische Problem. Wenige Hinweise genügen, damit deutlich wird, was ich darunter verstehe. Sachverhalte, so die Sprachregelung, bestehen oder bestehen nicht. Damit sind Sachverhalte neutral im Hinblick auf die Frage, ob sie fiktiv sind oder nicht, ob sie bloß gedacht sind oder nicht oder ob sie überhaupt existieren oder nicht.Footnote 4 Aussagen, die sich auf Sachverhalte beziehen, können wahr oder falsch sein. Wahr sind sie, wenn die behaupteten Sachverhalte bestehen; falsch, wenn nicht.

Wenn man nun zu der narratologischen Formulierung zu Beginn dieses Abschnitts zurückkehrt, kann man sie dahingehend präzisieren, dass einige von den Sachverhaltsaussagen, aus denen der discours besteht, nicht zu den Sachverhalten passen, aus denen sich die histoire zusammensetzt. Damit gelangen wir zugleich zu dem anderen Ausdruck, der ein Bestandteil des Begriffsnamens ist: „Unzuverlässigkeit“. Er markiert eine Relation, die zwischen den beiden Komponenten Sachverhalt S und Sachverhaltsaussage „S“ besteht. Ein großer Teil der theoretischen Überlegungen zum Konzept ist der Frage gewidmet, was es heißen kann, dass Sachverhaltsaussagen der Erzählrede nicht zu den Sachverhalten passen, auf die sie sich beziehen; ein anderer Teil befasst sich mit der Frage, wie Unzuverlässigkeit festgestellt und die Zuschreibung begründet werden kann. Das gilt es auseinanderzuhalten.

Mit Bezug auf die Komponenten S und „S“ ist die zentrale Relation der Unzuverlässigkeit in einem ersten Schritt folgendermaßen präzisierbar: Wenn eine Sachverhaltsaussage „S“ der Erzählerrede „N“ nicht auf den ihr zugehörigen bzw. von ihr behaupteten Sachverhalt S zutrifft, ist das ein guter Grund dafür, dass „N“ (mit Bezug auf S/„S“) unzuverlässig ist. Dass „S“ nicht auf S zutrifft, lässt sich seinerseits in mehreren Hinsichten differenzieren. Kandidaten für eine Differenzierung und damit für eine weitere Präzisierung sind Unangemessenheit, Falschheit, Unvollständigkeit usw. Aber auch die Stellung von „S“ innerhalb der von der Erzählinstanz durch ihre Rede (= „N“) behaupteten Beschaffenheit der Welt ist vielleicht nicht ganz ohne Bedeutung für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit. Der Einschub, dass das Nicht-Zutreffen von „S“ zunächst nur „ein guter Grund“ – und damit noch nicht unbedingt hinreichend – für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit sei, verdankt sich der Überlegung, dass mindestens noch eine weitere Bedingung erfüllt sein muss, damit die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit rational ist. Damit komme ich zum nächsten Bestandteil des Konzepts.

Angenommen, man gelangt zu dem Schluss, dass eine Aussage „S“ der Erzählrede unzutreffend ist. Dann ist die Zuschreibung des Konzepts der Unzuverlässigkeit nur sinnvoll, wenn es zu einer Erklärung führt, warum „S“ unzutreffend ist, und zwar zu einer diegetischen Erklärung. Was heißt das? Schon früh wurde der Versuch unternommen, das Unzuverlässigkeitskonzept in eine Interpretationstheorie einzubetten, auf deren Grundlage ersichtlich werden sollte, dass dasselbe Phänomen (nämlich „S“) verschiedene Funktionen haben kann, je nachdem, welchen Kontext man zur Erklärung für „S“ heranzieht (vgl. Yacobi 1981). Dass „S“ im Rahmen der Erzählrede unzutreffend ist, könnte vom Autor ein beabsichtigter Kunstgriff (oder auch ein in Kauf genommener Lapsus) sein oder aber ein Fehler, der dem Autor versehentlich unterlaufen ist und nicht zur künstlerischen Konzeption gehört; schließlich könnte es auch ein beabsichtigter Fehler sein, um die Zensur von anderen – ideologisch brisanteren – Textstellen abzulenken (vgl. Jakobs 1986).

Diegetisch ist eine Erklärung einer falschen Aussage „S“ genau dann, wenn sich mindestens ein triftiger Grund für das Unzutreffende von „S“ in der erzählten Welt finden lässt. Ohne eine solche Erklärung könnten wir zwar sagen, dass ein Teil der Erzählrede – nämlich „S“ – unzutreffend ist. Wäre das aber allein schon hinreichend, damit man der Erzählrede Unzuverlässigkeit bescheinigen kann, fiele die Eigenschaft von „S“, unzutreffend zu sein, mit der Eigenschaft der Erzählrede zusammen, unzuverlässig zu sein. Begnügte man sich damit, begäbe man sich der Möglichkeit, einige wichtige Differenzierungen vornehmen zu können (s. u., Abschn. 1.4). Es gäbe in diesem Fall wenig Grund, an dem Begriff der Unzuverlässigkeit festzuhalten. Eine Erklärung ist demnach ein notwendiger Bestandteil des Konzepts.Footnote 5

Beim Erklären von unzutreffenden Sachverhaltsaussagen der Erzählinstanz mit Blick auf ihre mögliche Unzuverlässigkeit lässt sich häufig ein Muster erkennen, zumindest aber ein Bezugsbereich B, in dem sich die unzutreffenden Sachverhaltssausagen treffen und über den sie miteinander zusammenhängen. Wenn eine Erzählinstanz mehrere unzutreffende Sachverhaltsaussagen macht und wenn man dies erkennt und für jede dieser einzelnen Aussagen eine partikulare Erklärung angeben kann, so wird man sich damit nicht zufrieden geben. An dieser Stelle fehlt offenkundig etwas. Man hat nur einzelne Unstimmigkeiten oder Fehler entdeckt. Aber wenn sich diese Fehler nicht zueinander in Bezug setzen lassen, bleibt die Frage unbeantwortet, warum gerade sie der Erzählinstanz unterlaufen. Es ist also eine übergeordnete Erklärung erforderlich, mit deren Hilfe man angibt, in Bezug worauf der gesamte Text – und nicht nur einzelne Passagen – unzuverlässig erzählt ist. Die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit setzt demnach einen thematisch bestimmten Bezugsbereich voraus, in dem die einzelnen Textvorkommnisse (unzutreffende Sachverhaltsaussagen bzw. -darstellungen) zusammenlaufen und in dem sie ihren tieferen Grund haben (abgesehen von den jeweiligen partikularen Gründen, die für einzelne unzutreffende Sachverhaltsaussagen gelten).

Damit sind wir fast am Ende der Strukturbeschreibung angekommen. Was fehlt, ist, was man den „Maßstab“ nennen kann, anhand dessen sich das Unzutreffende einer Sachverhaltsaussage „S“ bemisst. Wie lässt sich nämlich überhaupt feststellen, ob „S“ unzutreffend ist? Da sich „S“ in seiner Eigenschaft als Teil eines oftmals fiktionalen Erzähltexts vorderhand nicht auf einen Sachverhalt bezieht, der unabhängig von seiner Versprachlichung überprüfbar ist (und der auch gar nicht unabhängig von seiner Versprachlichung existieren würde bzw. erst mit seiner Versprachlichung im Rahmen eines Werks der Erzählliteratur zu einem Untersuchungsgegenstand werden konnte), ist der erste, und zwar obligatorische Orientierungspunkt für den Maßstab der gesamte Text, dessen Bestandteil „S“ ist.Footnote 6 „S“ ist also nicht nur Bestandteil der Erzählrede, da diese ihrerseits lediglich einer von gewöhnlich mehreren Bestandteilen des gesamten Textes ist: Meistens kommt Figurenrede hinzu, aber auch paratextuelle Einheiten und extradiegetische Bestandteile können eine Rolle spielen. Die Gesamtheit dieser Informationen entscheidet also sowohl darüber, ob Zweifel an „S“ aufkommen, als auch darüber, ob „S“ wirklich unzutreffend ist.

Die Erklärungen dafür, warum eine Erzählrede unzuverlässig ist, speisen sich aus Informationen über die erzählte Welt, die zunächst jedenfalls irgendwo im Text vorliegen müssen. Nur in den Fällen, in denen der Text keine ausreichenden Informationen gibt, damit die sich aus der unzutreffenden Sachverhaltsaussage ergebende Erklärungslücke gefüllt werden kann, muss ein Kontext bestimmt werden, der die fehlenden Informationen zur Verfügung stellt. Ein solcher Kontext ist der zweite, fakultative Orientierungspunkt für den Maßstab.

Wenn man, wie hier geschehen, die Bedingungen der Zuschreibung des Konzepts in die Beschreibung seiner Struktur aufnimmt, ergibt sich ein recht komplexes Bild. Dieses Bild zeigt, warum es bislang nicht gelungen ist, Einigkeit über die nähere Bestimmung dessen zu erzielen, was wir eingangs in einer noch sehr vagen Formulierung vorgestellt haben. Die Komplexität des Bildes (= der Struktur des Konzepts) verdeutlicht, dass es sozusagen eine ganze Reihe von Stellschrauben gibt, an denen man drehen kann. Oder anders gesagt, es gibt eine Reihe von Bildpunkten, über deren genaue Beschaffenheit verschiedene Meinungen existieren. Vorläufig sind diese Bildpunkte noch recht unscharf. Aber unsere einführende Beschreibung der Struktur gibt uns nun die Möglichkeit, diese Punkte zu identifizieren und, in den folgenden Abschnitten, genauer zu bestimmen, indem wir die Unschärfe Punkt für Punkt reduzieren:

  1. 1.

    Sachverhalt S der erzählten Welt W

  2. 2.

    Sachverhaltsaussage „S“ der Erzählerrede „N“

  3. 3.

    Inkongruenz-Relation IR („S“ trifft nicht auf S zu): faktische Wahrheit, Wertung (sprachlicher und nicht-sprachlicher Handlungen)

  4. 4.

    Diegetische Erklärung E der Inkongruenz

  5. 5.

    Bezugsbereich B inkongruenter Sachverhaltsaussagen

  6. 6.

    Maßstab M für Kongruenz

Es ist klar, dass der neue Begriff der Kongruenz ein Platzhalter dafür ist, was ich bislang mit den Ausdrücken „(nicht) stimmen“, „(nicht) passen“ oder „(nicht) zutreffen“ umschrieben habe. Über jeden dieser einzelnen Punkte lässt sich sehr viel mehr sagen, als es in der einführenden Skizzierung der Angelegenheit sinnvoll ist. Je genauer man diese Punkte fasst und je mehr Differenzierungen erforderlich sind, damit man der Sache gerecht wird, desto mehr Entscheidungen sind zu treffen, damit Unzweckmäßiges aus dem Konzept ausgesondert und seine Komplexität reduziert wird.

Bei der einführenden Strukturbeschreibung des Konzepts war es unumgänglich, die genannten Punkte zwar auf dem Bild ungefähr zu verorten, aber noch nicht auf jeden einzelnen scharf zu stellen bzw. bestimmte Vereinfachungen vorzunehmen. Diese Vereinfachungen werde ich in den folgenden Abschnitten Schritt für Schritt abarbeiten, nicht nur um auf diese Weise zu verdeutlichen, was ich unter dem Begriff verstehe, sondern auch um diese Auffassung des Begriffs zu empfehlen. Die folgenden Problematisierungen der einzelnen Strukturkomponenten führen dazu, dass aus dem Begriff eine Theorie wird.

1.2 Sachverhalte und Werte/Normen

Bereits im vorangegangenen Abschnitt sind einige Begriffe aufgetaucht, die ich teilweise anstelle des Begriffs des Sachverhalts oder in seinem Umfeld benutzt habe. Wie die bisherigen Debattenteilnehmer habe ich statt von Sachverhalten auch von Tatsachen gesprochen, statt von Aussage auch von Rede. Schließlich fiel auch der Ausdruck „Information“, von dem jedoch nicht einmal klar ist, ob er ein Synonym für „Sachverhalt“ oder für „Sachverhaltsaussage“ sein soll. In diesem Abschnitt möchte ich die hinter der Begriffswahl versteckte Problematik aufdecken und begründen, warum ich den des Sachverhalts benutze.

Wie im vorigen Abschnitt bereits verdeutlicht, hat die Rede von Sachverhalten gegenüber der von Tatsachen den Vorteil, dass sie fiktionstheoretisch neutral ist. Wichtig ist aber etwas anderes: Sachverhalt ist ein Begriff, der eindeutig der erzählten Welt zuzuordnen ist und ihre möglichen Einheiten erfasst. Der Begriff ist also interpretatorisch neutraler als der der Tatsache. Während man sich mit dem Gebrauch von „x ist (in der erzählten Welt eW) eine Tatsache“ darauf festlegt, dass x in eW der Fall ist, bleibt die Rede von Sachverhalten diesbezüglich neutral. Gerade im Zusammenhang mit der Frage nach der Unzuverlässigkeit der Erzählrede, also danach, ob das in der Erzählrede behauptete x in eW tatsächlich der Fall ist, ist diese Neutralität zumindest ein methodischer bzw. formulierungsstrategischer Vorteil.

Ein anderer Vorteil besteht darin, dass der Begriff des Sachverhalts präziser ist als etwa der der Information, nicht nur weil er im Gegensatz zu diesem nur Einheiten der erzählten Welt umfasst (im Begriff der Information verschwimmt der Unterschied zwischen histoire und discours, erzählter Welt und Erzählrede), sondern auch weil man mit seiner Hilfe gezwungen ist, genau anzugeben, von welchem Gegenstand der erzählten Welt die Rede ist und in welchem Zustand er sich befindet. Der Begriff des Sachverhalts zwingt uns zur genauen Angabe dessen, was es ist, das in der Erzählrede unzutreffend dargestellt wird.

Ein Sachverhalt konstituiert sich durch mindestens einen Gegenstand und mindestens eine seiner Eigenschaften. Der Gegenstand ist in einem bestimmten Zustand, oder es vollzieht sich an ihm ein Vorgang. Einen Sachverhalt anzugeben heißt, einen bestimmten Ausschnitt der Welt zu betrachten, in dem das Verhältnis (mindestens) eines Gegenstandes und (mindestens) einer seiner Eigenschaften zu sehen ist. Diese Redeweise mag mit Bezug auf unsere Welt wenigstens noch teilweise angemessen sein. Mit Bezug auf bloß erzählte, aber nicht (mehr) aktuelle Welten hilft einem diese Redeweise nicht viel weiter. Es lässt sich auch ohne perzeptive Metaphorik formulieren: Wenn wir einen bestehenden Sachverhalt kennen, wissen wir, was der Fall ist mit Bezug auf den Gegenstand und die Eigenschaft, die den Sachverhalt ausmachen.

Bislang habe ich nur von Sachverhalten gesprochen, ohne die Frage nach einer möglichen Binnendifferenzierung des Begriffs zu stellen. Eine mögliche Binnendifferenzierung wäre, solche Sachverhalte, die konkrete Gegenstände enthalten, von solchen zu unterscheiden, die abstrakte Gegenstände enthalten. Sachverhalte kann man also nach ihrer Art unterscheiden: Es gibt empirische Sachverhalte, die perzeptiv erfahrbare Eigenschaften der erzählten Welt beinhalten. Zum einen sind dies singuläre Sachverhalte, einzelne Ereignisse oder Tatsachen etwa, die jeweils konkrete Einzeldinge betreffen. Von dieser Gruppe lassen sich generelle Sachverhalte unterscheiden, die die allgemeinen Eigenschaften der Welt ausmachen: Gewohnheiten, Regelmäßigkeiten, Naturgesetze, aber auch logisch-mathematische Gesetze. Denkbar sind weitere Unterscheidungen, die die hier beispielhaft genannten weiter verfeinern oder auch ganz anderen Kriterien folgen.

Sachverhalt ist ein Begriff, der in unserem Problemzusammenhang eine Reihe weiterer Fragen aufwirft. Sie liegen in einem Bereich der Literaturtheorie, in dem sich Fragen der Narratologie mit solchen der Fiktionstheorie und der Interpretationstheorie überlappen. Die Kernfrage in diesem Zusammenhang lautet, wie sich denn überhaupt feststellen lässt, was in der Fiktion bzw. in der erzählten Welt der Fall ist, wenn wir keinen anderen Zugang zu ihr haben (können) als einen Text, der sie präsentiert, und wenn wir überdies damit rechnen müssen, dass nicht alles, was im Text steht bzw. innerhalb der Erzählrede behauptet wird, zutreffend ist. Eine Antwort darauf ist nicht so einfach, weil erzählte bzw. fiktive Welten im Gegensatz zu unserer unvollständig, zumindest aber stark unterdeterminiert sind.Footnote 7 Es gibt Sachverhalte, von denen man annehmen muss, dass sie in der erzählten Welt bestehen, ohne dass sie im Text behauptet werden. Man muss annehmen, dass diese Sachverhalte in irgendeinem Verhältnis zu unserer Welt stehen. In welchem genau, können wir hier nicht weiter diskutieren. Aber wir können festhalten: Die erzählte Welt ist nicht diskret. Um der Erzählrede Unzuverlässigkeit zuzuschreiben, müssen wir ggf. Sachverhalte in Rechnung stellen, deren Bestehen nicht allein auf der Basis des Textes ermittelbar ist. Diese Überlegung führt uns also zu einer weiteren Differenzierung, die jetzt nicht die Art der Sachverhalte betrifft, sondern ihren Status: Wir unterscheiden zwischen rein diegetischen Sachverhalten (= nur in der erzählten Welt – in diesem Fall also: Fiktion – bestehenden Sachverhalten) und auch realen Sachverhalten (= sowohl in der Fiktion als auch in der Realität bestehenden Sachverhalten). Wenn S rein diegetisch ist, dann besteht S nur in der erzählten Welt, nicht aber in unserer; wenn S auch real ist, dann besteht S sowohl in der erzählten Welt als auch in unserer, so dass sich für die Interpretation relevante Implikationsverhältnisse öffnen. Ein drittes Merkmal eines Sachverhalts ist sein Stellenwert. Hier lässt sich zwischen peripheren und zentralen Sachverhalten unterscheiden. Die Grenze dazwischen lässt sich nicht scharf ziehen, aber es dürfte einleuchten, dass nicht alle Sachverhalte einer Geschichte denselben Stellenwert haben. Es gibt wichtige und weniger wichtige Sachverhalte. Kriterien für den Stellenwert eines Sachverhalts sind zum einen die Häufigkeit seiner Erwähnung und zum andern die Stärke seiner Verflechtung mit anderen Sachverhalten bzw. mit der Geschichte als ganzer. Häufigkeit und Stärke sind aber keine Ausschlusskriterien. Auch ein marginal erwähnter und minimal verflochtener Sachverhalt kann einen zentralen Stellenwert annehmen, wenn er genügend Eigengewicht besitzt, das sich etwa in seiner kausalen Wucht entfalten kann (d. h., wenn es zu einer Deutungsumkehr führt). Man könnte von dem Revisionspotential eines Sachverhalts als drittem Kriterium für seinen Stellenwert sprechen.

Wissen wir alles über die erzählte Welt, wenn wir wissen, was in ihr alles der Fall ist? Kennen wir die gesamte erzählte Welt, wenn wir alle bestehenden Sachverhalte kennen? Nein. Von den Sachverhalten lassen sich Normen bzw. Werte unterscheiden, die die in der erzählten Welt geltenden Handlungsvorschriften und -empfehlungen sowie Wertungen umfassen. Normen und Sachverhalte können auch in einem bestimmten Wechselverhältnis stehen: Wenn in einer erzählten Welt (eW) körperliche Gewalt gegen Kinder als legitimes Mittel zu ihrer Erziehung positiv eingeschätzt wird, bildet das nicht nur eine Wertauffassung ab, sondern ist auch ein Sachverhalt, der diese Welt charakterisiert. Dass solche Normen in eW gelten, ist eine Sachverhaltsaussage, also eine deskriptive Aussage über die Beschaffenheit von eW; dass es – unabhängig von eW, sondern generell, also auch in unserer Welt – gut oder legitim ist oder wäre, Kinder körperlich zu züchtigen, ist hingegen ein normatives Urteil. Ebenso handelt es sich um einen Sachverhalt, wenn in eW körperliche Gewalt gegen Kinder als legitimes Mittel zu ihrer Erziehung eingesetzt wird. Davon zu unterscheiden ist sowohl der Sachverhalt, dass das in eW positiv oder negativ eingeschätzt wird, als auch das normative Urteil, dass das gut oder schlecht ist.

Insbesondere die aufgeführten Arten von Sachverhalten ließen sich weiter differenzieren. Im Rahmen einer Theorie der Unzuverlässigkeit ist die weitere Auffächerung nach Unterarten von Sachverhalten jedoch nicht notwendig, da eine Differenzierung keine Auswirkung auf die Theorie hat.Footnote 8 Wichtig ist nur, zwischen Sachverhalten und Normen bzw. Werten zu unterscheiden, denn das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Aussagentypen. Mit Bezug auf Werte und Normen ist zudem festzuhalten, dass ihre Geltung nicht analog zum Bestehen von Sachverhalten zu verstehen ist. Welche Normen gelten und wie groß ihr Geltungsbereich tatsächlich ist, ist in der Regel noch strittiger als die Frage, ob etwas der Fall ist oder nicht.

1.3 Deskriptive Aussagen und axiologische Urteile

Mindestens seit Phelan/Martin (1999) und Martínez/Scheffel (1999) ist es üblich, verschiedene Formen der Unzuverlässigkeit zu unterscheiden. Diese und andere Unterscheidungen sind nicht alle deckungsgleich. Aber sie alle basieren auf der Beobachtung, dass eine Erzählung falsche Auskünfte über verschiedene Arten von Gegenständen geben kann – wie eben Sachverhalte einerseits bzw. Normen und Werte andererseits. Es spricht viel dafür, an dieser Zweiteilung festzuhalten, da alternative Vorschläge, die eine feinere Differenzierung vorsehen, letztlich auf diese grundlegende Dichotomie rückführbar sind.Footnote 9

Damit komme ich zu der Komponente, die in der Struktur des Begriffs das Gegenstück zur erzählten Welt mit ihren Sachverhalten und Normen bzw. Werten bildet, zur Komponente der Sachverhalts- bzw. Norm-/Wertdarstellung. Auch hier werde ich nur einige erläuternde Überlegungen für eine Regale füllende philosophische Problematik anführen, bevor ich mich im nächsten Abschnitt ausführlich mit der Relation von Sachverhalt und Sachverhaltsdarstellung, also mit dem zentralen Moment der Kategorie, auseinandersetze.

Ich gehe davon aus, dass Sachverhaltsaussagen deskriptiv sind und wahrheitswertfähig, normative Aussagen jedoch nicht; deskriptive Aussagen geben an, was der Fall ist in der erzählten Welt (oder was nicht), während normative Aussagen angeben, wie sich Figuren verhalten sollten oder ob sie sich gut verhalten oder nicht, unabhängig davon, dass sie sich so oder so verhalten. Deskriptive Aussagen stellen Sachverhalte dar, normative Aussagen bewerten sie. Solche normativen Aussagen setzen also deskriptive Aussagen voraus und satteln sozusagen auf ihnen auf.Footnote 10 Dabei ist zu beachten, dass normative Urteile selbst wiederum unterteilbar sind, etwa in Urteile über Handlungen einerseits und andererseits Urteile über Beweggründe und Charakterzüge, die mit bestimmten Handlungen in Verbindung gebracht werden. Letztere sind Werturteile, zu den Urteilen über Handlungen gehören Handlungsvorschriften.Footnote 11

Die Unterscheidung zwischen Sachverhalten und Normen bzw. zwischen deskriptiven und normativen Aussagen hat konkrete Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Theorie der Unzuverlässigkeit. Die Andersartigkeit der Aussagentypen und ihrer Gegenstände (nämlich Normen und Sachverhalte) zieht unterschiedliche Begründungsstrategien nach sich, so dass es nötig ist, zwischen den genannten zwei Typen von Unzuverlässigkeit zu unterscheiden. Dementsprechend gibt es gute Gründe auch für die Annahme unterschiedlicher Maßstäbe bei der Beurteilung von deskriptiven und normativen Aussagen im Hinblick auf die Frage, ob sie bzw. welche (mimetisch bzw. axiologisch) richtig sind. Dies werde ich im Abschn. 1.8 über die Strukturkomponente ‚Maßstab‘ ausführen.

Werturteile haben nicht nur moralische Werte zum Gegenstand, sondern schließen selbstverständlich auch alle möglichen anderen Werte ein, etwa ästhetische oder instrumentelle.Footnote 12 Aufgrund der strukturellen Verwandtschaft moralischer Urteile und Werte mit anderen Werturteilen und ihrer gemeinsamen Opposition zu deskriptiven Aussagen ist auch von axiologischen Urteilen die Rede. Im Gegensatz insbesondere zu instrumentellen Werturteilen, die über die Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit von Dingen und Methoden entscheiden, sind moralische Urteile und mehr noch das moralische Verhalten der erzählenden Figur bevorzugter Gegenstand unzuverlässigen Erzählens. Dieser doppelte Bezugsraum macht das axiologisch unzuverlässige Erzählen besonders kompliziert, denn man hat es einerseits mit Sachverhaltsaussagen über moralisches Handeln oder Verhalten in der erzählten Welt zu tun, das einer axiologisch-moralischen Einschätzung unterliegt, und andererseits mit axiologisch-moralisch bedeutsamen Urteilen der Erzählinstanz, und dies in homodiegetischen Erzählungen einmal in ihrer Eigenschaft als erlebendes Ich und zum andern in ihrer Eigenschaft als erzählendes Ich.

Dieser Umstand ist es, der interpretative Zuschreibungen in diesem Bereich außerordentlich voraussetzungsreich macht. Ein Beispiel mag das verdeutlichen, wobei ich nicht umhin kann, der weiteren Strukturbeschreibung schon etwas vorzugreifen, und Begriffe benutze, die ich erst im nächsten Einschnitt einführe. – Das Beispiel: Oskar Matzerath, der Erzähler der Blechtrommel, verrät seinen Onkel und potentiellen Vater Jan Bronski, als die Polnische Post bei Kriegsbeginn eingenommen wird, denn er „imitierte klägliches Weinen und wies auf Jan, seinen Vater, mit anklagenden Gesten, die den Armen zum bösen Mann machten, der ein unschuldiges Kind in die Polnische Post geschleppt hatte, um es auf polnisch unmenschliche Weise als Kugelfang zu benutzen“ (B, 298).Footnote 13 In der Folge wird Jan erst misshandelt und später erschossen, während es Oskar darum geht, sich und vor allem seine Blechtrommeln in Sicherheit zu bringen, was ihm auch gelingt.

Dass Oskar Jan verrät, ist ein Sachverhalt, der Oskar zufolge in der erzählten Welt der Blechtrommel besteht. Der Frage nach der Bewertung von Oskars Handlung liegt also erst einmal eine Sachverhaltsaussage zu Grunde. Ohne große Nachforschungen anzustellen, kann man davon ausgehen, dass diese Handlung Oskars in der Welt der Blechtrommel, moralisch gesehen, nicht richtig ist und dass sie auch im Rahmen des Werks so gemeint ist, dass man sie als nicht gut bewertet. Ließe der Erzähler es damit sein Bewenden haben, so wie er sein Engagement für Bebras Fronttheater und damit sein Engagement für gute Laune bei Wehrmacht- und SS-Soldaten nicht weiter bewertet, hätte man gute Gründe, Oskar diesbezüglich für axiologisch unzuverlässig zu halten. Wenn Oskar das Urteil unterschlägt, dass er moralisch schlecht bzw. entgegen den Werknormen handelt oder gehandelt habe, dann – so jedenfalls die herrschende Meinung seit Booth (1961) – ist er als Erzähler unzuverlässig, weil er dadurch Werte qua Handlung transportiert, die den dem Werk zuzuschreibenden Werten entgegengesetzt sind.

Allerdings verurteilt Oskar sofort sein damaliges Handeln, nennt es „Judasschauspiel“ (B, 298) und „meine zweite große Schuld“ (B, 299). Als erzählendes Ich verurteilt er sein damaliges Handeln. Dass er an dieser Stelle unzuverlässig erzählt, lässt sich also nicht sagen, da er sich mit seinem Schuldeingeständnis von seiner schlechten Handlung distanziert und damit also für den richtigen Wert einsteht.

Doch gibt es weitere Umstände, die die Angelegenheit erheblich verkomplizieren. Man muss dazu wissen, dass Oskar den gutmütigen Jan zuvor um Hilfe gebeten und dazu gebracht hat, mit ihm in die Polnische Post zu fahren, um seine lädierte Blechtrommel vom Hausmeister Kobyella reparieren zu lassen. Dort angekommen, findet er in der Dienstwohnung des geflohenen Oberpostsekretärs sogar eine neue Blechtrommel. Aber „schuldig gemacht hatte“ ihn angeblich die schadhafte Trommel (B, 305), d. h. Oskar sieht seine Schuld darin, Jan Bronski zurück ins Postgebäude geführt zu haben. Das aber ist nicht der Fall, denn Jan ist selbst auf die Idee gekommen, zurück zum Postgebäude zu fahren, das er gerade erst verlassen hat, und die Trommel vom Hausmeister reparieren zu lassen (B, 262). Oskars Schuldeingeständnis verdankt sich also einer Fehleinschätzung. Schuldig ist er, weil er seine persönlichen Interessen höher stellt als das Wohlbefinden Jan Bronskis und weil er sich gegenüber dem, der ihm selbstlos geholfen hat (denn Jan wollte die Polnische Post gar nicht verteidigen), höchst illoyal verhält und ihn „mit anklagenden Gesten“ denunziert für etwas, was er noch nicht einmal getan hat. Der Grund, den Oskar angibt, ist also falsch. Er ist an Bronskis Tod genauso wenig schuld wie an dem seiner Mutter, an dem er sich bei der Gelegenheit auch schuldig zu sein bekennt. Er ist nach alldem mit Bezug auf diese Passage also doch axiologisch unzuverlässig, aber aus einem anderen Grund als den, den er angibt, weil er kein Einsehen in seine eigentliche Schuld hat, sondern nur auf seine Rolle als kausales Antezedens einer Ereignisreihe verweist, an deren Ende die Hinrichtung von Jan Bronski steht.

Das einleitende Zitat enthält noch eine andere axiologisch fragwürdige Zuschreibung: dass Jan ihn, den kleinen Oskar, „auf polnisch unmenschliche Weise als Kugelfang“ instrumentalisiert habe. Die Verknüpfung von „polnisch“ und „unmenschlich“ drückt eine Haltung aus, die der NS-Propaganda und auch nicht wenigen Zeitgenossen eigen war, aber sicher nicht als Schluss zu sehen ist, den man aus der Lektüre der Blechtrommel ziehen soll. Es ist auch nicht so gemeint, dass wir glauben sollen, dass Oskar meint, was er sagt, hier also, dass er meint, es gebe eine „polnisch unmenschliche Weise“, auf die er von Jan instrumentalisiert wurde. Er ist nicht nur nicht instrumentalisiert worden und schon gar nicht auf „polnisch unmenschliche Weise“. Dass er nicht instrumentalisiert worden ist, hat er zugegeben. Es handelt sich auch hier natürlich nicht um unzuverlässiges Erzählen. Aber wie verhält es sich mit der in Rede stehenden Verknüpfung des Ethnonyms mit dem Wertausdruck? Oskar wäre diesbezüglich unzuverlässig, wenn er tatsächlich der Überzeugung wäre, die er mit dieser Wendung präsupponiert. Aber es gibt sonst keinen Anlass, Oskar für rassistisch oder national-chauvinistisch zu halten. Daher ist es eher eine Form von Ironie, die voraussetzt, dass Oskar ein Sprecher ist, der dazu auch fähig ist; auf jeden Fall eine Form von uneigentlicher Rede, durch die Oskar NS-affine Überzeugungen darstellt, deren er sich damals bediente, um sein Ziel auf Jan Bronskis Kosten durchzusetzen. Oskar präsupponiert mit der Wendung also keine Bewertung, die mit behauptender Kraft ein allgemeines Urteil über polnisches Nationalverhalten fällt, sondern stellt diese zeittypische Bewertung in Form einer Anspielung lediglich dar.Footnote 14

Im Vergleich zu normativen Aussagen, die sich in einem Werk nicht nur durch explizite Werturteile des Erzählers, sondern auch, wie dargestellt, durch erzählte Handlung vermitteln, sind Sachverhaltsaussagen im Allgemeinen weniger unklar. Aber Literatur wäre nicht Literatur, gäbe es nicht auch hier Schwierigkeiten. Wiederum anhand der Blechtrommel sei auch darauf kurz eingegangen, damit deutlich werde, was es mit Sachverhaltsaussagen auf sich hat und welche Art von Annahmen die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit in diesem Zusammenhang voraussetzt.

Wichtig für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit in Bezug auf Sachverhalte ist die Vorstellung, dass eine Erzählinstanz weltwiedergebend ist. Eine Erzählinstanz, die demgegenüber welterzeugend ist, könnte zwar im Prinzip auch unzuverlässig sein, aber in der Regel wird sich die Frage gar nicht stellen, denn über in einer (in der Fiktion) erfundenen Welt bestehende oder nicht bestehende Sachverhalte zu streiten, ist eine müßige Angelegenheit. Weltwiedergebend sind solche Erzählungen, deren Erzählinstanzen NI als unabhängig von ihren erzählten Welten eW gedacht werden (auch wenn NI ein Teil von eW sind); welterzeugend solche, deren NI ihre eW erfinden (so dass, umgekehrt, eW Teil von NI ist).Footnote 15

Interessant sind nun solche Fälle, in denen eine Erzählinstanz sowohl als weltwiedergebend als auch als welterzeugend aufgefasst werden kann, eben in der Blechtrommel, wie im betreffenden Abschn. VII.3 gezeigt wird. Oskar wird von den meisten Interpreten als ein partiell welterzeugender Erzähler aufgefasst, so dass viele seiner phantastisch anmutenden mimetischen Behauptungen (= Sachverhaltsaussagen) im Rahmen der Fiktion als wahr und zuverlässig eingestuft werden. Betrachtete man ihn, den seine Umgebung entweder für zurückgeblieben oder unzurechnungsfähig hält, jedoch als einen ausschließlich weltwiedergebenden Erzähler, müssten sehr viele seiner Behauptungen als (in der Fiktion) falsch gelten – und ihr Sinn darin liegen, dass sich in seinen Hirngespinsten das, was der Roman sagen will, allenfalls indirekt zeigt: etwa dass es (siehe Alfred Matzerath) kleinbürgerliche Nazis gab, die das Regime getragen haben, aber auch gute Kerle waren, weil sie den Sohn vor der Euthanasie bewahrten oder gut kochen konnten; dass es eine individuelle Normalität gab, als das größte Menschheitsverbrechen innerhalb kürzester Zeit ins Werk gesetzt wurde; dass in der Nachkriegszeit kaum jemand daran gedacht hat usw.

Mit der Vorstellung, in einem Roman sei ja sowieso alles fiktiv und deshalb könne man nie bestimmen, ob die Erzählinstanz die Unwahrheit sage, begäbe man sich von vornherein der Anwendung unserer Kategorie. Wer das glaubt, dem wird die ganze Abhandlung nichts mitzuteilen haben. Wer demgegenüber der Überzeugung ist, dass in fiktionalen Erzählwerken mitunter fingiert wird, dass es sich im Großen und Ganzen um einen Text handelt, der die Welt, von der er erzählt, als wirklich darstellt, der wird auch zugestehen können, dass es vorkommt, dass Erzählinstanzen etwas in der Fiktion Falsches behaupten. In diesem Sinne weltwiedergebend zu sein, ist eine Vorstellung, die für die Zuschreibung von mimetischer Unzuverlässigkeit eine entscheidende Annahme darstellt (s. u., Abschn. 2.1, die Bemerkungen zur Mimesis-Präsumtion).

1.4 Mimetische Inkongruenz-Relation: Sachverhaltsaussage und Sachverhalt

Kehren wir zurück zu der Formulierung, die ich zu Beginn des Abschn. 1.1 als erste Annäherung an die zentrale Intuition, wenn vom unzuverlässigen Erzählen die Rede ist, gewählt habe: Die Wiedergabe oder Einschätzung von dem, was in der erzählten Welt geschieht, stimmt nicht in allen Fällen. Im weiteren Verlauf habe ich zur Bezeichnung der in dieser Formulierung ausgedrückten Relation auch alternative Begriffe ins Spiel gebracht. Mal hieß es, dass die Wiedergabe (oder Einschätzung) nicht passe, mal habe ich geschrieben, dass sie nicht zutreffend oder auch nicht richtig sei.

Zu beachten ist dabei zunächst, dass ich „Einschätzung“ und „Wiedergabe“ nicht als Synonyme verstehe. Der Unterschied besteht darin – man ahnt es nach Lektüre der vorangegangenen Abschnitte bereits –, dass der Gegenstand einer Wiedergabe bloß Sachverhalte sind und der Gegenstand einer Einschätzung darüber hinaus Werte oder Normen.Footnote 16 Eine Einschätzung ist etwas anderes als eine Wiedergabe (eines Sachverhalts), weil eine Einschätzung sowohl den Sachverhalt voraussetzt, der ihr Gegenstand ist, als auch aus einer Wertzuschreibung besteht. Da Einschätzungen im Sinne von Wertzuschreibungen den Sachverhalt voraussetzen, konzentriere ich mich zunächst auf die Frage, was es heißt, dass die Wiedergabe von dem, was in der erzählten Welt geschieht, nicht stimmt, nicht passt, nicht zutrifft, nicht richtig, nicht korrekt, nicht angemessen, nicht plausibel ist.

Alle diese Varianten, wenn auch einige wie „nicht plausibel“ die Relation abzuschwächen scheinen, beurteilen das Verhältnis von Sachverhalt und Sachverhaltsaussage letztlich danach, ob die Aussage wahr ist oder falsch. Das härteste und zugleich einfachste Kriterium für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit an einen Erzähltext ist demnach, dass mindestens eine Sachverhaltsaussage über die erzählte Welt falsch ist.

An dieses Kriterium sind u. a. folgende Fragen zu richten:

  1. 1.

    Ist es notwendig für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit? Oder gibt es auch unzuverlässig erzählte Texte, die keine falschen Sachverhaltsaussagen enthalten?

  2. 2.

    Ist es hinreichend für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit? Oder gibt es Texte, die falsche Sachverhaltsaussagen enthalten, aber (in Bezug darauf) nicht unzuverlässig erzählt sind?

  3. 3.

    Spielen die Quantität und Qualität falscher Sachverhaltsaussagen für die Zuschreibung eine Rolle?

  4. 4.

    Wie verhält es sich mit Sachverhalten, über die der Text kein abschließendes epistemisches Urteil erlaubt, d. h. deren Bestehen oder Nichtbestehen vom Text nicht eindeutig belegt wird?

Im aktuellen Abschnitt widme ich mich der ersten Frage, der zweiten im folgenden Abschn. 1.5. Die dritte Frage hängt mit dem Bezugsbereich der Kategorie zusammen, der Gegenstand von Abschn. 1.7 ist. Auf die vierte Frage gehe ich auch im nächsten Abschn. 1.5 ein, im Zusammenhang mit dem 3. Einwand, und komme auf das analoge Problem bei axiologischen Urteilen am Ende des Kapitels in Abschn. 1.8 zurück, in dem die Frage nach dem Maßstab erörtert wird.

Was die erste Frage angeht, so gibt es eine Reihe von prominenten Abhandlungen, in denen ein zusätzliches Kriterium veranschlagt wird.Footnote 17 Mit dem Kriterium der Unvollständigkeit werden auch solche Texte als unzuverlässig erzählt erfasst, die zwar keine falschen Sachverhaltsaussagen enthalten, aber auch nicht die ganze Wahrheit über die erzählte Welt. Durch die Akzeptanz dieses Kriteriums nimmt die Definition von (mimetischer) Unzuverlässigkeit die Form einer Disjunktion an. Sie wird deutlich komplexer. Es wäre gut, wenn man die Komplexität reduzieren könnte, ohne damit aber gezwungen zu sein, bestimmte Fälle unzuverlässigen Erzählens nicht berücksichtigen zu können. Dies umso mehr, als das Kriterium der Unvollständigkeit allein Probleme mit sich bringt, die zu einer Überdehnung der Kategorie der Unzuverlässigkeit und damit zu einem schweren Distinktionsverlust führen.

Ich habe schon erwähnt, dass erzählte Welten notorisch unterdeterminiert sind. Das heißt nichts anderes, als dass die Menge der Sachverhaltsaussagen nicht nur weitaus geringer ist als die der bestehenden Sachverhalte in der erzählten Welt, sondern auch dass es keine Möglichkeit gibt, diese Menge der Sachverhaltsaussagen durch Beobachtung zu vergrößern – denn der Text ist ja abgeschlossen, die erzählte Welt sowieso nicht zugänglich. Man kann nur extratextuelle Sachverhaltsaussagen im Rahmen einer Interpretation ergänzen, die aber – unnötig zu erwähnen – einen völlig anderen Status besitzen als die Sachverhaltsaussagen, die Bestandteil des Textes sind.

Führte also die Unvollständigkeit der Erzählerrede allein bereits zur Zuschreibung von Unzuverlässigkeit, wäre schlechterdings jeder Text unzuverlässig erzählt. Man benötigt also ein weiteres (Unter-)Kriterium, um das Unvollständigkeitskriterium in seiner Reichweite so stark einzuschränken, dass nur noch ganz bestimmte Texte darunter fallen. Um auszuschließen, dass jegliche Unvollständigkeit als Grund für Unzuverlässigkeit herhalten kann, ist man auf die Idee gekommen, nur die für die Frage nach der Unzuverlässigkeit relevanten Sachverhaltsauslassungen in der Formulierung des Kriteriums zu berücksichtigen.Footnote 18 Wie genau Relevanz hier zu verstehen ist, bleibt in den meisten Untersuchungen jedoch offen.Footnote 19 Bei dem Begriff handelt es sich offensichtlich um einen Platzhalter. Aber gemeint ist damit so etwas wie, dass solche ausgelassenen Sachverhalte irrelevant sind, deren Bestehen oder Nicht-Bestehen für die (Primär-)Interpretation (im Sinne der Ermittlung dessen, was in der erzählten Welt der Fall ist) unerheblich sind. Irrelevant sind also solche tatsächlich ausgelassenen Sachverhalte, deren mögliche Behauptung an der Beschaffenheit der erzählten Welt nichts ändern würde.

Allerdings ist dieses Verständnis von Relevanz noch viel zu schwach. Nicht nur jeder Krimi, aber Krimis in besonders anschaulicher Weise nutzen das Verfahren, auch für die Frage nach der Beschaffenheit der erzählten Welt höchst relevante Sachverhalte den Lesern bis zum Ende vorzuenthalten. Es wäre offenkundig nicht zweckmäßig, alle diese Fälle für unzuverlässig erzählt zu halten. Dass Krimis am Ende in der Regel eine Auflösung bieten, hilft hier nicht weiter, denn viele unzuverlässig erzählte Texte tun dies auch. Der Unterschied zwischen diesen Fällen scheint stattdessen darin zu liegen, dass in Krimis mit dem Verfahren des falschen Verdachts operiert wird und in unzuverlässig erzählten Texten mit dem Verfahren falscher Vermittlung (was nicht ausschließt, dass beides, wie etwa in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd, kombiniert wird).

Indes ist nicht nur der Begriff der Relevanz problematisch. Auch der Begriff der Unvollständigkeit bringt ein Problem mit sich. Es besteht darin, dass nicht alle Erzähltexte „relevante“ Sachverhalte nur an einer bestimmten Stelle auslassen, später aber nachreichen. In diesem Fall ist der Text gar nicht unvollständig (vgl. Stühring 2011, 96). Aus diesem Grund könnte man versuchen, das Kriterium mangelnder Vollständigkeit und das Kriterium mangelnder Wahrheit miteinander zu verbinden.

Die Erläuterung dessen, was im vorliegenden Zusammenhang unter Relevanz zu verstehen ist, weist uns hierfür den Weg. Neuere Vorschläge bemühen die Fiktionstheorie (bzw. eine bestimmte, nämlich kognitivistische Variante), um die beiden Kriterien zu vermitteln.Footnote 20 Wenn man aber dem Prinzip folgt, Begriffsexplikationen um ihrer Einfachheit willen von theoretischen Voraussetzungen und weiteren Komponenten (Vorstellungen von Rezipienten) möglichst frei zu halten, lässt sich die diesen Vorschlägen zugrunde liegende Intuition auch lediglich unter Rekurs auf die Erzählinstanz und ihr sprachliches Produkt aufnehmen.

Deshalb lautet mein Vorschlag für eine notwendige Bedingung unzuverlässigen Erzählens folgendermaßen: Wenn ein Text keine falsche Sachverhaltsaussage „non-S“ enthält, aber dennoch mit Bezug auf den bestehenden Sachverhalt S unzuverlässig erzählt ist, dann gibt die Erzählinstanz durch ihre Aussagen „X1–n“ zu verstehen, dass S nicht besteht. Oder andersherum formuliert:

(K1)

Nur dann, wenn die Erzählinstanz bzw. die Erzählrede N zu verstehen gibt (gleich ob durch direkte oder explizite Falschaussage „non-S“ oder durch indirekte oder implizite oder präsupponierte Aussagen „X1–n“), dass S nicht besteht, obwohl S in eW besteht, ist N mimetisch unzuverlässig.

Die fraglos wichtige Unterscheidung zwischen Falschheit und Unvollständigkeit wird dadurch aufgelöst in den Unterschied zwischen expliziter Falschaussage und impliziter Falschaussage, der wiederum dadurch aufgelöst wird, dass in das Kriterium die Sprechhandlung einbezogen wird. Das mit einem Satz „S“ oder mit mehreren anderen Sätzen „X1–nBehauptete (nicht allein das mit „S“ Gesagte) ist das, was N unzuverlässig macht – wobei unter das von N Behauptete alle Sachverhalte fallen, deren Bestehen N mit „X1–n“ präsupponiert. Das ist der Grund dafür, warum N im Falle ihrer Unzuverlässigkeit Rezipienten zu der Vorstellung autorisiert, dass S nicht besteht, obwohl S in eW besteht. Einfacher gesagt, wird damit Unzuverlässigkeit nicht allein über einzelne falsche Sachverhaltsaussagen erklärt, sondern, allgemeiner, über falsche Sachverhaltsdarstellungen, die in der Regel aus mehreren wahren oder epistemisch unterbestimmten Sachverhaltsaussagen bestehen, aber zusammen eben mit Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt S etwas Unwahres besagen.

Wenn (K1) akzeptiert wird, gibt es keine mimetisch unzuverlässig erzählten Texte, die nicht durch N etwas Falsches zu verstehen geben. Oder ohne doppelte Verneinung: Gemäß (K1) gibt jeder mimetisch unzuverlässig erzählte Text durch N etwas Falsches zu verstehen. Die Gegenprobe besteht dann einfach darin, einen Text zu nennen, der eindeutig mimetisch unzuverlässig erzählt ist, aber doch nichts Falsches zu verstehen gibt. Es mag instruktiv sein, hier zwei Beispiele unvollständiger Sachverhaltsdarstellungen anzuführen, von denen das erste eines ist, das etwas Falsches zu verstehen gibt, ohne eine falsche Sachverhaltsaussage zu enthalten, und deshalb unzuverlässig erzählt ist, und das zweite eines, das nichts Falsches zu verstehen gibt und deswegen auch nicht unzuverlässig ist.

Sehen wir uns einen Beispieltext an, den ich in Kap. IX noch ausführlich analysieren werde. In Alfred Anderschs Roman Efraim (1967) erzählt die Titelfigur von einer Fahrt im Taxi. Efraim begleitet seine neue Bekannte Anna Krystek in Berlin von Charlottenburg nach Neukölln. Sie lässt das Taxi vor dem Ziel in der Uhlandstraße anhalten, um noch in einer Bar tanzen zu gehen. In dieser Passage gibt es keine falsche Sachverhaltsaussage, zugleich aber gibt Efraim mit dieser Passage etwas Falsches zu verstehen: dass nämlich nichts Außergewöhnliches passiert sei.Footnote 21 Es ist aber etwas Außergewöhnliches geschehen, das zugleich der tiefere Grund für Annas plötzliche Lust auf Tanzvergnügen ist: Efraim hat sich an Annas Bluse zu schaffen gemacht, ohne dass sie das wollte (E, 239). Durch das Auslassen dieses (relevanten) Sachverhalts gibt Efraim (zunächst) etwas Falsches zu verstehen und ist diesbezüglich unzuverlässig.

Das zweite Beispiel stammt aus demselben Roman. Es geht darum, dass Efraim über weite Strecken nicht erzählt, was ihn stark belastet: nämlich, dass seine Frau Meg bereits vor, aber auch noch lange nach ihrer Hochzeit ein Verhältnis mit seinem Chef Keir hatte. Doch in diesem Fall gibt er nichts Falsches zu verstehen. Mit seinen ständigen Andeutungen gibt Efraim durchaus zu verstehen, dass das Verhältnis zu Meg in irgendeiner Weise belastet ist. Nur in welcher Weise, sagt er nicht. Er verschweigt also etwas Relevantes, aber gibt damit nichts Falsches zu verstehen, sondern lässt es lediglich offen. Beiden Beispielen ist gemein, dass sie relevante Sachverhalte aussparen. Doch unterscheidet sich der zweite Fall vom ersten darin, dass Efraim nichts Falsches zu verstehen gibt. Das ist der entscheidende Unterschied, und das ist der Grund, warum der erste Fall unzuverlässig erzählt ist und der zweite nicht.

Stellen wir nun einige Fragen an das Kriterium, um etwaige Missverständnisse auszuräumen:

  1. 1.

    Muss N mit Bezug auf S eindeutig etwas Falsches zu verstehen geben? Wie verhält es sich mit dem Fall, dass N selbst zwei sich widersprechende Versionen anbietet, von denen eine sich irgendwann als wahr herausstellt, die andere als falsch? Was gibt N in diesem Fall zu verstehen? (K1) ist auf diesen Fall vorbereitet und klar genug formuliert. Wenn N etwas Falsches und Wahres bzgl. desselben Sachverhalts zu verstehen gibt, gibt N etwas Falsches zu verstehen und ist diesbezüglich unzuverlässig. Dass N an anderer Stelle die Wahrheit sagt, macht die Sache nicht besser, macht die Zuschreibung nicht ungültig. N muss also nicht eindeutig etwas Falsches zu verstehen geben, um sich das Prädikat „ist mimetisch unzuverlässig“ zu verdienen.Footnote 22

  2. 2.

    Gibt eine Kriminalerzählung, in der der Tatverdacht auf einen Zeugen gelenkt wird, der sich später als unschuldig herausstellt, fälschlich zu verstehen, dass dieser Zeuge der Täter ist? – Diese Frage lässt sich nicht pauschal, sondern jeweils nur am einzelnen Text beantworten. Eines könnte man aber vielleicht schon sagen: Genrekonventionen haben auch ihren Anteil daran, wie wir etwas verstehen.Footnote 23 Wer dieses Genre kennt, weiß, dass er nicht jedem red herring folgen soll, und betrachtet alle Annahmen über eW bis zu einem bestimmten Punkt als vorläufig. Wer hingegen das Genre nicht kennt, der wird den falschen Verdacht vielleicht für bare Münze nehmen und eine falsche Vorstellung von der erzählten Welt bilden. Allerdings missachtet diese Formulierung, dass es bei der Zuschreibung von Unzuverlässigkeit darauf ankommt, was N (und nur N) zu verstehen gibt – und nicht darauf, welche Überzeugungen aufgrund welcher Vorkenntnisse ein Leser bei seiner Lektüre bildet. In der Regel dürfte in Krimis der red herring ohnedies von den Figuren ausgelegt werden. Dadurch, dass die Erzählinstanz die irreführenden Verdächtigungen an eine oder mehrere Figuren delegiert, gibt sie ihr Privileg nicht preis, sondern hält sich nur zurück.

    Wenn man sich nur lang genug mit unzuverlässig erzählten Texten beschäftigt, kann es durchaus passieren, dass man immer damit rechnet, dass in einem Text durch die Erzählinstanz etwas Falsches behauptet wird. Aber das spricht nicht gegen das Kriterium. Denn es kommt darauf an, was der Text durch N zu verstehen gibt. Und erst wenn N effektiv etwas Falsches zu verstehen gibt, ist der Text ein Kandidat für unzuverlässiges Erzählen. Wenn N nur etwas möglicherweise Falsches zu verstehen gibt, bleibt die Frage offen, ob es wahr oder falsch ist. Und damit bleibt auch offen, ob N unzuverlässig ist. Die Frage, ob N unzuverlässig ist, lässt sich erst auf der Basis des gesamten Textes beantworten.Footnote 24

  1. 3.

    Wie verhält es sich mit Fällen, in denen auch am Ende bzgl. eines Sachverhalts, der für die Bestimmung der Unzuverlässigkeit von N ausgemacht wurde, offen bleibt, ob er besteht oder nicht? Fälle, die offen lassen, ob S in eW besteht oder nicht, haben dazu geführt, einen weiteren Typ unzuverlässigen Erzählens anzunehmen: mimetisch unentscheidbares Erzählen (Martínez/Scheffel 1999, 103 f.). Im Interesse eines eng und präzise gefassten Begriffs ist es aber nicht willkommen, alle Fälle, in denen bestimmte Sachverhalte offen gelassen werden, als unzuverlässiges Erzählen zu betrachten.Footnote 25 Was und wie etwas offen gelassen wird, kann zudem sehr unterschiedlich sein, und die Subsumtion all dieser Fälle unter das unzuverlässige Erzählen würde viele Unterschiede verwischen, allen voran den Unterschied zwischen Texten, die auf eine Auflösung widersprüchlicher Sachverhaltsdarstellungen hin angelegt sind und damit die gängige Wirklichkeitsauffassung bestätigen, und solchen Texten, die durch unauflösbar widersprüchliche Sachverhaltsdarstellungen die gewohnte Wirklichkeitsauffassung eben in Frage stellen oder außer Kraft setzen. Daneben gibt es Texte wie Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob (1959), in denen der zentrale Sachverhalt – wie Jakob ums Leben gekommen ist – nicht geklärt wird, also offen bleibt, ohne dass etwas Falsches zu verstehen gegeben würde (zum einen weil es keine privilegierte Erzählrede gibt, zum andern weil ohnedies alle diesbezüglichen Sachverhaltsaussagen unter dem Vorbehalt einer Mutmaßung stehen).

    Man könnte denken, dass auf der Basis von (K1) auch Texte mit unauflösbar widersprüchlichen Sachverhaltsdarstellungen als unzuverlässig erzählt gelten müssten, weil sie in jedem Fall etwas Falsches zu verstehen geben, selbst wenn nicht feststellbar ist, welche von zwei sich widersprechenden Sachverhaltsdarstellungen die falsche ist. Allerdings: Gerade im Falle absurder Literatur ist es unangemessen, den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch in Anschlag zu bringen. Aber auch aus einem zweiten Grund trifft das nicht zu, denn (K1) ist so formuliert, dass für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit an N die wahren Verhältnisse ermittelbar sein müssen.

    Heißt das aber umgekehrt, dass unentscheidbares Erzählen grundsätzlich nicht unzuverlässig ist? – Ja, allerdings mit einer Einschränkung: Es kommt darauf an, ob die Unentscheidbarkeit im Text angelegt ist und wie stark sie die Konstitution der erzählten Welt bestimmt. Unentscheidbare Sachverhaltsdarstellungen können nämlich kombiniert werden mit sich irgendwann als falsch erweisenden Sachverhaltsdarstellungen, und die abschließende Beurteilung eines Textes als unzuverlässig erzählter wird dies zu berücksichtigen haben; dies betrifft den Bezugsbereich der Unzuverlässigkeit (s. u. Abschn. 1.7). Zum andern ist es möglich, dass ein Autor widersprüchliche Sachverhaltsdarstellungen in seinem Text implementiert, die zwar textimmanent unauflösbar sind, aber von denen er zugleich meint, dass für Leser erkennbar ist, welche von beiden falsch ist; das ist eine Frage des Maßstabs (s. u. Abschn. 1.8).

    Als Beispiel lässt sich Max Frischs Homo faber (1957) nennen. Schon recht früh erwähnt Walter Faber in seiner Eigenschaft als erzählendes Ich, dass das Mädchen, das er auf der Überfahrt nach Europa kennenlernt, seine Tochter ist, von deren Existenz er als erlebendes Ich angeblich nichts ahnte. Er leugnet also, dass er zu dem früheren Zeitpunkt wusste, mit wem er es zu tun hatte, als er sie auf dem Schiff traf. Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass er es doch ahnte, denn kurz zuvor hat er den Bruder seines ehemals besten Freundes Joachim kennengelernt. Von ihm erfuhr er, dass Joachim mit seiner ehemaligen Freundin Hanna, die ein Kind von Faber erwartete, zusammen war und ein Kind mit ihr hatte. Außerdem erinnert ihn Sabeth, das Mädchen, an Hanna. Später werden die Andeutungen noch evidenter, bis Faber sich im Gespräch mit Hanna schließlich dazu bekennt, dass Sabeth seine Tochter ist. Ab wann der Sachverhalt besteht – dass Faber ahnt, wer Sabeth ist –, wird nicht dargestellt. Es ist möglich, dass er dies schon zu einer Zeit ahnt, als er es noch abstreitet. Begnügt man sich mit dieser Information, könnte man Faber diesbezüglich nicht für unzuverlässig halten, denn der Roman gibt darüber, ab wann er es ahnt, keine genaue Auskunft.

    Allerdings belügt sich Faber ganz offensichtlich in anderer Hinsicht. So leugnet er tiefer gehendes emotionales oder gar sexuelles Interesse an Sabeth, aber sein Verhalten, von dem er erzählt, zeigt etwas anderes. Man kann also mit Hilfe von indirekten Hinweisen den Verdacht erhärten, dass das Bestehen des fraglichen Sachverhalts doch nicht offen ist und Faber sich auch in dieser Hinsicht belügt.

    Aber selbst wenn man weiterhin skeptisch bleibt und darauf besteht, dass der fragliche Sachverhalt sich nicht ermitteln lässt, ist das Beispiel doch lehrreich, denn die potentielle Unzuverlässigkeit Fabers bestimmt diese Passage. Das zeigt, dass das Konzept auch hilfreich ist für Fälle, die nach strenger Lesart nicht unzuverlässig erzählt sind. Trotzdem ist es relevant für die Interpretation.

  1. 4.

    Lässt sich das Kriterium der Falschheit nicht abschwächen? Zwischen „es ist falsch, dass S besteht“ und „es ist offen, ob S besteht oder nicht“ gibt es noch weitere Möglichkeiten, die es zu berücksichtigen gilt. Es gibt Fälle, in denen zu wenig oder anders erzählt wird, aber (angeblich) nicht eigentlich Falsches. Das, was auch als unvollständige Information beschrieben wurde, lässt sich auch durch die Abschwächung der Falschheitsbedingung ausdrücken. Statt „es ist falsch, dass S besteht“ untersuchen wir nun den Fall „es ist unplausibel, dass S besteht“. Unplausibel ist eine Aussage „S“ dann, wenn das eine Alternative von „S“ mit größerer Wahrscheinlichkeit wahr ist als „S“ (vgl. Descher 2017). Oder: Plausibel ist eine Aussage „S“ dann, wenn „S“ mit größerer Wahrscheinlichkeit wahr ist als ihr Gegenteil. Damit wird deutlich, dass auch hier – wie im Unvollständigkeitskriterium – der Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit verborgen liegt.

  2. 5.

    Wie sieht es mit anderen Einsetzungsmöglichkeiten in die Inkongruenz-Relation aus? Statt „unplausibel“ ist eine weitere Möglichkeit „ungenau“. Wenn die Sachverhaltsaussage „S“ oder -darstellung „S1–n“ von N ungenau ist, dann könnte das ebenfalls ein Grund sein, N für unzuverlässig zu halten. Überlegen wir, was „ungenau“ in diesem Zusammenhang heißt. Ungenau ist eine Sachverhaltsaussage oder -darstellung dann, wenn nicht klar ist, wovon die Rede ist, oder wenn der Wahrheitswert im Ungewissen gelassen wird, wenn also offen gelassen wird, ob der betreffende Sachverhalt überhaupt besteht. Ungenauigkeit entsteht mithin dann, wenn Informationen fehlen, die Voraussetzung für das Verständnis dessen sind, was in eW der Fall ist. Ungenauigkeit lässt sich demnach als Unvollständigkeit auffassen und damit wiederum eliminieren. Wie Unvollständigkeit kann Ungenauigkeit dazu führen, dass einfach offen bleibt, ob S besteht oder nicht.

  3. 6.

    Eine weitere wichtige Frage ist, was naive Erzählinstanzen zu verstehen geben. Ist das Unverständnis unwissender oder unterentwickelter narrativer Instanzen ein Fall von falscher Sachverhaltsdarstellung? Zur Beantwortung dieser Frage ist es nützlich, sich mehrere Beispiele anzusehen, da diese Form des unzuverlässigen Erzählens im Verdacht steht, dass sie nicht auf Unwahrheiten basiert. Stattdessen werden bestehende Sachverhalte nicht treffend oder korrekt wiedergegeben, so dass zwar deutlich wird, worum es in Wahrheit geht, aber auf eine unangemessene Weise, die erkennen lässt, dass die Erzählinstanz nicht versteht, was eigentlich der Fall ist in der erzählten Welt, oder diesen Eindruck erwecken möchte.Footnote 26

    Die kognitive Diskrepanz, wie sie in dem letzten Satz angesprochen wird, ist ein wichtiges Merkmal dieser Fälle. Sie besteht in dem Unterschied zwischen einer treffenden bzw. sprachnormgerechten Auffassung, auf die – vorläufig formuliert – spekulierend der Text angelegt ist, und einer davon abweichenden defizitären Auffassung desselben Sachverhalts durch die Erzählinstanz. Das Attribut „defizitär“ ist entscheidend, denn handelte es sich nicht um ein Defizit, müsste jeder rhetorisch-literarische Kniff und auch jeder Werbespruch, der auf dem Verfahren fußt, etwas anders auszudrücken, als die sprachliche Norm es vorsieht, also jede spontane metaphorische Sachverhaltsaussage unzuverlässig sein. Diese sollen durch die Spezifizierung mittels „defizitär“ ausgeschlossen werden.

    Ein Beispiel, das Jacke (2020, 80) anführt und das auch schon Phelan (2007, 229) erwähnt, ist das von Huckleberry Finn, der zu Beginn des Romans Adventures of Huckleberry Finn (1884) von Mark Twain das ihm unverständliche Verhalten der Witwe Douglas vor dem Essen äußerlich beschreibt. Sie ziehe den Kopf ein und grummele über dem Essen.Footnote 27 Offenkundig betet sie, eine Tätigkeit, die Huck nicht kennt. Jacke hat die auf den ersten Blick einleuchtende Idee, diesen Fall dadurch zu erfassen, dass Huck eine Beschreibung des Verhaltens liefert, jedoch nicht der Handlung. Aber das trifft nicht den Kern der Sache.

    Ein (allerdings nicht ganz) analoger Fall ist Tinko, der Erzähler in Erwin Strittmatters gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1954. Tinko versteht nicht, was der Lehrer sagen will, wenn dieser ihn und Kimpel-Fritz als „Schwachmatiker“ bezeichnet (Ti, 91). Tinko bezieht es auf Körperstärke (statt auf ihre schlechten schulischen Leistungen, die der Lehrer eigentlich im Auge hat) und merkt an, dass Kimpel sogar jemanden verhauen habe, der schon die Schule hinter sich hat. Etwas anders verhält es sich mit dem Fall, dass Tinko davon spricht, eine „Nummer“ in der Schule zu bekommen (Ti, 93). Gemeint ist natürlich, dass der Lehrer Zensuren verteilt. Nun könnte man denken, Tinko kenne den Begriff nicht und wundere sich über die Nummer unter seinem Aufsatz. Doch er weiß sehr wohl, dass es gute und schlechte Nummern bzw. Zensuren gibt. Das Konzept kennt er also, benutzt aber nicht den korrekten Ausdruck. Dennoch ist es nicht nur eine stilistische Angelegenheit, dass Tinko „Nummer“ statt „Zensur“ oder „Note“ sagt.

    Was Huck und Tinko verbindet, ist eine semiotische Schwäche. Aufgrund fehlenden Wissens – um eine kulturelle Praxis bei Huck, um eine Wortbedeutung bei Tinko – geben sie falsche Deutungen der Welt. Hucks Fall lässt sich zwar mit Hilfe des Unterschieds zwischen äußerlichem Verhalten und Handlung beschreiben, aber der entscheidende Fehlgriff Hucks ist, dass er das äußere Verhalten als Handlung missversteht. Dass das Tinko-Beispiel nicht ganz analog ist, liegt daran, dass es keine direkte Sachverhaltsdarstellung ist. Aus Tinkos Reaktion auf den Ausdruck „Schwachmatiker“ folgt jedoch, dass er dem Lehrer zu Unrecht eine falsche Charakterisierung seiner schlechten Schüler zuschreibt. Tinko meint vom Lehrer, dass er sich mit seiner Zuschreibung, er und Kimpel seien Schwachmatiker, irre.Footnote 28 So gesehen, geht es auch hier um eine unzutreffende Sachverhaltsdarstellung, nur eben um eine indirekte bzw. implizite.

    Fragen wir nun, was Huck und Tinko zu verstehen geben, und testen (K1)! Nehmen wir zunächst an, dass Huck nichts Falsches zu verstehen gäbe. Die Begründung wäre, dass er ja nicht sagt, dass die Witwe nicht betet. Auch lässt sich aus dem von Huck Gesagten nicht erschließen, dass sie nicht betet, denn was er sagt, ist kompatibel damit, dass sie betet. Demnach wäre Huck nicht unzuverlässig. Dieses Ergebnis ist jedoch nicht erwünscht, sofern an (K1) festgehalten werden soll. Ziel ist, solche Fälle wie den von Huck als unzuverlässig deklarieren zu können, weil er gemeinhin als prototypisch akzeptiert wird (vgl. Riggan 1981). Das heißt, entweder das Beispiel muss anders interpretiert oder die Definition angepasst werden. Meiner Ansicht nach greift die Interpretation des Beispiels zu kurz. Huck gibt nämlich doch etwas Falsches zu verstehen, indem er sagt, die Witwe neige den Kopf über das Essen und grummele.

    Der Grund liegt, wie mit der kursiv gesetzten Formulierung im vorletzten Absatz angedeutet, darin, dass Huck nicht nur das äußere Verhalten der Witwe beschreibt, sondern gerade auch ihre Handlung. Er ist kein Erzähler, der sich auf das Beschreiben äußerer Vorgänge beschränkt. In Genettes Terminologie könnte man sagen: Seine homodiegetische Erzählung ist, mit Bezug auf seine Mitmenschen, nicht extern fokalisiert; er beschreibt nicht nur äußeres Verhalten wie viele Ich-Erzähler Hemingways oder Camus’. Besser gesagt: Was Huck zu verstehen gibt, ist, dass die Witwe den Kopf übers Essen neigt und grummelt und nur den Kopf übers Essen neigt und grummelt. Darin liegt sein Fehler. Denn sie grummelt ja nicht nur, sondern ihr Grummeln ist (auch) ein Beten. Wenn man Huck den Anspruch attestiert – und das ist der Anspruch solcher Erzählinstanzen, die nicht mit selbstauferlegten (und wohl meist ästhetisch begründeten) Informationsbeschränkungen wie externer Fokalisierung operieren –, dass er die bestehenden Sachverhalte, von denen er erzählt, voll erfasst und entsprechend darstellt, dann liefert er mit der Passage eine falsche Sachverhaltsdarstellung ab.

    Trotzdem gibt es bei diesem Typus des unzuverlässigen Erzählens eine Besonderheit. Im Unterschied zu den anderen Fällen mimetischer Unzuverlässigkeit wird die Auflösung gleich mitgeliefert, während sonst die Auflösung durch an anderen Textstellen implementierte Widersprüche bewerkstelligt wird. Hier besteht der Widerspruch darin, dass der Erzähler vorgibt oder meint, einen Sachverhalt treffend darzustellen, ohne dass er ihn ganz erfasst, eben weil sein Wissen über die Welt eingeschränkt ist und er aufgrunddessen Zeichen (Gesten, Körperhaltungen, Laute, Wörter) falsch deutet. Er gibt also etwas Falsches zu verstehen, obwohl er nichts Falsches sagt. Oder anders: Er gibt etwas Falsches zu verstehen, weil das, worauf er sich bezieht, nicht nur das ist, was er sagt, dass es das ist, aber damit meint, dass es nur das ist.

    Dass er damit meint, dass es das und nur das ist (nämlich nur ein Grummeln und kein Beten), müssen wir unterstellen, weil seine Erzählung keinen ästhetisch begründeten Informationsbeschränkungen unterliegt und weil es mit anderen Verhaltensweisen und Äußerungen von Huck harmoniert. Mit Hilfe dieser Unterscheidung ist es auch möglich, diese besonderen Fälle mimetisch unzuverlässigen Erzählens von solchen Fällen zu unterscheiden, die auf ähnliche Weise Informationen vorenthalten und darauf angelegt sind, durch diese Auslassungen Inferenzen bzw. Ergänzungen zu stimulieren, die vorzunehmen für das angemessene Verständnis dessen, was in der erzählten Welt vor sich geht, nötig ist.Footnote 29

    Würde demgegenüber derselbe Satz Teil einer (extern fokalisierten) Erzählung Hemingways sein, müsste man zwar dieselbe Ergänzung vornehmen, um zu verstehen, dass die Figur nicht nur grummelt, sondern auch betet; aber unzuverlässig erzählt wäre der Sachverhalt nicht, weil es kein Subjekt gibt, dem man die falsche Sachverhaltsauffassung attribuieren könnte. In diesem Fall ästhetisch begründeter Informationsbeschränkung gibt es nur den unvollständig erzählten Sachverhalt.

    In Anm. 26 ist davon die Rede, dass die naiven bzw. Naivität vorgebenden Erzählinstanzen die Wahrheit beugen. Darum geht es, auch wenn „beugen“ sich vor allem auf eine manipulative Handlung bezieht. Huck gibt nicht nur durch eine unzutreffende Sachverhaltsdarstellung etwas Falsches zu verstehen, sondern er gibt demjenigen, der über die entsprechenden Kenntnisse verfügt, auch zu verstehen, dass er die Wahrheit nicht kennt (oder nicht zu kennen vorgibt) – das ist die oben erwähnte kognitive Diskrepanz. Sie fehlt in den Fällen von „restricted narration“, in denen die Diskrepanz, wenn man davon überhaupt sprechen kann, ästhetisch ist.

    Die Bedingung der Falschheit ist ziemlich restriktiv. Und weil später noch eine weitere dazu kommt, verspricht meine Definition, sogar sehr restriktiv zu werden. Das wird dazu führen, dass einige Fälle, die bislang als unzuverlässig erzählt galten, nicht von dieser Definition erfasst werden. Das ist aber gar nicht schlimm, denn der Gewinn überwiegt, denke ich, den vermeintlichen Verlust. Es gibt nämlich gar keinen Verlust. Der Gewinn ist mehr Trennschärfe, mehr Distinktion, größere Präzision und Einheitlichkeit. Der vermeintliche Verlust, dass einige Fälle nicht von der Definition erfasst werden, wird schließlich dadurch kompensiert, dass man aufgrund der vermehrten Trennschärfe auch sagen kann, inwiefern bzw. in welchen Hinsichten manche Texte gerade nicht unzuverlässig erzählt sind, aber große Ähnlichkeit mit ihnen aufweisen. Man kann damit auch diese Texte im Hinblick auf ihre nicht vollständig realisierte Unzuverlässigkeit analysieren und diese Analyseergebnisse für weitere Interpretationen nutzen.Footnote 30

  1. 7.

    Wie ist eine Erzählinstanz zu beurteilen, deren Erzählen maßlos unvollständig ist, ohne dass etwas Falsches zu verstehen gegeben wird? Ein extremes Beispiel ist Gregor Benedikt, der Erzähler von Peter Handkes Hornissen (1966). Hier ist es eine starke Inkohärenz, die das Erzählen kennzeichnet. Sie lässt sich zwar reduzieren, aber es bleiben doch Passagen übrig, die sich nicht einordnen lassen in den Gang der Ereignisse. Ist Gregor Benedikt, der auch noch mit Blindheit geschlagen ist, deswegen ein unzuverlässiger Erzähler? Meiner Meinung nach ist für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit immer die Frage zu beantworten, ob das Erzählen im Bewusstein der eigenen Unwissenheit und Fehlbarkeit (bezogen auf einen konkreten Sachverhalt) geschieht – dann ist es nicht unzuverlässig – oder ob mit den Anomalien etwas kaschiert und dadurch etwas anderes zu verstehen gegeben wird als das, was in der erzählten Welt der Fall ist. Bei Gregor Benedikt handelt es sich um suchendes Erzählen, weshalb auf dem Boden der hier vorgeschlagenen Theorie nicht von einem unzuverlässigen Erzähler gesprochen werden kann (vgl. Abschn. VII.5). Ggf. ist auch der erwähnte Unterschied zwischen welterzeugendem und weltwiedergebendem Erzählen in Betracht zu ziehen. Wenn es sich um welterzeugendes Erzählen handelt, stellt sich die Frage nach der Unzuverlässigkeit nicht.

  2. 8.

    Muss eine Erzählinstanz homodiegetisch sein, damit man ihr mimetisch unzuverlässiges Erzählen zuschreiben kann? Zu dieser Frage gibt es seit langem unterschiedliche Stellungnahmen.Footnote 31 Ohne Zweifel gibt es heterodiegetische Texte, die sich auch unter der hier vorgeschlagenen engen Definition als mimetisch unzuverlässig erzählt beschreiben lassen. Diese Texte funktionieren allerdings immer nach demselben Trick: Sie geben zunächst zu verstehen, dass sich eine Ereignisreihe in der erzählten Welt wirklich abgespielt hat, obwohl sie – wie sich irgendwann herausstellt – in der Wirklichkeit der Fiktion nur geträumt wurde. An diesem Beispiel lässt sich ein Vorteil der hier favorisierten Terminologie illustrieren. Die Sachverhalte in der erzählten Welt bestehen in diesen Fällen nämlich durchaus, nur eben als geträumte oder halluzinierte. Unzuverlässig erzählt sind diese Texte demnach, nicht weil N in der Wirklichkeit der Fiktion nicht bestehende Sachverhalte als bestehend ausgibt, sondern weil N durch das Unterschlagen einer Eigenschaft dieser Sachverhalte etwas Falsches zu verstehen gibt. Unterschlagen wird stets die Eigenschaft dieser Sachverhalte, geträumt, halluziniert o. ä. zu sein.

    Paradigmatische Fälle sind die in der Forschungsliteratur genannten Werke An Occurrence at Owl Creek Bridge (1890) von Ambrose Bierce und Zwischen neun und neun (1918) von Leo Perutz.Footnote 32 Entscheidend ist also, dass eine einschränkende Information zum Realitätsstatus vorenthalten wird. Was dem Erzählen zufolge in eW geschieht, ereignet sich nicht bzw. nur im Traum einer Figur. Neben solchen Texten wurden auch andere vorgeschlagen, etwa Thomas Manns Tod in Venedig (vgl. Cohn 2000) als Beispiel für axiologische Unzuverlässigkeit auf der Basis einer Diskrepanz zwischen den Werten, die in gnomischen Verallgemeinerungen der Erzählinstanz zum Ausdruck kommen, und den Werten des Werks bzw. Thomas Manns.Footnote 33

    Da sich jedoch im Korpus, aus dem meine Untersuchung schöpft, keine entsprechenden Texte aufgedrängt haben, gehe ich auf die heterodiegetische Spielart des unzuverlässigen Erzählens nicht weiter ein. Schließlich möchte ich noch ein anderes Argument gegen manche Spielart heterodiegetischer Unzuverlässigkeit vorbringen: Häufig wird Unzuverlässigkeit dadurch erklärt, dass der Autor die Erzählinstanz etwas sagen lässt, was seiner Botschaft widerspricht. Diesen Widerspruch muss man erkennen, um die Botschaft des Textes zu verstehen. Der Unterschied zwischen Unzuverlässigkeit und Ironie besteht darin, dass im Falle der (glückenden, d. h. der vom Adressaten verstandenen) Ironie ein und dieselbe Äußerungsinstanz mit der dem wörtlich Gesagten widersprechenden Botschaft trotzdem genau diese Botschaft dem Adressaten vermittelt. Im Falle des unzuverlässigen Erzählens verteilt sich das hingegen auf zwei Äußerungsinstanzen: die reale Autorinstanz und die fiktive Erzählinstanz. Wenn man es nun mit erzählerlosem Erzählen zu tun hat, entfällt dieser Unterschied und es wäre einfacher, eine dem Wortlaut widersprechende Botschaft für Ironie zu halten.Footnote 34

  1. 9.

    Hier schließt sich noch eine andere Frage an: Können auch fiktionale Ich-Erzählungen ironisch, aber nicht unzuverlässig sein? Bei solchen homodiegetisch erzählten Texten kann hier die Frage weiterhelfen, ob die Erzählinstanz gegen die Autorinstanz profiliert ist oder nicht. Ich denke an Walter Kempowskis Tadellöser & Wolf (1971). Man könnte die kindliche Ich-Erzählerfigur zunächst für naiv und daher für unzuverlässig halten, weil sie gar nicht begreift, was sie erzählt. Charakteristisch für diese Erzählinstanz ist, dass sie, was sie schildert, nicht einordnet, nicht bewertet und selbst wenig in die einzelnen Handlungsszenen eingreift, sondern im Wesentlichen berichtet, was die anderen Familienmitglieder tun. Sie registriert etwa das phrasenhafte Sprechen der Mutter und gibt es wieder oder schildert peinliche Kompromisse mit dem Nationalsozialismus. Die Frage ist, ob man sich tatsächlich das Kind als Erzählinstanz vorstellen soll. Möglich wäre auch, dass die erwachsene Erzählinstanz nur die perzeptuelle Perspektive des Kindes einnimmt. In diesem Falle wäre es angemessen, die Erzählrede als Form von Ironie zu klassifizieren. Dafür spricht auch, dass der Familienname mit dem des Autors übereinstimmt und wir es gar nicht mit einem fiktionalen Text zu tun haben.

1.5 Diegetische Erklärung mimetischer Inkongruenz

Kommen wir nun aber zurück zur notwendigen Bedingung (K1) und fragen, wie weit man mit ihr kommt: Ist ein Text schon dann unzuverlässig, wenn die Erzählinstanz bzw. die Erzählrede N zu verstehen gibt (gleich ob durch direkte Falschaussage „non-S“ oder durch indirekte Aussagen „X1–n“), dass ein bestimmter Sachverhalt S nicht besteht, obwohl es ansonsten gute Gründe für die Annahme gibt, dass S in der erzählten Welt eW besteht? Berechtigt die Tatsache, dass N etwas Falsches zu verstehen gibt, in jedem Fall zu dem Schluss, dass N unzuverlässig ist? Wenn wir diese Frage bejahen, dann wäre (K1) nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend.

Wie ich noch später näher ausführen werde, sind Widersprüche ein wichtiger Indikator für unzuverlässiges Erzählen. Einander widersprechende Aussagen können nicht beide zugleich wahr sein; also ist eine von ihnen falsch. Wäre Falschheit eine notwendige und hinreichende Bedingung für unzuverlässiges Erzählen, müsste jeder Widerspruch nicht nur ein Indikator, sondern auch ein hinreichender Rechtfertigungsgrund für unzuverlässiges Erzählen sein. Doch gibt es einleuchtende Gegenbeispiele, wie man leicht sehen kann.

In Jurek Beckers Jakob der Lügner (1969) erfährt Mischa auf dem Weg zur Arbeit, dass sich die Bewohner der Franziskaner-Straße im Ghetto zur Deportation versammeln sollen. In dieser Straße wohnt mit ihren Eltern auch seine Freundin Rosa. Um sie vor dem Schicksal der Eltern zu bewahren, eilt er zu der Fabrik, in der Rosa arbeitet, um sie abzufangen. Tatsächlich wird sie noch am Morgen nach Hause geschickt, und es gelingt ihm, sie einzuholen. Um sie aber davor zu bewahren, aus Liebe zu ihren Eltern in ihr Verderben zu rennen, verschweigt er ihr den wahren Grund für sein unerwartetes Auftauchen, sondern sagt, dass auch er frei bekommen und auf gut Glück vermutet habe, dass es ihr ähnlich ergangen sei. Daraufhin verbringen sie den Tag zusammen. Doch davon, dass er frei bekommen habe, war nicht die Rede, und sein Fernbleiben hat auch keine Konsequenzen für ihn. Hier ist also ein potentieller Widerspruch festzustellen: Mischa ist von der Arbeit befreit worden (weil sein Fernbleiben keine Konsequenzen hat) und er ist nicht von der Arbeit befreit worden (weil er auf dem Weg zu Arbeit war, ohne hinzugelangen). Doch dieser Widerspruch hat offensichtlich keine Bedeutung für die Geschichte. Er lässt sich nicht zwanglos aus den Angaben, die der Text über den Ablauf der Ereignisse macht, erklären. Man ist daher geneigt, ihn als Unachtsamkeit des Autors zu interpretieren.Footnote 35

Für ein ähnliches Beispiel verweise ich noch einmal auf den bereits erwähnten Roman von Alfred Andersch. In der Erstausgabe von Efraim behauptet der Protagonist an einer Stelle, dass er „nicht getauft“ sei, und an einer anderen, dass er „schließlich protestantisch getauft“ sei (E, 174/254). Eine dieser Aussagen, deren Urheber in beiden Fällen der Ich-Erzähler Efraim ist, muss falsch sein. Und wäre Falschheit für Unzuverlässigkeit hinreichend, dann wäre Efraim mit Bezug auf die Frage, ob er getauft ist, unzuverlässig. Doch gibt es in diesem Fall einen Grund, der gegen diesen Schluss spricht. Dieser Grund ist, dass der Widerspruch auf einen Fehler des Autors zurückzuführen ist. Andersch weist seinen Verleger in einem Brief vom 22.5.1967 darauf hin, dass die Passage, in der sich Efraim als „protestantisch getauft“ charakterisiert, in kommenden Ausgaben gestrichen werden solle, da es „ein sinnstörender, von mir nicht entdeckter Fehler“ sei.Footnote 36

Solche Fälle haben Anlass zu der Forderung gegeben, „dass die Merkmale eines Berichts, die zur Skepsis gegenüber seiner Angemessenheit führen, nicht genetisch bedingt, sondern strategisch begründet“ sein müssten (Kindt 2008, 50). In die Definition mimetischer Unzuverlässigkeit (bzw. als Bedingung ihrer Zuschreibung) wird daher die Identifikation einer „Kompositionsstrategie“ aufgenommen (ebd., 51). Warum gerade eine Kompositionsstrategie? Sie ist ersichtlich das konzeptuelle Negativ von Autorfehlern. Um solche Fälle, deren falsche Sachverhaltsaussagen aus einem Fehler des Autors resultieren, aus dem Kreis unzuverlässig erzählter Texte auszuschließen, verlegt man sich darauf, nur solche Fälle zu berücksichtigen, deren falsche Sachverhaltsaussagen als Resultat einer gewollten, d. h. strategischen Entscheidung (des Autors) oder einer quasi-strategischen Entscheidung (die man dem Text zuschreiben kann) beschreibbar sind.

Gegen diese Forderung wendet Jacke (2020, 133) ein, dass man sich damit „verfrüht auf eine Interpretationstheorie fest[legt], die an auktoriale Intentionen gekoppelt ist“. Sie selbst lehnt diesen Ansatz ab, weil sie es für „zu unplausibel“ hält, dass eine solche Theorie „die semantischen Intentionen des Autors unabhängig vom sprachlichen Material des Textes als bedeutungsgenerierend betrachtet (beispielsweise indem diese Intentionen allein die Fakten der fiktiven Welt oder die allgemeine ‚Werkbedeutung‘ bestimmen)“ (ebd., 152, H. i. O.). Ihrer Meinung nach wird zunächst die Unzuverlässigkeit des Erzählers ermittelt und erst in einem späteren Schritt die Frage beantwortet, ob die ermittelte Unzuverlässigkeit auch Teil einer Kompositionsstrategie ist. Damit versucht sie, die Frage nach der Unzuverlässigkeit unter so wenigen Voraussetzungen wie möglich zu beantworten und sie sozusagen auf der Ebene der Deskription zu halten.Footnote 37 Der Begriff der Unzuverlässigkeit sei dadurch theoretisch flexibler und wie andere narratologische Kategorien (von denen er sich nicht grundsätzlich unterscheide) auch nicht „bereits auf der definitorischen Ebene an die Werkbedeutung gekoppelt“ (ebd., 302).

Jackes Einwand hat seine Berechtigung. In der Tat ist die Berufung auf eine Kompositionsstrategie, sofern darunter Autorintentionen verstanden werden, eine sehr starke Forderung, weil damit für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit jeweils ein Nachweis von Autorintentionen erforderlich wäre. Sie ließe sich aber abschwächen, indem man „Kompositionsstrategie“ nicht als Synonym für Autorintentionen versteht, sondern als Dispositionsbegriff fasst und von einer potentiellen Kompositionsstrategie spricht bzw. davon, dass die falschen Sachverhaltsaussagen „geeignet sind, in vergleichbaren Kontexten diese bestimmte Wirkung zu erzielen“ (Fricke 1981, 90, H. i. O.), hier also als unzuverlässig verstanden zu werden. Damit könnte man solche Fälle berücksichtigen, in denen die Autorintentionen zwar zunächst gegen die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit sprechen und bestimmte Texteigenschaften – falsche Sachverhaltsaussagen der Erzählinstanz – als Versehen des Autors gelten müssen, diese aber zugleich einen Sinn ergeben und sich – z. B. vor dem Hintergrund einer nicht-intentionalistischen Interpretationstheorie maximaler Wertschätzung – der Konzeption des Autors zum Trotz als Grund für Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz interpretieren lassen.Footnote 38

„Einen Sinn ergeben“ heißt, dass die Falschaussage bzw. der Widerspruch in den Zusammenhang der Geschichte passt bzw. dass innerhalb der erzählten Welt eine Erklärung für die Falschaussage gefunden werden kann. Diese Überlegung weist auch den Weg zu einer akzeptablen einschränkenden Bedingung, mit deren Hilfe man es schafft, aus der Menge der Erzähltexte mit falschen Sachverhaltsaussagen der Erzählinstanz diejenigen auszusondern, die nicht unzuverlässig erzählt sind.

Jacke mahnt zu Recht, dass die Chancen der Anwendbarkeit einer Kategorie umso höher liegen, je weniger sie an eine bestimmte Interpretationstheorie gebunden ist. Daher ist auch die Berufung auf eine funktionalistische Theorie eine Festlegung, die letztlich demselben Einwand ausgeliefert ist (auch wenn diese Theorie allgemeiner ist und daher möglicherweise eine breitere Akzeptanz hat als der Intentionalismus). Es gibt aber noch eine Möglichkeit, diesen Bereich zu modellieren und dabei einen theoretisch (jedenfalls weitestgehend) neutralen Zugang zu wahren. Neutral ist der Zugang dann, wenn man zur Feststellung dessen, was in der erzählten Welt der Fall ist, sich nur auf die für das Textverständnis nötigen sprachlichen Kenntnisse stützt. Um Falschaussagen einer Erzählinstanz als unzuverlässig zu qualifizieren, reicht es aus, für sie eine Erklärung innerhalb der erzählten Welt zu finden. Wenn sich eine solche Erklärung finden und am Text überzeugend belegen lässt, reicht dies hin, den Text – unabhängig davon, ob die Falschaussage auf einem Irrtum des Autors basiert oder nicht – als unzuverlässig erzählt zu beurteilen.

Neben dem Nachweis einer Falschaussage bedarf es zur Zuschreibung mimetischer Unzuverlässigkeit demnach der Erfüllung einer zweiten notwendigen Bedingung, die darin besteht, eine diegetische Erklärung für die Falschaussage zu finden, die im Text verankert ist. In Abschnitt (a) habe ich bereits definiert, was ich unter einer diegetischen Erklärung verstehe. Zur Erinnerung: Diegetisch ist eine Erklärung einer falschen Aussage „S“ genau dann, wenn sich mindestens ein guter Grund für das Unzutreffende von „S“ in der erzählten Welt finden lässt. Wann aber ist ein Grund gut, wann eine Erklärung hinreichend gestützt, was macht sie akzeptabel?

Allgemein gesagt, ist eine diegetische Erklärung dann akzeptabel, wenn für die Falschaussagen Ursachen in der erzählten Welt namhaft gemacht werden können und wenn die Bestimmung dieser Ursachen sich zwanglos am Text belegen lässt. Das führt mich zur Formulierung einer weiteren notwendigen Bedingung:

(K2)

Nur dann, wenn man für die Falschheit der betreffenden Sachverhaltsaussage(n) „S1–n“ der Erzählrede N eine durch Textdaten hinreichend gestützte, akzeptable diegetische Erklärung angeben kann, ist N mimetisch unzuverlässig.Footnote 39

Wie aber verhält es sich dann mit Texten, die voller Widersprüche stecken, ohne dass eine diegetische Erklärung naheliegt?Footnote 40 Man könnte in diesem Fall sagen, dass einfach noch keine überzeugende diegetische Erklärung gefunden wurde, und sich weiter auf die Suche machen. Sie muss ja auch nicht unbedingt naheliegen. Eine allgemein verbindliche Antwort gibt es nicht, denn man muss jeweils den Einzelfall betrachten. Für einzelne Widersprüche mag es eine oder mehrere diegetische Erklärungen geben, für andere aber (bisher) nicht. Ein Entscheidungskriterium für solche Fälle ist, ob eine Erzählung auf unauflösbare Widersprüche angelegt ist. Wenn sich ein Grund für die Unauflösbarkeit finden lässt, so wird das eher kein diegetischer Grund sein, sondern ein Kompositionsgrund. Solche Texte sind nach der vorliegenden engen Definition nicht unzuverlässig erzählt. Behält man aber das Kriterium der Kompositionsstrategie bei (Kindt 2008), dann sind diese Texte unzuverlässig erzählt, jedoch um den genannten Preis einer intentionalistischen Interpretationskonzeption (für die es viele gute Gründe gibt, aber dennoch keine breite Akzeptanz bislang).

Es könnte aber noch einen anderen Grund geben, warum es angemessen ist, solche Texte nicht für unzuverlässig erzählt zu halten. Und zwar haben Texte, für deren Widersprüche eine Kompositionsstrategie erkennbar ist, poetologisch und narratologisch mehr Ähnlichkeit mit Texten, die man normalerweise nicht für unzuverlässig erzählt hält, als mit Texten, die unstrittig unzuverlässig erzählt sind. Ein narratologisches wie poetologisches Charakteristikum letzterer Texte ist die Funktion der fraglichen Sachverhalte, die darin besteht, dass sie zu einer Revision der Verhältnisse in der erzählten Welt führen. Diese Revision gibt es in den Fällen nicht, in denen es keine diegetische Erklärung gibt. Sie mag als Möglichkeit angelegt sein, aber die jeweilige Kompositionsstrategie wird darin bestehen, eine Art Moratorium (gemeint ist ein anhaltendes Moratorium) für die Frage zu etablieren, was in der erzählten Welt der Fall ist. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass im einen Fall eine kohärente Weltdarstellung (wenn auch unter Schwierigkeiten) möglich ist, während im anderen Fall genau dies in Frage gestellt wird und bleibt.

1.6 Axiologische Inkongruenz-Relation: Wertung und Handlung vs. Wert und Norm

Mit (K1) und (K2) liegen zwei Kriterien vor, mit deren Hilfe sich bestimmen lässt, ob in einem gegebenen Fall mimetisch unzuverlässiges Erzählen vorliegt. Doch damit ist noch nicht alles Nötige gesagt. Das in Abschnitt (a) vorgestellte Konzept enthält weitere Komponenten, die bei der Zuschreibung von Unzuverlässigkeit wichtig sind. Im vorliegenden Abschnitt jedoch möchte ich auf die Besonderheiten des axiologisch unzuverlässigen Erzählens eingehen.

Was heißt es, wenn man sagt, dass etwas axiologisch unzuverlässig erzählt ist? In solchen Fällen geht es nicht um falsche Sachverhaltsdarstellungen, sondern um (vorläufig gesagt) Wertzuschreibungen, mit denen etwas nicht stimmt. Man könnte daher versucht sein, axiologisch unzuverlässiges Erzählen analog zu konzipieren. Denn das Gemeinsame der beiden Arten besteht in der identischen Charakterisierung der Relation. In beiden Fällen handelt es sich um ein Nicht-Übereinstimmen bzw. Nicht-Korrespondieren von etwas mit etwas anderem. Hier wie dort ist es also eine Relation der Inkongruenz. Die Frage, die sich nun stellt, ist, was in der axiologischen Inkongruenz-Relation dem Sachverhalt S entspricht und was der Sachverhaltsaussage „S“.

Letzteren entsprechen zunächst die Werturteile, also axiologische Aussagen, mit denen etwas als gut (oder nicht), richtig (oder nicht), schön (oder nicht), angenehm (oder nicht) etc. eingeschätzt wird; es entspricht ihnen aber auch das Bekennen zu (das Einstehen für) Handlungsanweisungen bzw. -regeln (Normen). Demgemäß müssten den Sachverhalten Normen bzw. Werte entsprechen. Betrachtet man die beiden Relationen näher, sieht man rasch, dass man schon an dieser Stelle die Schnittmenge an Gemeinsamkeiten hinter sich lässt. Den Sachverhaltsaussagen „S“ entsprechen nämlich nicht nur Werturteile oder Normen, sondern (so wird das Konzept in der Forschungsliteratur jedenfalls gehandhabt) auch axiologisch relevante Handlungen des Erzählers in der erzählten Welt. Verstößt das erzählte Ich in der Handlung z. B. gegen Verhaltensregeln, zu denen es sich als erzählendes Ich an anderer Stelle bekennt, dann ist das Ich ein axiologisch unzuverlässiger Erzähler qua Unterlassung – wenn es auf diese Inkongruenz nicht eingeht. Ginge es darauf ein (etwa indem es sich für seinen Regelverstoß rechtfertigt und besondere Umstände geltend macht), dann wäre es ebenso unsinnig, es für unzuverlässig zu halten, wie in dem Fall eines mimetisch unsicheren Erzählers, der seine Fallibilität einzelfallangemessen problematisiert.Footnote 41

Den Sachverhaltsaussagen „S“ entspricht also nicht nur das Bekennen zu Normen „N“ oder Werturteilen „W“, sondern auch Handlungen bzw. Aktionen A eines Ich, über die es selbst berichtet oder über die in Figurenzitaten oder Herausgeberfiktionen informiert wird. Aber auch die Sachverhalte S und die Normen bzw. Werte W unterscheiden sich stark voneinander in der Rolle, die sie in der Relation spielen. Im Gegensatz zu den Sachverhalten müssen die Werte und Normen im Falle des unzuverlässigen Erzählens nicht in derselben Weise Gegenstand der Erzählung sein. Normen oder Werte gelten, zunächst, in einer erzählten Welt in ähnlicher Weise wie jene Sachverhalte, deren Bestehen vorausgesetzt wird, ohne dass sie Gegenstand der Erzählung sind. (Z. B.: In der Regel besteht der Sachverhalt, dass Figuren essen und trinken, selbst wenn davon nicht die Rede ist.) Wenn aber eine Erzählung mimetisch unzuverlässig ist, dann ist der Sachverhalt, aufgrund dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Erzählung unzuverlässig ist, zwangsläufig Gegenstand von Behauptungen (mögen diese in manchen Fällen auch nur präsupponiert sein). Das muss bei axiologisch unzuverlässigem Erzählen nicht so sein. Während ein nicht erzählter Sachverhalt nicht falsch dargestellt werden kann, kann doch gegen eine nicht erzählte Norm verstoßen werden, die man trotzdem für den Text annehmen muss.

Die Argumentstellen der Inkongruenz-Relation sind bei axiologischen Urteilen viel variabler als bei mimetischen Behauptungen. Ein mimetisch unzuverlässiger Erzähler behauptet Falsches, während er zugleich oder auch an anderer Stelle die Wahrheit auf irgendeine Weise mitkommuniziert (es sei denn, das geschieht über eine Herausgeberfiktion o. ä.).Footnote 42 Ein in axiologischer Hinsicht unzuverlässiger Erzähler dagegen muss die richtigen Urteile keineswegs kommunizieren. Es gibt viele Fälle, in denen das richtige Urteil bzw. die geltenden Normen ungesagt bleiben und vom Wertekontext mitgeliefert werden, in dem das Werk steht.

Es stellt sich die Frage, was das für ein Wertekontext ist und wie er sich ermitteln lässt. Diese Frage ist im Falle axiologischer Unzuverlässigkeit viel schwieriger zu beantworten als im Falle mimetischer Unzuverlässigkeit, wie in Abschn. 1.8 über den Maßstab erläutert wird. Der in der Formulierung des ersten Kriteriums (K1) für mimetische Unzuverlässigkeit benannte Maßstab (erzählte Welt) kann in die Definition axiologischer Unzuverlässigkeit nicht aufgenommen werden, da auch und gerade solche Erzählungen für axiologisch unzuverlässig erachtet werden, also etwa Dystopien, deren Erzählinstanzen sich im Einklang mit den in ihren erzählten Welten geltenden Normen und Werten befinden, aber eben nicht mit den Normen und Werten, die man aus bestimmten Gründen als axiologischen Maßstab an die Werthaltung der Erzählinstanzen anlegt. Während man also sagen kann, dass im Falle mimetischer Unzuverlässigkeit jeder Text (in der Regel) seinen Maßstab in sich trägt, ist das bei axiologischer Unzuverlässigkeit nicht so. Trotzdem wird man in vielen Fällen auch bei axiologisch unzuverlässig erzählten Texten wissen, welche von der Erzählinstanz vermittelten Werte und Normen zur Disposition stehen, weil man über das relevante kontextuelle Wissen verfügt oder es sich leicht verschaffen kann. Auch wenn es also diesen prinzipiellen Unterschied zwischen mimetischer und axiologischer Unzuverlässigkeit gibt, lässt er sich im Interesse möglichst homogener Kriterien (um Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit der Theorie zu gewährleisten) mit Hilfe eines Tricks umgehen. Dieser Trick besteht in der universalistischen Annahme, dass die Werte und Normen, die in der erzählten Welt nicht gelten und gegen die auch die Erzählinstanz verstößt, in der erzählten Welt ebenso gelten müssten, wie sie in unserer Welt gelten (müssten).Footnote 43

Aus diesem Grunde möchte ich statt einer Definition für axiologische Unzuverlässigkeit lediglich eine Art Daumenregel aufstellen, mit der sich zumindest das Prinzip und klare Fälle axiologischer Unzuverlässigkeit erkennen und dann auch näher analysieren lassen. Es bietet sich an, auf die bewährte Formulierung zurückzugreifen und sie auf die anderen Umstände anzupassen:

(R)

Wenn die Erzählinstanz bzw. die Erzählrede N zu verstehen gibt (gleich ob durch explizites oder implizites Werturteil oder durch Handlung), dass sie für bestimmte W nicht einsteht, obwohl W in eW gelten müssten, ist N in der Regel axiologisch unzuverlässig.

(R) ist erkennbar angelehnt an (K1). Hingegen gilt (K2) für axiologische Unzuverlässigkeit nicht in der Weise wie für mimetische Unzuverlässigkeit, weil ein Text axiologisch unzuverlässig erzählt sein kann, ohne dass die Unangemessenheit der Axiologie in der erzählten Welt thematisiert oder gar aufgelöst wird. Wenn es hingegen um fiktive Sachverhalte geht, die möglicherweise falsch dargestellt werden, muss dies vom fiktionalen Text in irgendeiner Form kommuniziert werden.

Die Wiederverwendung der Formulierung von (K1), dass die Zuschreibung auch axiologischer Unzuverlässigkeit davon abhängig ist, was die Erzählung kraft Erzählinstanz zu verstehen gibt, erfolgt indes nicht ohne Grund. Stellt man sich einen Ich-Erzähler vor, der seine Autobiografie schreibt und von seinem Leben voller schlechter Handlungen und Einstellungen berichtet, diese aber auch in der Rückschau als solche bewertet (und dies im Einklang mit den Werten, die in der erzählten Welt gelten), dann ist er kein unzuverlässiger Erzähler, weil er ja als erzählendes Ich für die richtigen Normen einsteht. Unterlässt er diese nachträgliche Bewertung allerdings in einer Weise, dass er zu verstehen gibt, dass er auch als erzählendes Ich noch nicht die Schlechtigkeit seiner Handlungen erkennt, dann ist er axiologisch unzuverlässig. Das gilt auch für den Fall, dass er sie zwar erkennt, aber nicht anerkennt bzw. einsieht, dass er eigentlich hätte anders handeln müssen.

Denkt man sich in das Schema weiter hinein, sieht man sofort, dass es sich leicht in diese oder jene Richtung komplizieren lässt. Wenn der Ich-Erzähler seine schlechten Handlungen zwar aus der Retrospektive als solche bewertet, dann aber wieder rechtfertigt, kommt es auf die Art der Rechtfertigung an, wenn man herausfinden will, ob er diesbezüglich unzuverlässig ist oder nicht: Erweist sich seine Rechtfertigung etwa als kausale Erklärung, wäre er nicht unzuverlässig, weil er mit dieser Erklärung gar keine axiologische Aussage macht; handelt es sich tatsächlich um einen Rechtfertigungsversuch, hängt die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit davon ab, ob der Rechtfertigungsversuch, gemessen an den geltenden Werten, gelingt oder nicht. Weiter komplizieren lässt sich dieses Schema schließlich auch noch dadurch, dass die Schlechtigkeit des Ich-Erzählers meistens nicht auf dem Bruch aller für seine Erzählung relevanter moralischer Regeln beruht, sondern nur einiger, und dass er in mancher Hinsicht vielleicht auch ausgesprochen gut handelt.

Wie im Falle mimetischer Unzuverlässigkeit liegt in dem hier vorgeschlagenen Modell hingegen keine axiologische Unzuverlässigkeit vor, wenn der Wert einer Handlung oder einer Aussage einer Erzählinstanz nicht bestimmbar ist, etwa wenn gute und schlechte Handlungen so nah beieinander liegen, dass sie in direkter unauflösbarer Konkurrenz stehen und der Sinn dieser speziellen Wertekonfiguration darin liegt, die axiologische Aporie aufzuzeigen, ohne eine eindeutige Handlungsempfehlung daraus ableiten zu können.

Sehen wir uns nun kurz zwei Beispiele an! Zunächst ein Fall, der zeigt, dass axiologische Unzuverlässigkeit nicht immer nur moralische Aussagen betrifft: Der erzählende Protagonist in Max Frischs Homo faber (1957) ist in vielerlei Hinsicht unzuverlässig, so auch mit Bezug auf die ästhetische und instrumentelle Würdigung von Maya-Ruinen bzw. ihrer Erforschung. Er drückt sein Unverständnis über das Interesse Marcels aus, der mit großem Eifer in drückender Hitze die Ruinen untersucht und mühsam Reliefs mit Kohlestift abpaust. Fabers Haltung gegenüber den Überbleibseln einer ausgestorbenen Kultur korrespondiert mit seinem technizistischen Zugang zur Welt, der alles Subjektive – Faber spricht auch mit Unverständnis von Erlebnissen, die seine Mitmenschen zu haben glauben und offenbar für wichtig erachten – ausblendet. Die Pointe des Romans ist, dass Faber mit solch ungewöhnlichen Erlebnissen konfrontiert wird, die ihn zur Anerkennung der Unvollständigkeit seines Weltbildes führen. Dies legt nahe, dass Fabers Haltung gegenüber den Artefakten nicht mit dem identisch ist, was der Roman über die ästhetische und instrumentelle Beziehung zu alten Ruinen vermitteln will. Er ist also auch diesbezüglich axiologisch unzuverlässig.

Mir geht es an dieser Stelle zunächst darum, eine Hypothese über den axiologischen Status der Aussagen einer Erzählinstanz aufzustellen. Gemäß der oben formulierten Daumenregel (R) gibt es aufgrund der Entwicklung von Fabers Geschichte Hinweise darauf, dass Faber mit seinen Äußerungen ästhetischen und instrumentellen Werten widerspricht, deren Gültigkeit man für die erzählte Welt vor dem Hintergrund anderer Aussagen im Roman annehmen kann. Diese Hypothese lässt sich auch ohne vertiefte Kenntnisse des Werkkontextes aufstellen. Möchte man sie bestätigen, wird man auf textexterne Belege aus dem Werkkontext zurückgreifen, aber für eine Weiterführung der Analyse auf dem Boden textinterner Daten sollte eine so begründete Hypothese ausreichend gut validiert sein.

Das zweite Beispiel betrifft die Handlung einer Erzählerfigur als erlebendes Ich, die sie als erzählendes Ich nicht bewertet. In der Geschichte „Veitel und seine Gäste“ in Wolfdietrich Schnurres „Roman in Geschichten“ Als Vaters Bart noch rot war (1958) verhält sich das erlebende Ich antisemitisch. Der noch sehr kindliche Ich-Erzähler sitzt allein im Sandkasten und wartet auf seine Freunde, als ihn Veitel anspricht, um mit ihm zusammen zu spielen. Das erlebende Ich des Erzählers lehnt das ab, weil Veitel Jude ist und weil es unter dem Einfluss seiner Spielkameraden steht, die ihm die Ablehnung der Juden vorgemacht haben. Das erzählende Ich kommentiert diesen Vorgang nicht weiter und bewertet ihn vor allem nicht. Es wird das antisemitische Wort „Itzig“ benutzt (VB, 14), das das erlebende Ich nicht kennt. Man kann also sagen, dass das erzählende Ich durch seine axiologische Zurückhaltung vor allem den kindlichen Antisemitismus zur Sprache bringt und dadurch zu verstehen gibt, dass Antisemitismus hier nicht negativ bewertet wird, obwohl er für die Geschichte als negativer Wert angenommen werden muss. Damit liegt hier ein Widerspruch zwischen Handlung und Norm vor, der von der Erzählinstanz an dieser Stelle nicht ausgeräumt wird.

Wie beim mimetisch unzuverlässigen Erzählen stellt sich auch bei axiologischer Unzuverlässigkeit die Frage danach, wie Unzuverlässigkeit in heterodiegetischen Erzählungen realisiert ist. Die Diskussion darum ist inzwischen sehr avanciert.Footnote 44 Auch diesbezüglich ist es so, dass der Trend eher zu einem umfassenden Konzept von Unzuverlässigkeit neigt. Meine Herangehensweise ist eine andere. Nach meinem Dafürhalten ist es sinnvoll, das Konzept so eng wie möglich zu fassen. Der Sinn liegt darin, Unzuverlässigkeit nur als einen Teil einer übergeordneten Theorie zu sehen, deren Gegenstand der Umstand ist, dass Texte, die von erzählten Welten handeln und dies mit ästhetischer Absicht umsetzen, kraft ihrer Erzählinstanzen ihre Gegenstände (= eW) nicht vollständig, nicht objektiv und dies nicht unabhängig von bestimmten Aussageabsichten darstellen. Anders gesagt: Die Darstellung erzählter Welten unterliegt bestimmten Restriktionen, von denen Unzuverlässigkeit eine besondere, eine von mehreren Möglichkeiten ist.

An einem Beispiel möchte ich das verdeutlichen. In der älteren Erzähltheorie wurde der Unterschied zwischen Erzähl- und Reflektorinstanzen häufig überblendet. Dies hat zur Kritik Genettes geführt und zu seiner berühmten Unterscheidung zwischen „Wer spricht?“ und „Wer sieht?“ (Genette 1998 [1972], 132), mit der er seine nicht unumstrittene Fokalisierungstheorie einleitet. Noch Booth (1961) hielt Erzählungen, deren (mit Genette gesprochen) intern fokalisierte Helden unmoralische Überzeugungen vertreten, für unzuverlässig. Die erzählte Welt wird, häufig durch erlebte Rede, ausschließlich durch die Wahrnehmung und Auffassung einer Figur dargestellt, wobei (intentionalistisch gesagt) der Autor diese Auffassung nicht teilt, sondern sie so darstellt, dass der aufmerksame Leser sie als defektiv erkennen kann.

Tatsächlich könnte man überlegen, ob solche Erzähltexte unzuverlässig erzählt sind, auch wenn man in diesen Fällen nicht, wie noch Booth meinte, von unzuverlässigen Erzählern sprechen kann, eben weil intern fokalisierte Reflektorfiguren keine Erzählinstanzen sind. Man könnte aber vielleicht sagen, dass mit Hilfe solcher Reflektorfiguren, deren Überzeugungen axiologisch fragwürdig sind, in unpersönlicher Weise unzuverlässig erzählt wird, weil die heterodiegetische Erzählrede durch den Verzicht auf die Korrektur der fragwürdigen Überzeugungen der Reflektorfigur ebenso und mit ihr insgesamt etwas Fragwürdiges zu verstehen gibt. Ähnlich wie in vergleichbaren homodiegetischen Erzählungen besteht der Effekt darin, dass eine Auffassung von Werten und Normen vorgeführt wird, die der Leser aufgrund von versteckten Hinweisen als defektiv erkennen soll.

Sehen wir uns ein Beispiel aus dem Korpus der Nachkriegsliteratur an, das diese Überlegungen veranschaulicht: Von unserem Fleisch und Blut (1947) von Walter Kolbenhoff. Der Roman erzählt von den Erlebnissen eines Heranwachsenden während einer Nacht am Ende des Zweiten Weltkrieges in einer zerstörten deutschen Stadt, in der Amerikaner patrouillieren. Die Perspektive des Jungen wird vor allem mittels Erzählbericht und Gedankenrede dargeboten. Er gehört zu einer trotz Kapitulation noch weiterkämpfenden Einheit. Dazu zählen außerdem Kruse, ein NS-Autor und der geistige Führer des Jugendlichen, und Moller, ein alter bewunderter Offizier. Kruse kommt in einem Schusswechsel um, so dass der Junge mit Moller allein zurückbleibt. Dieser ist in den Augen des fanatischen Jungen ein Defätist, weil er die Sinnlosigkeit des Kampfes sieht und das Ergebnis des Krieges für furchtbar hält. Kurzerhand erschießt er Moller. Anschließend begibt er sich auf den Weg durch die Stadt und führt Selbstgespräche, die seinen Fanatismus bestätigen. In eingebildeten Dialogen vor allem mit Kruse redet er sich den Opfertod schön. Zugleich werden einige Erinnerungen aktualisiert, die ihn als ängstliche und zugleich hochmütige Persönlichkeit zeigen. Nachdem er zu seiner Überraschung von seiner Mutter, die sich ihm aufgrund seines Fanatismus entfremdet hat, zurückgewiesen wird, sucht er, völlig erschöpft, Obdach bei dem ehemaligen Zirkusartisten Zempa auf dem Müllplatz. Nach einer Auseinandersetzung bringt er auch ihn um.

Unzuverlässig erzählt sein könnte der Roman, weil die faschistische Axiologie, die der Junge in seinen Gedanken zum Ausdruck bringt, zunächst nicht widerlegt, sondern nur dargestellt wird. Das heißt, wer nicht weiß, an wen sich der Roman primär richtet und wer der Autor ist (ein dem Widerstand nahestehender Linker, der dann doch in der Wehrmacht und schließlich in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager landete), der könnte möglicherweise denken, dass hier NS-Ideologie transportiert wird. Wer die Ideologie des Jungen teilt, dem könnte der Roman zu verstehen geben, dass die Handlungen des Jungen nicht irregeleitet, sondern konsequent und heroisch sind.

Um den Roman so zu verstehen, müsste man jedoch sehr selektiv lesen. Dagegen spricht nämlich, dass der Junge überhaupt nicht heldenhaft geschildert wird, sondern körperliche und andere Reaktionen zeigt, die damit nicht in Einklang stehen. Auch einige Kontrastfiguren, deren Erlebnisse in derselben Nacht ebenfalls geschildert werden, etablieren eine konkurrierende Axiologie, deren Werte Mitleid und soziale Verantwortung sind. Schließlich wird die Ideologie des Jungen in seinen Erinnerungen als Folge von Demütigungen erklärt, die einen Minderwertigkeitskomplex andeuten. Implizit wird dadurch die antinazistische Werkaxiologie angezeigt, an der gemessen sich die Reflektoraxiologie als falsche Wertvorstellung erweist. Zu viel von dem, was dem Jungen widerfährt bzw. was er tut, weist ihn als Anti-Helden auch für diejenigen Leser aus, die den Text axiologisch vollkommen unvoreingenommen rezipieren.

Vorstellbar sind natürlich auch Erzählungen, die auf die Etablierung der werkkonformen Axiologie in der erzählten Welt vollständig verzichten. Geben solche Texte mit axiologisch fragwürdigen Erzählinstanzen nicht unangemessene Handlungen und Werte zu verstehen? Diese Frage lässt sich nicht rundweg verneinen, und darin liegt auch die Ähnlichkeit solcher Texte mit unzuverlässig erzählten Texten. Doch der Unterschied ist nicht nur ein terminologischer, wie Jacke (2020, 251 f.) meint. Um sie mit den unzuverlässigen Erzählinstanzen auf eine Ebene zu stellen, müssten Reflektorinstanzen dieselbe Autorität für das Erzählte haben wie Erzählinstanzen. Da sie aber nur erzählte Figuren sind, fehlt ihnen das Erzählerprivileg, verantwortlicher Urheber der dargestellten Geschichte zu sein. Dies gilt jedoch allenfalls für den Grenzfall von Erzählungen, die ganz ohne Erzählinstanz auskommen, wie z. B. Leutnant Gustl. Hier ist es so, dass die Figur an die Stelle der Erzählinstanz rückt.

Die Erzählerrede gibt im Falle von dominanten Reflektorfiguren selbst keine Werturteile ab. Sie stellt anheim, wie das zu verstehen ist, was sie präsentiert, ohne zu bewerten. Daher kann sie in diesen Fällen laut meiner Definition nicht unzuverlässig sein. Dargestellte Figuren verfügen nicht über das Privileg, das die Erzählrede hat. Als dargestellte Figuren sind sie immer Gegenstand der Frage, wie sie sich verhalten und ob das gut ist. Manchmal gibt die Erzählinstanz hierzu explizite Hinweise, manchmal unterlässt sie es. Es wäre übertrieben, jede Erzählinstanz für unzuverlässig zu halten, die axiologisch fragwürdiges Verhalten ihrer Figuren, sei es sprachlich oder unsprachlich, unbewertet lässt.

Intern fokalisierte Figuren, die axiologische oder epistemische Defekte aufweisen, sind zwar verwandt mit ihm und haben ähnliche Effekte wie das unzuverlässige Erzählen. Aber als ausschließlich dargestellte und eben nicht erzählende Instanzen besitzen sie nicht den sozusagen janusköpfigen Status von Ich-Erzählern, die sowohl dargestellt als auch erzählend/darstellend sind und daher eine Verantwortung für die Richtigkeit ihrer Auffassungen tragen, die ausschließlich dargestellte Figuren nicht haben. Aus diesem Grunde werden Erzählungen bzw. Romane, die einer solchen Konzeption entsprechen, im vorliegenden theoretischen Vorschlag nicht berücksichtigt. Das betreffende Korpus wird bereits im Rahmen der Theorie der erlebten Rede untersucht. Das ist sein Platz, und eine andere Theorie sollte ihn nicht usurpieren.

1.7 Bezugsbereich

Kehren wir zurück zum mimetisch unzuverlässigen Erzählen, wenngleich die zu erläuternde Komponente für das axiologisch unzuverlässige Erzählen in analoger Weise von Bedeutung ist. Für die Erläuterung ist jedoch das Beispiel mimetischer Unzuverlässigkeit anschaulicher. In einigen jüngeren Definitionen narrativer Unzuverlässigkeit gibt es eine Komponente, die anzeigt, dass Texte nur abschnittweise unzuverlässig erzählt sind (Stühring 2011, Köppe/Kindt 2014). Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass in diesen Definitionen ein Aspekt stark gemacht wird, der mit der Wirkung des unzuverlässigen Erzählens zu tun hat: Leser werden über die wahren Verhältnisse in der erzählten Welt getäuscht – so lange eben, bis die Wahrheit ans Licht kommt.

Diese Konzeption wirft die Frage auf, was der Träger der Eigenschaft ist, unzuverlässig erzählt zu sein: eine Passage oder ein ganzer Text? Während Kindt (2008, 58) sowohl mimetische als auch axiologische Unzuverlässigkeit als Eigenschaft versteht, die einer Erzählinstanz bzw. einer heterodiegetischen Erzählung auf der Basis des Werkganzen zugeschrieben wird, scheint sich das Konzept, das auf zeitweilige Täuschung der Unzuverlässigkeit abhebt, vornehmlich auf einzelne Passagen zu beziehen. Der Vorteil dieser Sichtweise ist, dass sie präziser ist, weil Erzählinstanzen zumindest oft die Aufhebung der Unzuverlässigkeit bzw. Täuschung, ob unfreiwillig oder nicht, selbst gewährleisten.Footnote 45 Ihre Unzuverlässigkeit hat eben Grenzen, und wenn man die Unzuverlässigkeit lediglich Passagen zuschreibt, die ein falsches Bild von der erzählten Welt vermitteln, dann kann man diese Grenzen sichtbar machen. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass das Konzept weitgehend frei bleibt von interpretativen Annahmen über den Text. Ob eine Passage täuschend unzuverlässig erzählt ist, lässt sich auf der Basis von Annahmen über die erzählte Welt ermitteln. Diese Ebene wird auch mit (K2) noch nicht verlassen, obgleich die Angabe von diegetischen Erklärungen, die erschlossen werden müssen, mit Blick auf ihren deskriptiven Charakter prekärer sind.

Der Preis dieser Konzeption ist indes nicht ganz gering, denn man verliert leicht das Textganze aus dem Blick. Außerdem trennt die Täuschungskonzeption, was man auch als zusammengehörig betrachten kann. Zum Konzept von narrativer Unzuverlässigkeit, das hier vorgeschlagen wird, gehört dazu, dass sie aufgelöst wird, wie aus dem 3. Einwand in Abschnitt (d) hervorgeht. Der gewichtigste Einwand aber besteht darin, dass damit ein Phänomen ungebührlich in den Vordergrund rückt, das man behelfsweise „Mikro-Unzuverlässigkeit“ nennen könnte, ein Phänomen, das zwar unter diese Definition fällt, das aber – vermute ich – den Intuitionen der meisten Literaturwissenschaftler, es als unzuverlässig einzustufen, widersteht. Wie lassen sich eine schlanke Definition und besagte Intuitionen miteinander in Einklang bringen?

Ein solcher Fall ist die sofortige Selbstkorrektur einer Erzählinstanz nach einer falschen Behauptung. Wieder ist es Anderschs Roman Efraim, der ein Beispiel liefert. Efraim berichtet vom Leben mit seiner Frau Meg in der gemeinsamen Londoner Wohnung, in der sich die als Fotografin tätige Meg ein Labor eingerichtet hat; er sagt, dass ihre Anwesenheit ihn nie in seiner eigenen Arbeit als Journalist gestört habe. Dann aber erinnert er sich ihrer erotischen Bedeutung für ihn und korrigiert sich: sie habe ihn doch zuweilen gestört (vgl. E, 143 f.). Solche Passagen müssten gemäß der Täuschungskonzeption als unzuverlässig erzählt gelten, da der Erzähler, weil er es im ersten Augenblick selbst nicht besser weiß, den Leser (und eben sich selbst) über die wahren Verhältnisse täuscht. Aber auch gemäß (K1) gibt Efraim mit der ersten Formulierung etwas Falsches zu verstehen. Selbst (K2) ist erfüllt, denn Efraim reflektiert sein Verhältnis zu Meg. In der ersten Formulierung (sie störte nicht) fokussiert er den Arbeitsalltag der Ehe, in der zweiten (sie störte doch) kommt ihre erotische Anziehungskraft zum Ausdruck. Entsprechend verlagert sich die Bedeutung des „Störens“. Während es in der ersten Formulierung in der Bedeutung benutzt wird, wonach eine unwillkommene Unterbrechung einer Tätigkeit gemeint ist, verzichtet die zweite Formulierung auf das Merkmal des Unwillkommenen. Die diegetische Erklärung für die falsche Verallgemeinerung Efraims liegt also darin, dass er nachdenkt und dabei den Aspekt verschiebt, unter dem er sich an ihr Zusammenleben erinnert.

Trotzdem würde wohl kaum jemand einen Text, der nur aus solchen oder analogen Passagen besteht, für unzuverlässig erzählt halten. Man könnte nun eine weitere einschränkende Bedingung (*K3) finden wollen, mit deren Hilfe solche falschen Sachverhaltsaussagen, für deren Falschheit es überdies eine triftige Erklärung gibt, aus dem Kreis unzuverlässig erzählter Text(passagen) ausgeschlossen werden können:

Während (K2) eine diegetische Erklärung fordert, indem eine oder mehrere Ursachen spezifiziert werden, aus der bzw. denen die Falschbehauptung folgt, geht es nun um eine Erklärung höherer Ordnung. Einzelne Falschbehauptungen, so die grundlegende Annahme, stehen in einem bestimmten Zusammenhang zueinander, sofern sie Anlass und Grund für die Zuschreibung von unzuverlässigem Erzählen sind. Dieser Zusammenhang ist der Bezugsbereich B, in dem sie zusammenlaufen. Solche Bezugsbereiche kann man z. B. an den Erzählertypen festmachen, nach denen Riggan (1981) unzuverlässige Erzählinstanzen ordnet. So können die Falschbehauptungen einer Erzählinstanz, die im Einzelnen je unterschiedliche Gründe oder Anlässe haben, darin zusammenlaufen, dass die Erzählinstanz wahnsinnig ist. Es können aber auch konkretere Bezugsbereiche bezeichnet werden. Efraims Unzuverlässigkeit manifestiert sich in seinen Aussagen über die Shoah, über deren wahre Bedeutung für ihn selbst (aber auch im Allgemeinen) er als Sohn zweier Opfer sich aus Selbstschutz etwas vormacht. Der Bezugsbereich ist begrenzt auf seine Aussagen, die dieser Thematik zugeordnet werden können. Was demgegenüber seine Frau Meg angeht, von der er zum Zeitpunkt des Erzählvorgangs längst getrennt ist, so erzählt er nicht unzuverlässig, weil er nichts Falsches zu verstehen gibt, sondern ständig Andeutungen macht, dass da etwas im Argen liegt, auch wenn er sich selbst nicht darüber im Klaren ist und es sich erst im Zuge des Erzählens und des davon angestoßenen Nachdenkens über sich selbst eingesteht. Eben dieser Thematik ist das oben vorgelegte Beispiel zugehörig. Es steht also nicht im Bezugsbereich, der in Efraim unzuverlässig erzählt ist, sondern außerhalb und konturiert Efraim als suchenden, reflektierenden Erzähler, der sich über seine Beziehung zu Meg Klarheit verschaffen will.Footnote 46

Die dritte Bedingung könnte (unter Einschluss auch axiologischer Unzuverlässigkeit) demnach folgendermaßen lauten:

(*K3)

Nur dann, wenn sich eine oder mehrere falsche Sachverhaltsaussagen „S1–n“ (oder unrichtige Bewertungen „W1–n“ oder Handlungen „A1–n“) der Erzählrede bzw. -instanz N einem Bezugsbereich B zuordnen lassen, der aus einem Funktionszusammenhang mit den entsprechenden diegetischen Erklärungen für „S1–n“ usw. besteht, ist N in gehaltvoller Weise mimetisch (axiologisch) unzuverlässig.

Ein Funktionszusammenhang besteht dann, wenn für die einzelnen diegetischen Erklärungen eine Erklärung zweiter Ordnung gefunden werden kann, die den Zusammenhang der diegetischen Erklärungen in der erzählten Welt mit einer Eigenschaft des Textganzen bzw. Werks herstellt.

Ich habe die dritte Bedingung vorsorglich mit einem Asterisk versehen, da sie mir zu anspruchsvoll ist, um sie ins Definiens der Begriffsbestimmung aufzunehmen. Ich nehme lieber in Kauf, dass Passagen umgehender Selbstkorrekturen, wie die exemplarisch erwähnte, als Fälle narrativer (Mikro-)Unzuverlässigkeit gelten können. Solche Fälle sind jedoch bedeutungslos. Man kann zwar darauf bestehen, dass entsprechend vielen Definitionen solche Passagen unzuverlässig erzählt sind, und dies gegen die Adäquatheit dieser Definitionen wenden. Und die Bedeutungslosigkeit dieser Passagen kann auch nicht als Grund dafür herhalten, das theoretische Problem zu lösen. Dennoch kann man aus den Überlegungen, die zu (*K3) geführt haben, einigen Nutzen ziehen. Eingangs habe ich das Vorhaben formuliert, dass es mir nicht nur ums Klassifizieren geht, sondern angekündigt, dass ich das Konzept narrativer Unzuverlässigkeit fruchtbar für Interpretationen machen möchte. Die in diesem Abschnitt angestellten Überlegungen zum Bezugsbereich des unzuverlässigen Erzählens leisten genau dies. Wenn wir nicht nur feststellen wollen, ob ein Text unzuverlässig erzählt ist, um ihn danach gleich zu den Akten zu legen, sondern auch ergründen wollen, erstens, inwiefern er unzuverlässig erzählt ist und, zweitens, was dieses Ausmaß leistet, dann wird die Komponente B des Konzepts, dann wird der Bezugsbereich des unzuverlässigen Erzählens in einem Text darüber Aufschluss geben.

Um den Bezugsbereich B des unzuverlässigen Erzählens in einem Text zu bestimmen, wird man zwei grundlegende Operationen durchführen müssen: erstens Regularitäten zwischen den falsch dargestellten Sachverhalten bzw. den jeweiligen diegetischen Erklärungen finden und zweitens diese zu dem oder einem Thema des Erzählens in Beziehung setzen. Über den Bezugsbereich B ermittelt man die Bedeutsamkeit der einzelnen unzuverlässig erzählten Sachverhalte für das Textganze und kann auf diese Weise die Frage beantworten, ob nur einzelne Passagen unzuverlässig erzählt sind oder der Text als Ganzes. Ist nur eine einzelne Passage im beschriebenen Sinne unzuverlässig erzählt oder sind es mehrere ohne erkennbaren Zusammenhang, dann dürfte ein guter Grund vorliegen, die Interpretation des Textes unter dem Aspekt der Unzuverlässigkeit abzubrechen.Footnote 47

An der unterschiedlichen Bedeutung desselben Verfahrens in zwei Romanen lässt sich dies noch einmal vergleichend illustrieren. Anderschs Efraim und Martin Walsers Halbzeit (1960) präsentieren sich zunächst als innere Monologe ihrer Erzählerprotagonisten. Durch grammatisches Präsens und weitere Verfahren vermitteln beide Erzählinstanzen, dass sie sich jeweils als erlebendes Ich äußern. In beiden Fällen stellt sich jedoch heraus, dass der innere Monolog keiner ist. Stattdessen erweisen sich beide als schreibende Erzähler, die vorher nur so getan haben, als würden sie sich unmittelbar äußern und gerade Erlebtes mitteilen. Der Unterschied besteht darin, dass Efraim diesen Wechsel kommentiert und den Widerspruch zwischen Literarisierung und authentischer Äußerung thematisiert, während Kristlein sich hierzu gar nicht äußert. In Efraim wird die vorübergehende Täuschung daher zum Gegenstand des Erzählens gemacht und damit durch einen übergeordneten Bezugsbereich funktionalisiert, wohingegen in Halbzeit kein solcher Bezugsbereich zu erkennen ist und kein Widerspruch zwischen innerem Monolog und schreibendem Erzähler etabliert wird. Man könnte zwar in Kristleins Schreibweise, die als innerer Monolog die Unmittelbarkeit der präsentierten Gedanken vermittelt, einen Widerspruch dazu sehen, dass er in Wirklichkeit schreibt, und also insofern unzuverlässig erzählt, als er mit Hilfe seines Stils einen in der erzählten Welt nicht bestehenden Sachverhalt (dass er sich unmittelbar äußert) zu verstehen gibt. Da es hier jedoch keinen übergeordneten Bezugsbereich gibt, gibt es keinen Hinweis darauf, dass hier ein Widerspruch zwischen dem existiert, was er zu verstehen gibt, und dem, was tatsächlich der Fall ist. Dieser potentielle Widerspruch ist für diesen Roman nicht von Bedeutung. In Efraim ist dieser Widerspruch im Gegensatz zu Halbzeit jedoch in einen Bezugsbereich eingebettet und deswegen auch von Bedeutung für die Unzuverlässigkeit des Erzählers Efraim, die er in diesem Fall jedoch frühzeitig aufhebt.Footnote 48

1.8 Maßstab

In den vorangegangenen Abschnitten deutete sich hier und da bereits an, was es mit dem Maßstab auf sich hat. Insbesondere in den Abschnitten zur axiologischen und mimetischen Inkongruenzrelation war davon die Rede. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass der Maßstab für mimetisch unzuverlässiges und für axiologisch unzuverlässiges Erzählen ein jeweils anderer ist. Im einen Fall wird der Maßstab durch die bestehenden Sachverhalte in der erzählten Welt festgelegt; im anderen Fall ist der Maßstab letztlich eine Konfiguration von Werten und Normen, die man für die Interpretation des Textes oder Werks annimmt.Footnote 49

Daher befindet sich axiologische Unzuverlässigkeit auf einer anderen interpretationstheoretischen Ebene. Sie setzt nicht nur die Ermittlung von Sachverhalten voraus, sondern auch die Feststellung eines werkexternen Wertehorizonts, der die Wertungen und das Handeln im Text determiniert. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass mimetische Unzuverlässigkeit textimmanent feststellbar ist, axiologische Unzuverlässigkeit jedoch nicht. Der Grund ist, dass es axiologisch unzuverlässige Erzählungen gibt, deren Normverletzungen durch die Erzählerprotagonisten nicht in der erzählten Welt sanktioniert werden und die als solche nur erkennbar sind vor dem Hintergrund eines werkexternen axiologischen Maßstabs, dessen Geltung man aus ebenfalls werkexternen Gründen für das Handeln der Erzählerprotagonisten annimmt.

Doch ist es keineswegs gesagt, dass es in beiden Fällen immer so ist. Wie gezeigt, gibt es für die Ermittlung mimetischer Unzuverlässigkeit nicht wenige Fälle, bei denen die Berufung ausschließlich auf die erzählte Welt nicht ausreicht: etwa wenn es versehentliche Fehler gibt, die Autoren unterlaufen sind, oder wenn es um unzuverlässig erzählte generelle Sachverhalte geht, die nicht nur in der erzählten Welt, sondern auch in unserer bestehen, und mit Bezug auf die eine Erzählinstanz unzuverlässig ist. In diesen Fällen reicht die Berufung ausschließlich auf die erzählte Welt als mimetischer Maßstab nicht, wenn man ermitteln möchte, was in ihr der Fall ist; man muss werkexterne Sachverhalte einbeziehen.

Umgekehrt lässt sich ein axiologischer Maßstab nicht selten ohne weiteres werkintern ermitteln, anhand dessen sich eine Erzählinstanz als axiologisch unzuverlässig erweist. Häufig lässt sich eine Daumenregel wie (R) anwenden, ohne werkexterne Daten zu berücksichtigen, weil aus dem erzählten Verhalten der Figuren in der betreffenden erzählten Welt mit hinreichender Sicherheit deutlich wird, welcher axiologische Maßstab gelten müsste. Die Feststellung eines axiologischen Maßstabs hat auch in diesem Fall den Status einer begründeten Hypothese, die sich freilich durch weitere Berufung auf werkexterne Daten ggf. noch erhärten bzw. noch besser begründen lässt.

Welche werkexternen Daten lassen sich zur Ermittlung des Maßstabs anführen? Dies ist eine Diskussion, die die Unzuverlässigkeitsforschung lange dominiert und zu einer gewissen Lagerbildung geführt hat, wie in der Einleitung bereits angedeutet wurde. Ich halte mich in dieser Frage kurz und verweise darauf, dass die Berufung auf Autorintentionen zur Ermittlung eines für ein Werk geltenden Wertekontextes bzw. -maßstabs hilfreich sein kann. Dasselbe gilt für die Ermittlung von in der erzählten Welt bestehenden generellen Sachverhalten, ohne dass dies durch entsprechende Sachverhaltsaussagen im Text ausdrücklich belegt ist.

Zum Schluss dieses Abschnitts möchte ich auf ein Phänomen beim axiologisch unzuverlässigen Erzählen aufmerksam machen, für dessen Analyse die Frage nach dem Maßstab bedeutsam ist. Es handelt sich um Texte, deren Axiologie ambivalent ist. Die Problematik ist vergleichbar mit Texten, deren erzählte Welten in bedeutsamer Weise unterdeterminiert bzw. offen sind (vgl. oben Abschnitt d, 3. Einwand). Dabei gilt es, mehrere Möglichkeiten zu unterscheiden:

  1. 1.

    Texte, denen konkurrierende Maßstäbe unterstellt werden.

  2. 2.

    Texte, die darauf angelegt sind, mit Bezug auf einen oder mehrere Werte unterdeterminiert (kurz: ambivalent) zu sein, bzw. Texte, bei denen nicht ermittelbar ist, ob sie ambivalent sind.

  3. 3.

    Texte, die ambivalent sind, aber nicht so gemeint sind.

  4. 4.

    Texte, deren Erzähler axiologisch verdächtig agieren, aber nicht in der Weise, dass sie unzuverlässig sind.

  1. 1.

    Hans Schnier, dem Erzähler von Bölls Ansichten eines Clowns (1963), wird insofern Unzuverlässigkeit mit Bezug auf Marie nachgesagt, als er sich ihr gegenüber rücksichtslos verhält: sie verführt, obwohl er die negativen Konsequenzen vorhersieht, und ihr seinen Lebensentwurf aufzwingt, der ihr nicht entspricht (vgl. Abschn. VII.2). Die Zuschreibung von axiologischer Unzuverlässigkeit basiert auf der Norm, dass aus der Gleichberechtigung von Mann und Frau ihre Gleichstellung folgt, also dass sie auch in Gesellschaft und Familie dieselben Funktionen haben, sowie auf der Norm, dass man Handlungen vermeiden sollte, die anderen Leuten Nachteile einbringen, selbst wenn diese Handlungen moralisch einwandfrei sind. Das Problem von Marie und damit auch von Schnier, weil sie ihn deswegen verlässt, ist jedoch, dass sie sich nicht von den (vom Roman stark kritisierten) Normen des formalen Katholizismus lösen kann. Diese Normen sind es, die schon den vorehelichen Beischlaf zweier Erwachsener zum Problem machen und Marie dazu zwingen, die Schule kurz vor dem Abitur zu verlassen; und sie sind es auch, die Marie dazu bringen, sich von Hans abzuwenden. Gegen diese Normen wendet sich Hans Schnier im Einklang mit der axiologischen Anlage des Romans. Dass Schnier mit seinem Verhalten Marie Probleme bereitet, liegt nur in kausaler Hinsicht an ihm, aber nicht in moralischer Hinsicht. Trotzdem würde es den Roman vielleicht interessanter machen, wenn man dem Roman die Geltung weiterer Normen wie Gleichstellung und Rücksicht (im Sinne einer verantwortungsethischen Haltung) unterstellen könnte. Sofern man geneigt ist, diese Normen trotzdem bei der Beurteilung der Werkaxiologie in Anschlag zu bringen, könnte man dem Erzähler Hans Schnier insofern axiologische Unzuverlässigkeit attestieren, als er mit seinem Verhalten miteinander konkurrierenden Normen – die, grob gesagt, dem Kontrast von Gesinnungs- und Verantwortungsethik entsprechen – ent- und widerspricht. Doch gibt es im Roman selbst meiner Ansicht nach keinen Hinweis auf die Geltung verantwortungsethischer Positionen. Die Werkaxiologie ist mithin nur ambivalent, wenn man einen zusätzlichen Maßstab anlegt, der vom Werk selbst nicht gedeckt wird.

  2. 2.

    Wie in Abschn. 4 desselben Kapitels dargelegt, ist die Axiologie von Walsers Roman Halbzeit nicht in jeder Hinsicht zweifelsfrei zu klären, weil Unsicherheit über den Maßstab herrscht. Lange wurde die Aufsteigergeschichte des promisken Opportunisten Anselm Kristlein als Gesellschaftskritik verstanden. Sicherlich zu Recht. Die Frage ist, wie weit diese Gesellschaftskritik reicht. Bezieht sie den Erzähler Kristlein ein oder nicht? Wenn sich die Kritik auch auf ihn richtet, ist er diesbezüglich ein axiologisch unzuverlässiger Erzähler, weil er sich in seinem Verhalten nicht von den Normen leiten lässt, die zu einer besseren Gesellschaft führen könnten, sondern von solchen, die das Verhalten affirmieren, das der Roman insgesamt angeblich kritisiert. Es ist aber auch möglich, dass der Roman dieses Verhalten nur vorführt, ohne darüber den Stab zu brechen. Für diese Lesart würde sprechen, dass Kristlein allgemein als liebenswerte Figur gilt und damit gewissermaßen das typisch Menschliche verkörpert. In diesem Fall wäre Kristlein diesbezüglich nicht axiologisch unzuverlässig, obwohl sein opportunistisches Verhalten seine axiologische Unzuverlässigkeit als mögliches Interpretationsergebnis nicht ausschließt. In Interviews auf Kristleins Motive angesprochen, äußert sich Walser zurückhaltend. Dass er sich nicht festlegt, spricht für die Ambivalenz des Textes; dagegen aber, dass Kristleins Opportunismus die Frage nach der moralischen Bewertung ständig präsent hält. Analoges gilt für Kristleins Ehebruch, der einerseits menschlich ist und den andererseits zu verurteilen trotzdem naheliegt, weil seine Frau Alissa als Kontrastfigur zu Anselm aufgefasst werden kann. Ob Ehebruch nicht nur empirisch, sondern auch moralisch normal ist oder im Rahmen des Werks einen Normbruch bedeutet, lässt sich nicht entscheiden, aber dass hier ein Konflikt besteht, leugnet der Roman nicht und ist für sein Verständnis relevant. Prinzipiell kann man daher sagen, dass axiologische Unzuverlässigkeit eine Kategorie ist, die unter Umständen geeignet ist, Ambivalenz in die eine oder andere Richtung aufzulösen.

  3. 3.

    Den dritten Typ von Ambivalenz exemplifizieren Romane des vergessenen Autors Heinz Risse wie etwa Dann kam der Tag (1953). Der Erzähler stellt sich als Insasse einer Heilanstalt vor, der einen von seinem Sohn angestrengten Entmündigungsprozess hinter sich hat. Als erfolgreicher Unternehmer ist der Erzähler zu der Erkenntnis gelangt, dass seine lebenslange Profitgier falsch war. Darum hat er seine Fabrik angezündet. Verletzt er mit dieser Handlung die Axiologie des Romans oder nicht? Wenn ja, wäre er unzuverlässig. Eigentlich spricht alles dafür, denn nicht nur seine Zurechnungsfähigkeit steht in Frage, auch hat er durch das Feuerlegen seine Familie und Mitarbeiter geschädigt. Zugleich ist er so felsenfest davon überzeugt, dass seine Umkehr richtig ist, dass der Roman einen starken Kontrast zwischen den verschiedenen Werthaltungen erzeugt, die man gegenüber dem Erzähler einnehmen kann. Er ist, werkimmanent betrachtet, ambivalent. Nimmt man aber die Aufsätze und Essays des Autors zur Kenntnis, die er in dieser Zeit veröffentlicht hat, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass er auf der Seite seines Erzählers steht. Zwar nimmt er zu der konkreten Handlung keine Stellung, doch handelt der Erzähler im Einklang mit der Werkaxiologie, wie sie vom Autor intendiert ist. (Dies ist im Übrigen eines von mehreren Beispielen, bei denen eine Erzählerfigur mit Merkmalen ausgestattet ist, die häufig als typische Kennzeichen für ihre Unzuverlässigkeit aufgefasst werden, hier aber gerade ihre Zuverlässigkeit anzeigen, indem sie als Außenseiterfiguren gegen die schlechte Mehrheitsgesellschaft profiliert werden.)

  4. 4.

    Schließlich gibt es Texte, für deren Verständnis zwei konkurrierende Wertmaßstäbe erforderlich sind, von denen einer die Auffassung des Erzählers charakterisiert und in Konflikt mit dem anderen steht, ohne aber dass der Erzähler unzuverlässig ist. Es handelt sich um eine auflösbare Ambivalenz. Wolfdietrich Schnurres Als Vaters Bart noch rot war (1958) beginnt mit einer Szene, in der der Ich-Erzähler die Treppe hinunterläuft und dabei erst eine Brotscheibe aus dem Fenster wirft, nachdem er die Wurst gegessen hat, und dann bei einer Nachbarin klingelt und ihr die Zunge herausstreckt. Diese Handlungen sind solche, die man als „ungezogen“ bezeichnen könnte. Sie verstoßen gegen Normen, denen zufolge man kein Essen wegwerfen darf und Erwachsenen mit Respekt begegnen soll. Diese Normen sind aber vermutlich nicht der Maßstab, der für das Werk gilt. Der Werkmaßstab ist vermutlich der, dass solche Handlungen normal für Kinder sind. Ich schreibe vorsichtig „vermutlich“, weil es keinen expliziten Textbeleg gibt, der diesen Maßstab autorisiert. Es sind das Fehlen von Sanktionen und die gesamte Normenstruktur des Textes, die darauf schließen lassen, dass das Wegwerfen der Brotscheibe und das Herausstrecken der Zunge nicht andeuten sollen, dass diese Handlungen des Erzählers verwerflich sind. Zugleich lässt sich aber annehmen, dass viele Figuren der erzählten Welt diese Handlungen für verwerflich halten. Durch die Erwähnung dieses Verhaltens wird eine gewisse axiologische Spannung zwischen den Wertvorstellungen zweier Gruppen erzeugt, deren erste durch Verständnis für kindliches Verhalten charakterisiert ist und deren zweite durch Unverständnis. Es gibt also einen axiologischen Kontrast, der im Text realisiert wird, ohne aber dass er zur Zuschreibung von Unzuverlässigkeit führt.

Diese Unterscheidungen sind wichtig, weil sie meiner Ansicht nach alle Modelle des unzuverlässigen Erzählens widerlegen, die sich für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit mit dem Vorliegen von Anomalien begnügen.Footnote 50 Insbesondere der Fall Risse macht deutlich, dass ohne die Ermittlung eines für das betreffende Werk gültigen Maßstabs die Sinnrichtung des Textes nicht feststellbar ist. Das zeigt ein simples Gedankenexperiment: Angenommen, derselbe Text (oder ein Text mit identischer Grundproblematik) sei von einem Autor geschrieben worden, dessen Werkaxiologie derjenigen Risses genau entgegengesetzt ist; dann wäre der Erzähler des Romans allein aufgrund der Anomalien im Text unzuverlässig, aber der Unterschied zu dem tatsächlichen Text könnte nicht festgestellt werden. Die Pointe von Risses Text ist ja gerade, dass er einen Erzähler präsentiert, der ein gesellschaftlicher Außenseiter ist und dessen Werte für Risse die richtigen sind, weshalb er eben höchst zuverlässig ist. Desgleichen wären nach dem Wahrscheinlichkeitsansatz auch Schnurres und Walsers Erzähler unterschiedslos axiologisch unzuverlässig, dies um den Preis des Verlusts jeglicher diskriminatorischer und texterschließender Kraft.

2 Unzuverlässigkeit und Interpretation

In diesem Abschnitt werde ich einige Fäden aufnehmen, die im vorigen ausgelegt wurden, und unter dem Aspekt der Interpretation zusammenführen.Footnote 51 Während dort der Fokus auf den Begriff selbst und seine Komponenten gerichtet war sowie auf die Bedingungen seiner Zuschreibung, geht es hier um die Stellung seiner Zuschreibung im Interpretationsprozess (verstanden nicht als empirischer Leseprozess, sondern als rational rekonstruierter, literaturwissenschaftlich kontrollierter Ablauf). Ziel ist, die interpretativen Voraussetzungen und Folgen, die sich aus der Zuschreibung von Unzuverlässigkeit ergeben, kenntlich zu machen und einzuordnen und damit zu einer Reduktion des allgemeinen Interpretationsrelativismus und -skeptizismus (bezogen auf die Ebene des grundlegenden Erzähltextverstehens) beizutragen.Footnote 52 Wer diese Voraussetzungen teilt, der wird auch akzeptieren, dass die Anwendung der Unzuverlässigkeitskategorie wenigstens zum Teil zu sinnvollen und spezifischen Interpretationen führt. Es wurde schon angedeutet, dass einige Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Zuschreibung sinnvoll und gewinnbringend ist. Dies wird im Abschn. 2.1 näher erläutert, der der grundlegenden Ebene des Erzähltextverstehens gewidmet ist: der Ermittlung der Sachverhalte.

Wie nicht wenige der Fallanalysen in diesem Buch zeigen, verläuft die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit nicht immer problemlos. Es ist daher sinnvoll, zwischen weitgehend unproblematischen, weil (weitgehend) textimmanent eindeutig zu ermittelnden Zuschreibungen und jenen Zuschreibungen zu unterscheiden, die, wiewohl sie ebenfalls nur die grundlegende Ebene der erzählten Welt bzw. Sachverhaltermittlung betreffen, insofern voraussetzungsreicher sind, als sie, damit sie gelingen, auf textexterne Informationen zurückgreifen müssen (2.2).

Mit der Zuschreibung von Unzuverlässigkeit ist die literaturwissenschaftliche Arbeit nicht zu Ende; für viele beginnt sie damit erst. Einen Text als unzuverlässig erzählt zu erkennen ist eine Klassifikation. Der nächste Schritt ist herauszufinden, was die Unzuverlässigkeit literarisch leistet. Gesucht ist also eine Erklärung des Phänomens. Damit verlässt man die grundlegende Ebene der Sachverhaltermittlung und begibt sich auf die Ebene der eigentlichen Textinterpretation. Dazu benötigt man ein Bezugssystem, das den Textbefunden Bedeutung verleiht. Die Zuschreibungen im Rahmen von Interpretationen und Textanalysen, die über die reine Klassifikation von Texteigenschaften hinausgehen, sind begründungspflichtig, sofern man sie nicht nur als willkürliche subjektive Verstehensvorschläge begreift, sondern als Vorschläge, die sich andere auf der Basis von überzeugenden Argumenten zu eigen machen sollen. Um literaturinterpretierende Zuschreibungen zu rechtfertigen bzw. zu plausibilisieren, gibt es mehrere Strategien. Ich werde in dem entsprechenden Abschn. 2.3 kurz vorstellen, was es zu beachten gibt und welchen Strategien die Einzeluntersuchungen folgen.

2.1 Mimetisches Erzählen und erzählte Welt: Einfache Zuschreibungen

Eine Voraussetzung für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit ist, dass die Aussagen über die erzählte Welt, aus denen ein Erzähltext zu einem großen Teil besteht, so aufgefasst werden, als seien sie wahr.Footnote 53 Das bedeutet: Sie müssen auch fiktional sein. Wären sie nämlich nicht fiktional, müsste man den Wahrheitsanspruch auf unsere Welt beziehen. Dann aber könnte man ihnen keine Unzuverlässigkeit im literarischen Sinne mehr zuschreiben, sondern hätte es mit Aussagen zu tun, mit denen ihr Verfasser falsche Angaben über wahre Verhältnisse macht, sei es mit Absicht, wenn er ein Lügner ist, sei es ohne, wenn er es nicht besser weiß oder unzurechnungsfähig ist. Die Fiktionalität geht jedoch mit einem intrafiktionalen bzw. diegetischen Wahrheitsanspruch einher. Die Aussagen oder Quasi-Behauptungen, mit denen die Erzählinstanz die erzählte Welt erschafft, präsentieren diese nicht als erfundene, sondern ahmen den Wahrheitsanspruch nach, den faktuale Aussagen bzw. Tatsachenbehauptungen haben. Der Wahrheitsanspruch besteht für die erzählte Welt, nicht aber für unsere.Footnote 54 Daher übernehme ich den Begriff des mimetischen Erzählens, mit dem dieses entscheidende Charakteristikum gemeint ist, aus dem das Verfahren der Unzuverlässigkeit gerade seine besonderen Funken schlägt.Footnote 55

Aus diesem Grunde ist die sorgfältige Rekonstruktion der in einer gegebenen erzählten Welt bestehenden Sachverhalte immer der erste Schritt, wenn es darum geht, unzuverlässiges Erzählen zu untersuchen; dies umso mehr, als die Unzuverlässigkeit des Erzählens die Bestimmung dessen, was der Fall ist in der erzählten Welt, gerade untergräbt. Was bei jeder Form von Sprachverstehen die Basis ist und oftmals unwillkürlich abläuft (wenn wir über das nötige sprachliche und das damit unmittelbar verknüpfte sachliche Wissen verfügen), wird vom unzuverlässigen Erzählen – wie von einigen anderen literarischen Verfahren auch – in Frage gestellt. Diese unterste Ebene des Verstehens ist so selbstverständlich, dass sie in der Literaturtheorie gar nicht so oft thematisiert wird, wie sie es verdient hätte.

Auch bei der Erschließung dieser Textebene kann man von „Interpretation“ reden. Der Grund dafür ist aber nicht darin zu sehen, dass die Zuschreibungen schon auf dieser Ebene grundsätzlich unsicher seien, sondern darin, dass es um Verstehen geht. An dieser Stelle könnte nämlich bereits ein Einwand erhoben werden: der Einwand, dass die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit willkürlich sei, weil in einer erfundenen Welt niemals nachprüfbar sei, was der Fall ist. Dieser Einwand ist in meinen Augen nicht triftig. In vielen Fällen kann man sehr wohl feststellen, welche Sachverhalte in einer bloß erzählten Welt bestehen. Die Feststellung folgt jedoch nicht der intuitiven Auffassung einer Korrespondenz von sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen (in der realen Welt bestehenden Sachverhalten) und den ihnen entsprechenden faktualen Behauptungen, sondern der widerspruchsfreien Kohärenz von wahren Sachverhaltsaussagen, aus denen der (fiktionale) Text besteht und die er voraussetzt.

Der erwähnte Einwand gilt demnach keineswegs immer. Aber daraus folgt nicht, dass er nie gelte. Charakteristisch für bloß erzählte Welten ist ihre Unterdeterminiertheit und Unvollständigkeit. Daher gibt es viele Fälle, in denen tatsächlich nicht feststellbar ist, ob ein Sachverhalt in der erzählten Welt besteht oder nicht besteht.Footnote 56 Es ist hier aber nicht der Ort, eine ausführliche Interpretationstheorie vorzustellen.Footnote 57

Die Lehre aus dem unzuverlässigen Erzählen ist, dass keine der Sachverhaltsaussagen der Erzählrede nicht zur Disposition steht. Zugleich gibt es dieses Phänomen aber nur, sofern man zwischen Wahrheit und Falschheit mit Bezug auf die erzählte Welt unterscheiden kann bzw. sofern dies von der Konzeption des Werks vorgesehen ist. Um dies zu erkennen, muss man allerdings ganz andere Verstehensoperationen vornehmen. Hierbei geht es nicht mehr um die grundlegende Ebene des Verstehens, sondern um eine höhere Ebene.

Man könnte nun annehmen, dass bereits die von mir so genannte grundlegende Ebene – die des Verstehens eines Erzähltextes als eines mimetischen – abhängig sei von der Wahl einer entsprechenden Interpretationskonzeption auf der höheren Ebene. Grundlage dieser Annahme wäre die weitere Annahme, dass, wie man auch sagen könnte, die Mimesis-Präsumtion nur eine von prinzipiell mehreren gleichberechtigten Herangehensweisen an einen Erzähltext sei. Ohne es hier weiter ausführen zu können, möchte ich gleichwohl behaupten, dass die Mimesis-Präsumtion gegenüber anderen privilegiert ist, weil wir gar nicht anders können, als einen Text erst einmal so zu verstehen, als wäre er quasi-wahr und sinnvoll, selbst wenn wir genau wissen, dass es sich um einen literarischen Text handelt, und wenn wir ebenso wissen, dass literarische Texte nicht immer wahr und sinnvoll sind bzw. auch anders sinnvoll sind als nicht-literarische Texte. Das hängt damit zusammen, dass zumindest in vielen Fällen einen Satz oder einen Text zu verstehen nichts anderes heißt, als die Bedingungen zu kennen, unter denen der Satz oder der Text wahr ist.Footnote 58 Erst wenn sich zeigt, dass wir mit der Mimesis-Präsumtion nicht weiterkommen, suchen wir nach anderen Möglichkeiten des Verstehens.

Man muss sich in dieser sehr grundsätzlichen Frage aber auch gar nicht festlegen. Obwohl es meiner Ansicht nach dafür gute Gründe gibt (denn man kann von seinem normalen Sprachverstehen nicht einfach absehen, weil man, wenn man ein weitgehend kompetenter Sprecher einer Sprache ist, mit ihren Konventionen höchst vertraut ist und sie im Allgemeinen auf eine Weise internalisiert hat, das man ihnen automatisch folgt), genügt es im vorliegenden Zusammenhang, die Mimesis-Präsumtion für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit zu akzeptieren.

Bei der Ermittlung der in der erzählten Welt bestehenden Sachverhalte müssen zwei weitere Voraussetzungen akzeptiert werden, damit die Zuschreibung der Kategorie sinnvoll ist. Diese Voraussetzungen sind so selbstverständlich, dass man sie selten hinterfragt, und hängen eng miteinander zusammen. Es ist die Präsumtion des Erzähler- bzw. Erzählinstanzenprivilegs und die Präsumtion seiner bzw. ihrer Zuverlässigkeit. Griffig formuliert, geht es nicht nur darum, dass das, was die Erzählinstanz äußert, nicht nur in der erzählten Welt wirklich ist, sondern auch wahr, und dass dies zugleich die Norm des Erzählens ist. Also: Nicht dass die Erzählinstanz sich irrt oder lügt oder in der erzählten Welt lediglich Geträumtes erzählt, als sei es in der erzählten Welt wahr, ist der Normalfall, an dem sich das Verstehen des Erzählten ausrichtet, sondern das Gegenteil.

Diese Präsumtionen gelten auch für das axiologisch unzuverlässige Erzählen. Die Axiologie richtet sich zunächst nach dem, was die Erzählinstanz äußert, bis es genug Anlässe gibt, der Erzählinstanz kein Privileg mehr für den vom Text gesetzten Wertmaßstab zuzuschreiben. Aus diesem Grunde war es mir wichtig, ein wenigstens approximatives Kriterium für das Vorliegen axiologischer Unzuverlässigkeit zu finden, das auf dieser Ebene funktioniert und das ich deshalb als „Daumenregel“ (R) konzipiert habe. Zu überlegen wäre in diesem Zusammenhang auch, ob nicht Wertkonventionen letztlich auf einer Ebene mit Sprachkonventionen liegen.

2.2 Mimetisches Erzählen und erzählte Welt: Komplexe Zuschreibungen

Es versteht sich von selbst, dass aufgrund der angesprochenen Unterdeterminiertheit erzählter Welten (also nicht nur fiktiver, sondern tatsächlich aller erzählter Welten) das Bestehen von Sachverhalten allein auf der Textbasis nicht immer gleich gut zu ermitteln ist. Häufig wird ein Sachverhalt nur angedeutet, etwa in Homo faber der Sachverhalt, dass Faber mit seiner Tochter schläft. Sachverhalte wie dieser lassen sich mit Hilfe abduktiver Schlüsse ermitteln, manche erfordern darüber hinaus erweiterte Kontextinformationen (über Gattung, Autor u. dgl.).Footnote 59 Andere lassen sich auch gar nicht ermitteln, und von diesen wiederum sind einige bezüglich der Frage, ob sie bestehen oder nicht, konzeptionell bzw. absichtsvoll unterdeterminiert. Wie komplex und teilweise epistemisch prekär das Herausfinden dessen, was in der erzählten Welt der Fall ist, unter Umständen auch sein kann – mir kommt es hier vor allem darauf an, dass die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit ein interpretativer Akt ist, der sich auf diese grundlegende Ebene des Textverstehens bezieht. Es ist nicht unmöglich, dass er textimmanent, d. h. allein auf der Basis des Textes und der für ihn zuständigen sprachlichen Konventionen (sowie der Quasi-Wahrheitsbedingungen), erfolgt.Footnote 60

Manche Texte sind ganz offensichtlich so konzipiert, dass ihre Erzählinstanzen nicht mimetisch (oder axiologisch) zuverlässig sind. In Texten wie Stiller und Homo faber, um nur die für das Thema vielleicht einschlägigsten zu nennen, ist offensichtlich keine textexterne Information vonnöten, damit man erkennen kann, dass ihre Erzählerfiguren in Bezug auf bestimmte Sachverhalte an manchen Stellen nicht die Wahrheit sagen, die sie andernorts indirekt aber doch vermitteln. Bei anderen ist das nicht so offensichtlich. Die Gruppe der Texte, bei denen die Zuschreibung nicht in der beschriebenen Weise offensichtlich ist, lässt sich selbst noch einmal (mindestens) dreiteilen: i) in Texte, bei denen die Zuschreibung letztlich gelingt, aber voraussetzungsreich ist in dem Sinne, dass sie auf der Basis textexterner Informationen wahrscheinlicher oder plausibler ist als alternative Zuschreibungen, ii) in Texte, bei denen die Zuschreibung nicht gelingt, weil das Gegenteil wahr oder wenigstens deutlich plausibler ist, und iii) in Texte, die bezüglich dieser Zuschreibung unterdeterminiert sind und bei denen es zusätzlich gute Gründe (auf der Basis textexterner Informationen) für die Annahme gibt, dass sie darauf hin angelegt, d. h. konzeptionell ambivalent sind.

Bei allen drei Gruppen ist der interpretative Aufwand, wenn man zu einer gut begründeten Antwort auf die Frage nach der Unzuverlässigkeit gelangen möchte, hoch. Das heißt: Schon die Bestimmung der grundlegenden Ebene – also dessen, was der Fall ist in der erzählten Welt – erfordert eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text und führt auf diesem Wege in eine umfassendere Interpretation und damit zugleich auf eine höhere Ebene, da zur Beantwortung der Frage, ob der Text unzuverlässig erzählt ist, in diesen Fällen, in denen die Antwort nicht textimmanent erschlossen werden kann, auf textexterne Informationen zurückgegriffen und eine Entscheidung darüber, welche Art von textexterner Information zulässig ist, getroffen werden muss.

Zu beachten ist dabei, dass es sich nicht von selbst versteht, auf welche Art von Informationen man sich stützt bzw. welchen Kontext oder welche Kontexte man zur Bestimmung der fraglichen Sachverhalte zulässt. Während die Bestimmungen, die weitgehend textimmanent erfolgen (oder sich nur minimal auf einen vom Text unmittelbar aufgerufenen Sachkontext stützen), ein hohes Maß an Allgemeinverbindlichkeit aufweisen (worunter zu verstehen ist, dass sie akzeptiert, wer die genannten Voraussetzungen wie die Mimesis-Präsumtion akzeptiert), sind die Bestimmungen, die auf textexterne Informationen zurückgreifen müssen, stärker abhängig von der Wahl der Kontexte, die man für angebracht hält. Die Kontexte, die zur Auswahl stehen, mögen sich in ihrer jeweiligen Angemessenheit hierarchisieren lassen; aber es ist hier nicht der Ort, diese Diskussion zu führen. Ich berufe mich in der Regel auf den Autor oder poetologische Moden wie etwa den Nouveau Roman oder auch sonstige literaturgeschichtliche Phänomene.

Wenn in einigen Fällen bereits die Zuschreibung der Kategorie nicht völlig problemfrei ist, werden allein durch die Rekonstruktion des Erzählverhaltens anspruchsvolle Textanalysen generiert, die zu neuen Erkenntnissen über diese Texte führen bzw. das Potential haben, ältere Befunde zu widerlegen. In manchen Fällen wurden einige Texte schon im Zusammenhang mit der Frage nach der Unzuverlässigkeit (meist im Rahmen der jeweiligen Autorphilologie) untersucht mit nicht selten widersprüchlichen Ergebnissen. Die vorliegenden Studien, die auf dem Boden einer einheitlichen Theorie stehen, sollen helfen, diese Widersprüche zu klären – was nicht immer heißt, wie im Falle der Blechtrommel oder auch Thomas Bernhards Frost, entweder für die eine oder die andere Seite (unzuverlässig oder nicht) zu argumentieren, sondern zu zeigen, was inwiefern für die Unzuverlässigkeit eines Textes spricht und was nicht. So gibt es mit der erwähnten Blechtrommel sowie Frost Texte im Korpus der Untersuchung, bei denen es nicht selbstverständlich ist, dass die Mimesis-Präsumtion für alle Teile gilt. An dieser Stelle zeigen sich die Grenzen der Anwendbarkeit der Kategorie. Mein Ziel diesbezüglich ist es also, die Kategorie narrativer Unzuverlässigkeit nicht als Allheilmittel zur Lösung widersprüchlicher Textinterpretationen anzupreisen, sondern ihren Anwendungsbereich auszuloten. Meine Hoffnung ist, durch das Eingeständnis solcher Skrupel die Seriosität des Untersuchungsdesigns als ganzen zu steigern und damit auch die Triftigkeit von Analysen, die aufgrund der Zuschreibung von Unzuverlässigkeit bislang versäumte Textbeobachtungen nachholen und auf diese Weise zur Revision bisher als gültig erachteter Interpretationen führen können.

Arno Schmidts Aus dem Leben eines Fauns (1953) ist eines der weiteren Beispiele, bei denen die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit komplex ist und geradewegs in eine Interpretation führt, bei der abzuwägen gilt, welche der vom Text angebotenen Möglichkeiten ihm angemessen bzw. am angemessensten ist. Wie in Kap. III.6 herausgearbeitet, weist der Text gewisse Anzeichen auf, denen zufolge die Ereignisse des letzten Teils, der von Dürings Liebesbeziehung zu Käthe handelt, lediglich geträumt sein könnten. Diese Passage wäre demnach insofern mimetisch unzuverlässig erzählt, als Düring zu verstehen gibt, dass ihm die Erlebnisse mit Käthe wirklich widerfahren sind. Wären sie aber geträumt, wären sie in der erzählten Welt unwirklich. Also wäre Düring ein unzuverlässiger Erzähler. Da die Folgerung, dass es sich um einen Traum handelt, außerdem erklärt, dass Düring eines schwülen Nachmittags in seinem Amtssessel einnickt, aber nicht mehr aufwacht (sein Aufwachen wird sonst immer vermerkt), liegt überdies eine diegetische Erklärung für diese Deutungsmöglichkeit vor. Schließlich hat diese Variante den Vorzug, dass sie besser mit den zuvor geschilderten Begegnungen zwischen Düring und Käthe harmoniert, die von Käthes deutlichem Desinteresse geprägt sind. Es wird keinerlei Grund erwähnt, der für eine Verhaltensänderung bei Käthe gesorgt haben könnte. Die plötzliche und kitschige Beziehung zwischen Düring und Käthe ist nur als Wunschtraum plausibel mit den anderen im Text geschilderten Situationen in Einklang zu bringen, während die Annahme, dass sie sich wirklich in der erzählten Welt ereignet, ein explanatives Defizit aufweist. Auch wenn die Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers nirgends aufgelöst wird und seine Zuverlässigkeit mit Bezug auf seine Liebesbeziehung zu Käthe daher im Prinzip möglich bleibt, spricht doch mehr für die Traum-Hypothese als dagegen. Schließlich lässt sich noch ein textexterner Grund ins Feld führen, der zwar nicht zwingend ist, aber doch als weiteres Indiz fungiert: In früheren Erzählungen hat Schmidt genau dieses Erzählverfahren bereits erprobt und durch eine Rahmenstruktur auch aufgelöst. Damit lässt sich sagen, dass das Verfahren seiner Poetik nicht fremd ist und seine variierte Verwendung (durch das Weglassen einer Auflösung) sich zudem auf einer Linie mit der Werkevolution insgesamt befindet, die zu steigender Komplexität führt.

An diesem Beispiel lässt sich sehen, dass die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit nicht immer einfach ist und am Ende lediglich auf Indizien beruht, die zusammen die Unzuverlässigkeitshypothese immerhin besser belegen als andere Textbefunde die gegenteilige Hypothese. Beim Abwägen der verschiedenen Gründe zieht man mehr und mehr Daten heran und gelangt auf diese Weise über die bloße Bestimmung der erzählten Ereignisse zu interpretativen Fragen, deren Beantwortung die Zuschreibung der Unzuverlässigkeit stützt. Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu der weiteren Frage, welchem Zweck die Unzuverlässigkeit des Erzählers dient.

2.3 Von der Klassifikation zur Interpretation höherer Ordnung

Wenn man einen in der beschriebenen Weise offensichtlich unzuverlässig erzählten Text als solchen erkannt hat, ist literaturwissenschaftlich noch nicht allzu viel gewonnen. Aber es ist auch nicht nichts. Was man idealerweise hat, ist eine Liste mit Zitaten der Erzählrede, die einen oder mehrere Sachverhalte als bestehend behaupten („S“), auf der einen Seite und mit weiteren Zitaten auf der anderen Seite, die das Gegenteil behaupten („non-S“), sowie darunter mindestens einen guten Grund, warum das Gegenteil („non-S“) in der erzählten Welt wahr ist. (Und was man dazu außerdem braucht, ist eine Theorie der Unzuverlässigkeit, die solche Zuschreibungen anleitet.)

Methodologisch gesehen, steht die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit an einen Text auf einer Ebene mit der Zuschreibung, dass dieser Text z. B. eine Novelle oder ein Krimi ist. Ein Unterschied mag sein, dass man in den letzteren Fällen häufig schon am Titel sehen kann, dass es sich um eine Novelle oder einen Krimi handelt, während man zur Feststellung, dass ein gegebener Text unzuverlässig erzählt ist, ihn lesen muss. Aber nicht jede Novelle und nicht jeder Krimi ist als solcher bereits am Titel erkennbar, und wie bei Unzuverlässigkeit auch kann die Zuschreibung, dass etwas eine Novelle oder ein Krimi ist, zuweilen strittig sein, etwa weil der Krimi auch ein großer historischer Roman ist oder die Novelle ins Romanhafte ausufert. Landläufig ist dann davon die Rede, dass die jeweilige Klassifikation interpretationsabhängig sei. Aber wiederum ist der Einwand vorschnell und in seiner Allgemeinheit nicht triftig, da von nicht gelingenden Einzelfällen nicht auf das grundsätzliche Nicht-Gelingen geschlossen werden kann.Footnote 61

Solange man sich auf gelungene unstrittige Zuschreibungen berufen kann, muss man sich auf diese Art von Einwand nicht einlassen. Schon ein einziges Gegenbeispiel falsifiziert die Verallgemeinerung. Die Beweislast liegt beim Gegner, denn, wie gesagt, man kann die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit an einen Text mit der Angabe von Gründen rechtfertigen. Es ist dann an dem Unzuverlässigkeitsskeptiker zu zeigen, warum die angegebenen Gründe nicht triftig sind.

Was ist nun aber damit gewonnen, wenn man einem Text seine Unzuverlässigkeit zugeschrieben hat? Hier steht der nächste Schritt in einer literaturwissenschaftlichen Analyse unmittelbar bevor, mit dem man auf die nächsthöhere Interpretationsebene gelangt. Man versucht, eine Erklärung dafür zu geben, warum dieses Verfahren angewendet wurde. Es geht nun nicht mehr um die Ermittlung einer diegetischen Erklärung, womit (K2) Genüge geleistet wird, sondern man wendet sich (*K3) zu. Anders gesagt, man geht über von einer intra- zu einer transfiktionalen Erklärung (vgl. Koch 2015, Kap. 5).

Welcher Art kann eine solche Erklärung sein? Wiederum muss der Hinweis eingeschoben werden, dass hier nicht der Ort für eine umfassende Interpretationstheorie ist, die alle Möglichkeiten berücksichtigt. Stattdessen möchte ich lediglich meine Vorgehensweise exemplarisch darlegen. Wie anhand der Beispielanalyse von Homo faber im nächsten Abschn. (I.3) noch näher ausgeführt wird, besteht Fabers Unzuverlässigkeit darin, dass er sich über seine eigenen Handlungsmotive nicht im Klaren ist. So gibt er Sabeth durch sein Verhalten sein starkes Interesse an ihr zu verstehen, streitet dies aber in seinem Bericht ab. Sowohl das Verhalten als erlebendes Ich gegenüber Sabeth als auch sein mangelndes Reflektieren als erzählendes Ich haben ihre Gründe innerhalb der Fiktion. Aber das ist nicht die Erklärung, nach der man verlangt, wenn man nach der Leistung des unzuverlässigen Erzählens in Homo faber fragt.

Eine erste mögliche Antwort auf die Frage nach der Leistung bzw. Funktion wäre, dass der Widerspruch Fabers die Einwirkung des Unbewussten auf das Verhalten zeige. Diese Antwort ist nicht falsch. Doch mit einer solchen Antwort wird das Spezifikum des Verfahrens nicht erfasst, denn die Einwirkung des Unbewussten auf das Verhalten lässt sich auch anders als durch das unzuverlässige Erzählen darstellen. Eine mögliche Erklärung, die das Eigentümliche des Verfahrens berücksichtigt, könnte etwa darin liegen, dass sich in der falschen Darstellung von einzelnen Sachverhalten ein falsches Selbstbild offenbart (vgl. Frisch/Filippini 1959, 28). Hier deutet sich ein symbolisches Verständnis der Unzuverlässigkeit an, indem sich im Konkreten etwas Allgemeines zeigen soll. Freilich sind auch andere Erklärungen möglich und, wie hier, wohl triftiger, etwa die, dass sich der Autor dieses Erzählverfahrens mit der Absicht bedient, einen Verfremdungseffekt in der Prosa zu erzielen, wie ihn Brecht für das Drama forderte, ein Ziel, das Frisch bereits in seinem Tagebuch 1946–1949 ausgibt (vgl. Frisch 1950, 600 f.). Später, nach der Veröffentlichung von Homo faber, kommt er darauf zurück und führt in einem zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Interview aus, dass die besondere Erzählform sowohl in Homo faber als auch in Stiller eine anti-illusionistische Zielsetzung hat:

Heute bin ich überzeugt, dass die Epik einen analogen Weg [zu Brechts Theater] geht: nicht Illusion, sondern Modell. Der Leser braucht nicht zu glauben; erzählt wird ein Spiel, das uns als Spiel bewusst sein soll. Im Homo faber wird es dadurch versucht, dass eine höchst unwahrscheinliche Geschichte – unwahrscheinlich wie die antike Tragödie – von einem Ingenieur geschrieben wird im Ton eines Rapportes […]. (Frisch/Filippini 1959, 25 f.)

Trickreich ist, dass Faber selbst einer Illusion erliegt, die sein Autor nicht nur durch die Unwahrscheinlichkeit der Geschichte, sondern auch durch das verwendete Erzählverfahren – ein sich rational gebender Ingenieur verfasst einen im Stil trockenen (also seine Rationalität gewissermaßen reflektierenden) Bericht, der, recht besehen, überhaupt nicht rational ist, insofern er voller Selbstwidersprüche steckt – auf einer anderen Ebene durchbrechen will.

Wie aus dem IV. Kapitel über Frischs Romane außerdem deutlich wird, steht die Realisierung des unzuverlässigen Erzählens in seinen einzelnen Romanen in einem engen Zusammenhang, der durch den Begriff der Identität bestimmbar ist. Die Identitätsproblematik, die Frisch in allen seinen Prosawerken verhandelt, erklärt die spezifische Verwendung des Verfahrens, das Frisch schließlich mit Mein Name sei Gantenbein bis zum Äußersten weitertreibt, aber selbst darin nicht gänzlich überwindet (s. u., Kap. IV.4).

Wie im vorigen Abschnitt unter der Überschrift „1.7 Bezugsbereich“ bereits ausgeführt, liegt der Sinn einer Unzuverlässigkeitsdiagnose außerdem in ihrem Zusammenhang mit anderen Motiven eines gegebenen Werks.

3 Exemplarische Kurzanalysen potentiell unzuverlässigen Erzählens (M. Frisch, J. Becker und J. Breitbach)

Ehe ich zur Illustration des hier vertretenen Ansatzes in den Abschn. 3.2 und 3.3 zwei exemplarische Kurzanalysen von Max Frischs unstrittig unzuverlässig erzähltem Roman Homo faber (1957) und Jurek Beckers zwar der Unzuverlässigkeit verdächtigem, aber weitgehend nicht unzuverlässig erzähltem Roman Jakob der Lügner (1969) präsentiere, fasse ich in Abschn. 3.1 die Grundsätze und Komponenten der Theorie zusammen. Für die jeweiligen Begründungen verweise ich auf den ausführlichen ersten Abschnitt dieses Kapitels. Hier folgt nur eine Zusammenstellung der wichtigsten Kategorien, die die folgenden Analysen anleiten. In Abschn. 3.4 gebe ich mit Joseph Breitbachs Bericht über Bruno (1962) abschließend ein kurzes Beispiel für einen zuverlässig erzählten Roman.

3.1 Kurzfassung der Theorie

Wie in der Forschungsliteratur inzwischen weitgehend anerkannt, gibt es zwei Arten von Unzuverlässigkeit. Man könnte sie weiter in Subtypen differenzieren, aber das würde die Theorie nur aufblähen. Eine Theorie, die sich auf ein Minimum an Vorgaben beschränken will, aber ein Maximum an Stringenz anstrebt, kann darauf verzichten. Im Anschluss an Kindt (2008) spreche ich von mimetischer und axiologischer Unzuverlässigkeit, andere Termini wären aber auch möglich, etwa epistemische und normative oder „faktenbezogene“ und „wertebezogene“ Unzuverlässigkeit (Jacke 2020). Entsprechend dieser Unterscheidung sind die Gegenstände, auf die sich die Unzuverlässigkeit des Erzählens beziehen, verschieden. Im einen Fall sind es Sachverhalte (S), im anderen Werte bzw. Normen (W) und Handlungen (A), den Manifestationen von Werten bzw. Normen. Sie machen die erzählte Welt (eW) aus, die beim unzuverlässigen Erzählen in der Regel fiktiv und mimetisch ist. Daher kommt der Erzählrede bzw. -instanz (N) eine privilegierte Funktion zu. Sie etabliert diese Welt mit einem Wahrheitsanspruch, der für diese erzählte Welt gilt, aber nicht für unsere. Deshalb ist sie fiktiv und mimetisch. Und daher ist, was N behauptend äußert, der Prüfstein, an dem sich ihre Zuverlässigkeit messen lassen muss. Das heißt, dass Sachverhalte und Werte bzw. Normen von N entweder explizit benannt – als im Text nachweisbare Zitate „S“ und „W“ – oder implizit dargestellt und affirmiert werden müssen. Letzteres heißt, dass aus anderen zitierbaren Sachverhalts- oder Wertaussagen „S1–n“ oder „W1–n“ erschlossen werden muss, was bzgl. eines fraglichen Sachverhalts S oder eines Wertes W von N behauptet – oder wie ich aus diversen Gründen lieber sage – zu verstehen gegeben wird. Wichtig ist nun, dass Sachverhalte bestehen oder nicht bestehen, um erst einmal nur bei der mimetischen Variante zu bleiben. Wenn die Frage nach der Unzuverlässigkeit auftaucht, dann gibt es einen Anlass für die Annahme, dass die Sachverhalte, von denen N zu verstehen gibt, dass sie bestehen, in eW eben nicht bestehen. S und „S“ sind sozusagen mimetisch inkongruent. Eine Unwahrheit zu verstehen zu geben ist daher die erste Bedingung für die gerechtfertigte Zuschreibung von Unzuverlässigkeit an N. Diese Bedingung allein reicht dafür jedoch nicht hin. Es muss noch eine weitere erfüllt sein, und zwar muss die Unwahrheit in der erzählten Welt verankert sein, man könnte auch in Rückgriff auf eine bekannte Terminologie „motiviert“ sagen. Ich spreche von einer diegetischen Erklärung E, die man dafür angeben können muss, dass N mit Bezug auf einen Sachverhalt S die Unwahrheit „non-S“ zu verstehen gibt.

Meine Definition der mimetischen Variante basiert demnach auf zwei Kriterien und lautet folgendermaßen:

(K1)

wenn die Erzählinstanz bzw. die Erzählrede N zu verstehen gibt (gleich ob durch direkte oder explizite Falschaussage „non-S“ oder durch indirekte oder implizite oder präsupponierte Aussagen „S1–n“), dass S nicht besteht, obwohl S in eW besteht,

und

 

(K2)

wenn man für die Falschheit der betreffenden Sachverhaltsaussage(n) „S1–n“ der Erzählrede N eine durch zitierbare Textdaten hinreichend gestützte, akzeptable diegetische Erklärung E angeben kann.

Es ist klar, dass die Bestimmung dessen, was der Fall ist in einer erzählten Welt, die fiktiv ist, nicht immer eindeutig ist. Daher ist die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit gerade in solchen Fällen mitunter problematisch. Die enge Definition zwingt einen aber dazu, sich hierüber Klarheit zu verschaffen und die jeweiligen Indeterminiertheiten zu entdecken, an denen sich die Frage, warum „X1–n“ nicht falsch, sondern nur unterbestimmt sind, beantworten lässt. In vielen Fällen lässt sich das aber feststellen, denn sonst wäre niemand auf die Idee gekommen, den Begriff zu prägen und die Literaturwissenschaft damit fortgesetzt zu belästigen.

Was die axiologische Variante angeht, so hat sie mit ungleich mehr Problemen zu kämpfen. Das erste ist, dass die Werte und Normen, um die es bei der Zuschreibung von axiologischer Unzuverlässigkeit geht, viel häufiger im Text nur in der oben erwähnten Weise dargestellt – und nicht benannt – werden. Und während eine stabile erzählte Welt mit Bezug auf bestimmte fragliche Sachverhalte, gerade wenn es um unzuverlässiges Erzählen geht, aufgrund von textuellen Hinweisen rekonstruierbar ist, können solche Belegstellen beim axiologisch unzuverlässigen Erzählen eher fehlen. Ob Normen und Werte verletzt werden, lässt sich oftmals nicht in derselben triftigen Weise am Text belegen wie beim mimetisch unzuverlässigen Erzählen. Damit man nicht schon auf der Ebene der Zuschreibung mit textexternen Daten operieren muss, habe ich mich für eine Art Daumenregel entschieden, die für viele Fälle verlässliche Zuschreibungen erlaubt, weil ich davon ausgehe, dass viele Texte ihre Axiologie auf diese oder jene Weise, etwa durch Kontrastfiguren, etablieren und dass es Wertkonventionen gibt, die man analog zu Sprachkonventionen für das grundlegende Verstehen von Erzähltexten voraussetzen kann.

(R)

Wenn die Erzählinstanz bzw. die Erzählrede N zu verstehen gibt (gleich ob durch explizites oder implizites Werturteil „W“ oder durch Handlung A), dass sie für bestimmte W nicht einsteht, obwohl W in eW gelten müssten, ist N in der Regel axiologisch unzuverlässig.

Es bleiben noch zwei Kategorien, die für den Übergang von der auf dieser Ebene noch weitgehend textimmanenten Zuschreibung zu einer gehaltvolleren Interpretation von Bedeutung sind. Die eine von ihnen ist nicht unbekannt. Ich nenne sie Maßstab M. Den Maßstab anzugeben ist wichtig vor allem in den Fällen, in denen der Text selbst nicht genug Informationen bietet, damit man feststellen kann, inwiefern eine affirmative Sachverhaltsaussage „S“ oder eine affirmative Sachverhaltsdarstellung „S1–n“ auf die Verhältnisse in eW zutrifft. Der Maßstab kann dabei helfen, die fehlenden Informationen zu ergänzen, oder begründen, warum sie nicht ergänzt werden können, also warum die eW diesbezüglich unterbestimmt ist.

Bis heute streiten sich die Fachleute darüber, welche Instanz maßgeblich ist, wenn der Text die gewünschte Eindeutigkeit vermissen lässt: Autor- oder Leserinstanz. In den Studien dieses Bandes berufe ich mich, wo nötig, auf Informationen von den Autoren. Die Kategorie des Maßstabs ist letztlich aber neutral zu dieser Frage. Um den Platzhalter M zu füllen, muss man die konkreten Informationen angeben, die eine Sachverhaltsaussage „S“ von N falsch machen oder eine Bewertung „W“ unrichtig. Man kann M auch willkürlich bestimmen, indem man sich auf seine eigene Leseerfahrung oder auch auf eine ungleich aufwendigere statistische Auswertung einer Leserbefragung beruft, aber literaturwissenschaftlich besser begründet ist sicherlich ein Maßstab, der möglichst viele Berührungspunkte mit dem Text hat, auf den er angewendet wird. Das können etwa Paratexte sein, die bestimmte offene Fragen beantworten. Aufgrund von Indizien, die im Text verteilt sind, kann der Maßstab daneben auch aus dem Text selbst extrapoliert werden, etwa im Rahmen einer wertmaximierenden Interpretation, die ihre Rechtfertigung nicht aus dem (Autor)Kontext, sondern aus einer überzeugenden Fundierung im Text bezieht.

Die zweite Kategorie ist der Bezugsbereich B. Ich habe sie eingeführt vor dem Hintergrund der Frage, ob nur Teile eines Textes oder ein Text als ganzer unzuverlässig erzählt sind. Sie reagiert auf die Beobachtung, dass manche Texte vollumfänglich unzuverlässig erzählt sind und manche offenbar nur ein bisschen. Manche wie Otto F. Walters Herr Tourel (1962) sind ganz und gar auf dem Prinzip der Unzuverlässigkeit aufgebaut, manche sind nur partiell oder auch nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen unzuverlässig erzählt, so dass man auf die Idee kommen könnte, aus dem klassifikatorischen einen komparativen Begriff zu machen und das Phänomen zu gradieren.Footnote 62 Die Kategorie B soll helfen, den Grad bzw. die Art und Weise der Realisierung der Unzuverlässigkeit zu bestimmen, d. h. eben den Bereich zu umgrenzen, für den die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit sinnvoll ist. Der Bezugsbereich ist der thematische Zusammenhang, dem sich ein gegebenes Unzuverlässigkeitsmotiv zuordnen lässt. Zu diesem Zweck lässt sich ein zusätzliches Kriterium formulieren, mit dem man gehaltvolle, den gesamten Text betreffende Zuschreibungen narrativer Unzuverlässigkeit von weniger bedeutsamen Zuschreibungen unterscheiden kann:

(*K3)

Nur dann, wenn sich eine oder mehrere falsche Sachverhaltsaussagen „S1–n“ (oder unrichtige Bewertungen „W1–n“ oder Handlungen „A1–n“) der Erzählrede bzw. -instanz N einem Bezugsbereich B zuordnen lassen, der aus einem Funktionszusammenhang mit den entsprechenden diegetischen Erklärungen für „S1–n“ usw. besteht, ist N in gehaltvoller Weise mimetisch (axiologisch) unzuverlässig.

Wichtiger als die Formulierung der Kriterien (K1) bis (*K3) bzw. der Regel (R) sind für die nachfolgenden Analysen die Kategorien, mit denen die Texte untersucht werden. Sie sind es, die eine Interpretation im Hinblick auf die potentielle Unzuverlässigkeit eines Erzähltextes kontrollierbarer machen. Sie seien noch einmal in Form einer Übersicht präsentiert:

Kategorien und Abkürzungen

Erläuterung

A = Handlung

Des erlebenden Ich oder ggf. eines Protagonisten in der erzählten Welt

B = Bezugsrahmen

Funktionszusammenhang, in dem die narrative Unzuverlässigkeit steht und der ihr Bedeutung für das literarische Werk verleiht

E = diegetische Erklärung

Besteht aus spezifischen Umständen der erzählten Welt, die zusammen die Gründe für die Unzuverlässigkeit von N geben

eW = erzählte Welt

Die Summe der bestehenden Sachverhalte und der in ihr geltenden Werte und Normen

IR = Inkongruenzrelation

Wenn S und „S“ bzw. W o. A und „W“ nicht in Übereinstimmung gebracht werden können

M = Maßstab

Wahrmacher der Zuschreibung von Unzuverlässigkeit

N = Erzählrede/-instanz

Ist die privilegierte Instanz und fungiert als Zugang zur erzählten Welt

S = Sachverhalt

Bestehen und machen als solche die erzählte Welt aus; nicht bestehende Sachverhalte können aber relevant sein

„S“ = Sachverhaltsaussage

Die zitierbaren Textbelege, mit denen sich bestehende Sachverhalte belegen lassen; sie drücken bestehende oder nicht bestehende S aus

W = Wert/Norm

Gelten in der erzählten Welt und manifestieren sich in Handlungen

„W“ = Wertaussage

Bewertungen oder Handlungsanweisungen

Wenn es um die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit an konkrete Texte geht, kann man sich die Frage stellen, ob unzuverlässig erzählte Texte außer den hier bislang diskutierten Merkmalen typische Eigenschaften aufweisen, etwa stilistische Eigenheiten wie ein digressives Erzählverhalten, die sie aus der Menge der Texte herausheben oder beim Lesevorgang zu Skepsis gegenüber dem Erzählten anhalten. Um hier weiterzukommen, müsste man statistische Untersuchungen durchführen. Vermutlich gibt es solche statistischen Zusammenhänge; andererseits kann man auch festhalten, dass das Entdecken etwaiger typischer stilistischer Merkmale allein niemals die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit rechtfertigt. In der Unzuverlässigkeitsforschung verbreitet sind Listen mit für unzuverlässiges Erzählen angeblich typischen Merkmalen.

Ehe ich zu den exemplarischen Kurzanalysen komme, skizziere ich anstelle eines merkmalbasierten ein indikatorbasiertes Modell und ordne es dem hier verfolgten Ansatz zu. In der Forschungsgeschichte des unzuverlässigen Erzählens spielen Merkmalkataloge eine recht prominente Rolle (vgl. Nünning 1998, 27–29). Diese Kataloge enthalten für Unzuverlässigkeit vermeintlich typische Textmerkmale oder „Signale“, die bei Lesern den Verdacht provozieren, dass nicht alles mit rechten Dingen zugehe. Man beachte, dass mit „dem Leser“ eine Kategorie eingeführt wurde, die bislang vermieden wurde. Nicht ungewöhnlich ist, dass der merkmalbasierte Ansatz kombiniert wird mit einer kognitivistischen Auffassung von Literaturforschung.Footnote 63 Ein merkmalbasiertes Modell geht zudem häufig mit der Annahme einher, dass ein Text umso unzuverlässiger erzählt ist, je mehr Merkmale von Unzuverlässigkeit er aufweist. Es ist leicht zu sehen, dass ein solches Modell mit dem hier vertretenen Ansatz nicht harmoniert, in dessen Mittelpunkt die Inkongruenzrelation IR steht.Footnote 64 Wenn die damit zusammenhängende Bedingung (K1) nicht erfüllt ist, kann ein Text noch so viele für Unzuverlässigkeit typische Merkmale aufweisen – er ist doch nicht unzuverlässig erzählt. Selbst ein Widerspruch allein macht einen Text noch nicht zu einem unzuverlässig erzählten.

Stattdessen spreche ich von einem indikatorbasierten Modell. Was auf den ersten Blick aussieht wie lediglich eine andere façon de parler, ist doch ein substantieller Unterschied, denn Indikatoren sind nur für den Entdeckungs-, nicht aber für den Begründungszusammenhang wichtig.Footnote 65 Im Rahmen der rationalen Rekonstruktion von Unzuverlässigkeitsdiagnosen wird mit der Feststellung von Indikatoren lediglich die Aufgabe verknüpft, diese Textstellen im Hinblick auf die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit zu prüfen. Statt von Indikatoren spreche ich (wie viele andere vor mir) auch von Anomalien, also von textuellen Unebenheiten oder Auffälligkeiten, die zur weiteren Prüfung anhand der oben aufgeführten Kriterien und Regeln auffordern.

3.2 Kurzanalyse 1: Homo faber von Max Frisch

Frischs Roman ist bereits gründlich auf seine Unzuverlässigkeit untersucht worden (vgl. Fonioková 2015). Stiller und Homo faber sind die Klassiker des unzuverlässigen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg; es sind diejenigen Werke, an denen sich die nachfolgenden Romane, die unzuverlässiges Erzählen realisieren, nicht selten orientieren.

Der Erzähler Walter Faber ist unzuverlässig vor allem in Bezug auf sich selbst. Besonders ins Auge fällt von Anfang an das Image, das sich der Ingenieur gibt: das eines rationalen Technokraten mit einer schon klischeehaften Vorliebe für Schach, der sein Leben unter Kontrolle hat und sich nichts vormacht. Doch genau davon handelt seine Geschichte: dass er sich etwas vormacht. Das ist der allgemeinen Bezugsrahmen, in den alle einzelnen falsch dargestellten Sachverhalte integriert werden können. Auch hierbei handelt es sich um einen Sachverhalt, der in der erzählten Welt nicht besteht: Faber ist nicht so rational, wie er durch viele Sachverhaltsaussagen über sich selbst zunächst zu verstehen gibt: „als Techniker bin ich gewohnt mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen“ (HF, 22). Oder: „Ich brauche, um das Unwahrscheinliche als Erfahrungstatsache gelten zu lassen, keinerlei Mystik; Mathematik genügt mir“ (ebd.). Oder: „Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind“ (HF, 24).

Nur sich selbst hat er eben nicht im Blick, wie sehr deutlich wird, als er an Bord des Schiffes, das ihn über den Atlantik nach Europa bringt, der jungen Frau nachstellt (Sachverhalt S, der in eW besteht), die er Sabeth nennt, aber das Gegenteil („non-S“) zu verstehen gibt: „Keinesfalls wollte ich mich aufdrängen“ (HF, 83). Sabeth empfindet anders: „Sie beobachten mich die ganze Zeit, Mister Faber, ich mag das nicht“ (HF, 85). Faber filmt sie sogar. Wenn etwas aufdringlich ist, dann wohl das Filmen einer fremden Person. Die Widersprüchlichkeit, die sich hier aus Fabers Selbstzuschreibungen und dem äußeren Verhalten ergibt, durchdringt seine Selbstbeobachtung: „Es interessierte mich wirklich nicht, ob ein Mädchen wie Sabeth (ihre Unbefangenheit blieb mir immer ein Rätsel) schon einmal mit einem Mann zusammengewesen ist oder nicht, ich fragte mich bloß“ (HF, 82). Bezeichnend ist schließlich die Leerstelle, die durch drei Punkte auch im Text markiert ist (HF, 86), als er sie an ihr Vorhaben erinnert, gemeinsam den Maschinenraum zu besichtigen. Welcher Sachverhalt damit ausgelassen wird, lässt sich nur vermuten. Es handelt sich um seinen letzten Versuch, ihr näher zu kommen, nachdem er es mit dem Filmen (am Vormittag) übertrieben hat. Schon „kurz nach dem Mittagessen“ (HF, 85) macht er einen neuen Annäherungsversuch, dessen Ausgang nicht erzählt wird. Der Bericht setzt erst wieder ein mit der Schilderung ihres Rundgangs durch den Maschinenraum, bei dem er sich mit seinen technischen Kenntnissen hervortun kann. Wie er sie dazu überreden konnte, darüber schweigt er, aber es liegt nahe, dass er sich erniedrigt hat. Nur ein „Bitte!“ (HF, 86) ist überliefert, obwohl es „nie meine Art gewesen [ist] Frauen nachzulaufen, die mich nicht mögen; ich habe es nicht nötig gehabt“ (ebd.).

Fabers Fall ist unstrittig. Was seine Selbstbeobachtung widerlegt, ist sein äußeres Verhalten, das er zuverlässig schildert und das sich auch in der zitierten Bemerkung von Sabeth spiegelt. Streng genommen, könnten diese Schilderungen unzuverlässig sein und Fabers Selbstzuschreibungen zuverlässig. Was sich am Text belegen lässt, ist nur der Widerspruch, aber was wahr ist, so könnte ein Kritiker des Unzuverlässigkeitskonzepts einwenden, lasse sich mit Bezug auf eine erfundene Welt nicht ermitteln. Es ist klar, dass sich dies nicht auf dieselbe Art und Weise nachprüfen lässt wie in unserer Welt. Aber wir sind keineswegs gezwungen, uns auf diese Argumentation einzulassen. Man kann dem Kritiker entgegnen, dass das wahrheitsgemäß geschilderte äußere Verhalten eine Funktion für Fabers fehlerhafte Selbstzuschreibungen hat, während das Umgekehrte schlicht sinnlos wäre. Für Fabers Irrtümer lässt sich leicht eine diegetische Erklärung (E) finden. Wäre das, was er über sein äußeres Verhalten sagt, falsch (also bestünde der Sachverhalt, dass er sie gefilmt hat, in der erzählten Welt nicht), dann müsste dafür eine alternative diegetische Erklärung gefunden werden. Solange hier kein triftiges Angebot vorliegt, kann man getrost davon ausgehen, dass seine Selbstzuschreibungen falsch sind. Der Maßstab (M) dafür sind eben die in der erzählten Welt bestehenden Sachverhalte, also Sabeths Reaktionen sowie seine Schilderungen seines Verhaltens gegenüber Sabeth, das seine Motive offenbart, ohne dass er dies merkt.

Faber ist demnach mimetisch unzuverlässig in Bezug auf sich selbst. Seine Unzuverlässigkeit hat darüber hinaus auch noch eine axiologische Komponente, die jedoch nicht so einwandfrei nachweisbar ist und daher mehr angedeutet als realisiert ist. Sie hängt nämlich davon ab, wie bewusst sich Faber als erlebendes Ich des Umstands ist, dass er mit seiner Tochter schläft. Vordergründig scheint es so zu sein, dass das Motiv für die Zuneigung zu Sabeth bei seiner verdrängten Zuneigung zu Hanna zu suchen ist. Mit seiner lange geleugneten Liebe zu Sabeth (die immerhin in einem Heiratsantrag kulminiert) möchte er demnach das nachholen, was er durch die Lösung von Hanna versäumt zu haben glaubt. Das ist aber nur die eine Seite. Es könnte auch sein, dass er bereits früher ahnte, es mit seiner leiblichen Tochter zu tun zu haben, als er zugibt.

Dass er mit der Möglichkeit gerechnet hat, bekennt er selbst, als er erfährt, dass seine frühere Freundin Hanna Sabeths Mutter ist (die überdies ein Kind erwartete, als sie sich vor zwanzig Jahren trennten, auch wenn er damals davon ausging, dass sie das Kind noch abtreiben würde): „Dabei dachte ich nicht einen Augenblick daran, daß Sabeth sogar mein eigenes Kind sein könnte. Es lag im Bereich der Möglichkeit, theoretisch, aber ich dachte nicht daran. Genauer gesagt, ich glaubte es nicht“ (HF, 118). Vielleicht noch genauer gesagt: Er wollte es nicht glauben.Footnote 66 Unklar ist, wann er angefangen hat, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, denn Sabeths Mitteilung, wer ihre Mutter ist, hat ihm Gewissheit gegeben über etwas, mit dem er sich möglicherweise schon länger beschäftigt hat. Der Beleg dafür ist Sabeths Ähnlichkeit mit Hanna (im Aussehen sowie in der Gestik), die ihm bereits auf dem Schiff aufgefallen ist. Als erzählendes Ich weist er den Gedanken weit von sich, damals schon die Verwandtschaft in Erwägung gezogen zu haben (HF, 80 f.). Hier gibt es kein äußeres Korrektiv, das ihn der Selbsttäuschung überführt. Aber weil er sich über seine Beziehung zu Sabeth sonst häufig täuscht, gibt es zumindest gute Gründe, dass er es auch hier wieder tut.

Angenommen nun, er rechnet zumindest mit der Möglichkeit, dass Sabeth Hannas und seine leibliche Tochter ist, macht er sich des Inzests schuldig, als er ein sexuelles Verhältnis mit ihr eingeht. Der Normbruch besteht darin, dass Faber eine Handlung (A) ausführt, die unter dem axiologischen Maßstab des Inzestverbots verwerflich ist, und zwar erst recht dann, wenn er auch nur den Verdacht hatte, dass Sabeth seine leibliche Tochter sein könnte. Leicht hätte er diesen Verdacht ausräumen können. Wäre er aber der Angelegenheit früher auf den Grund gegangen, hätte er die romantische Mondfinsternisnacht mit Sabeth nicht ausleben können.

Faber erkennt das Inzestverbot explizit an, wenn er auf seiner Integrität mit den Worten („W“) besteht, die dem geltenden axiologischen Maßstab entsprechen: „[I]ch bin ja nicht krankhaft, ich hätte meine Tochter als meine Tochter behandelt, ich bin nicht pervers!“ (HF, 81). Seine Handlung A widerspricht dem jedoch. Mag er auch nicht wider besseres Wissen gehandelt haben, so wider seinen Verdacht, den er auszuräumen versäumt. Würde er seine Schuld anerkennen, wäre er nicht axiologisch unzuverlässig. Aber mit seiner rhetorischen Frage „Was ist denn meine Schuld?“ (HF, 123), die er unbeantwortet lässt, sagt er, dass er keine Schuld trägt. Damit befindet er sich in Widerspruch mit der betreffenden Norm, die er sonst anerkennt.

Ich breche die Analyse an dieser Stelle ab, weil die grundlegenden Aspekte klar geworden sein dürften. Fabers Unzuverlässigkeit umfasst aber noch weitere Aspekte. So ist sein konkretes Verhalten Sabeth gegenüber beispielhaft für seine generelle Einstellung. Dass er als junger Mann die schwangere Hanna sich selbst überlassen hat, spricht ebenso Bände wie sein wiederholter Hinweis auf die Zufälligkeit der Ereignisse, wobei er seinen eigenen Anteil am Gang der Ereignisse sowie seine Verantwortung dafür konsequent aus dem Spiel lässt. Dieses Verhalten ist auf das engste mit seiner technokratischen Weltsicht verknüpft, die für moralische Belange keinen Platz hat.

3.3 Kurzanalyse 2: Jakob der Lügner von Jurek Becker

Mit meinem zweiten Beispiel möchte ich eine Zuschreibung von Unzuverlässigkeit diskutieren, die sich weniger gut begründen lässt als bei Homo faber, die aber trotzdem das Verständnis des Textes, so meine ich, vertieft, indem sie ihm eine Facette abgewinnt, die ohne den Begriff der Unzuverlässigkeit jedenfalls nicht so leicht zu Tage zu fördern ist.

Jakob der Lügner ist, alles in allem, nicht unzuverlässig erzählt. Der Erzähler, ein Überlebender der Shoah, erzählt primär nicht seine eigene, sondern Jakobs Geschichte, wie er sie während der Deportation auf dem Weg ins Vernichtungslager von ihm, Jakob, der das Lager nicht überstehen wird, erfahren hat. Der anonyme Erzähler thematisiert sein Wissensdefizit und gibt damit zu verstehen, dass manche Sachverhalte nur ungefähr so bestanden haben können, wie er sie darstellt, ohne dass er sich dessen sicher ist. Er gibt damit nichts Falsches zu verstehen, sondern schmückt allenfalls Sachverhalte aus, von denen er keine genaue Kenntnis hat, und besteht lediglich darauf, dass es sich so oder ähnlich abgespielt haben könnte. Viele Sachverhalte stehen sozusagen in einem Möglichkeitsvorbehalt, insonderheit diejenigen, die davon erzählen, was die Figuren denken, aber auch viele andere, die der Erzähler nicht aus eigener Anschauung kennt.Footnote 67

Bei einem Sachverhalt gibt sich der Erzähler allerdings besondere Mühe, um seine Rekonstruktion zu begründen. Es handelt sich um den Tod von Professor Kirschbaum, einem einst anerkannten Mediziner. Eines Tages wird Kirschbaum von zwei Beamten in zivil mit einem Auto abgeholt, das eine SS-Standarte trägt, damit er den erkrankten Kommandanten der örtlichen Gestapo, Sturmbannführer Hardtloff, kuriert (JL, 186–197). Auf der Fahrt zu dessen Landhaus bringt sich Kirschbaum mit einer Gifttablette um.

Der Erzähler erklärt im Anschluss an diese Episode, dass er einen der beiden Gestapo-Leute nach dem Krieg in West-Berlin aufgesucht und von ihm den Hergang erfahren habe, denn die Juden im Ghetto hatten, als Kirschbaum nicht zurückgekommen war, angenommen, dass die Deutschen ihn umgebracht hätten, weil Hardtloff in der Nacht verstorben war. Eine Pointe dieser Geschichte ist, dass es letztlich unerheblich ist, wie genau Kirschbaum zu Tode gekommen ist, denn verantwortlich sind in beiden Fällen die Deutschen. Andererseits dokumentiert sie auch den heldenhaften Versuch Kirschbaums, die Kontrolle über die eigene Existenz zu behalten.

Das Besondere an dieser Episode ist, dass der Erzähler sich diesmal nicht auf seine Intuition beruft wie bei Herschels letzter Unterhaltung (vgl. Anm. 67), sondern auf einen Zeugen, den er nach dem Krieg ausfindig macht. Es handelt sich um einen der beiden Männer, die Kirschbaum abgeholt haben. Seine Name ist Preuß, und er wird in der Episode, die von der Abholung berichtet, relativ positiv beschrieben als jemand, der weiß, wie man sich benimmt, der höflich ist und Anstand wahrt, Interesse an Büchern hat und keine offen antisemitische Einstellung zeigt, während sein Kollege Meyer das genaue Gegenteil ist: jemand, der seinen Judenhass kaum verbergen kann und für den die Situation, einen Juden um Hilfe, wenn schon nicht zu bitten, so doch zu holen, eine demütigende Herausforderung darstellt, mit der er kaum zurechtkommt. Trotzdem sind sich beide einig, was den Auftrag angeht, und Preuß macht, wiewohl nebenbei, unmissverständlich klar, dass es nicht darum geht, Kirschbaum zu schonen. Er ist für ihn nur Mittel zum Zweck.

Als der Erzähler Preuß später in West-Berlin aufsucht, benimmt dieser sich, wie man es aufgrund der Schilderung zuvor erwarten kann. Er ist höflich und legt dem Erzähler ungefragt seine Entnazifizierungsurkunde vor. Dann erzählt er ihm von Kirschbaums letzter Fahrt, wie sie der Erzähler bereits zuvor – eben aufgrund dieses Berichts von Preuß – ausführlich geschildert hat. Der Erzähler zweifelt nicht an Preuß’ Version und kommentiert: „Er hatte gut erzählt, lückenlos und plastisch, ich fand auch einleuchtende Gründe, warum er sich an diese Fahrt so gut erinnerte“ (JL, 201). Ein Grund könnte sein, dass Kirschbaum Preuß von seinen Tabletten, die angeblich gegen Sodbrennen helfen, angeboten hatte. Preuß hatte das Angebot abgelehnt, obwohl er selbst häufig an Sodbrennen leidet, und somit Glück gehabt, aus dieser Situation mit dem Leben davon gekommen zu sein.

So weit scheint alles zuverlässig zu sein. Die einzige formale Anomalie, die es gibt, ist kein Widerspruch, sondern die Prolepse, die sich der Erzähler hier erlaubt. Er berichtet von seiner Recherchereise nach dem Krieg und verlässt dafür den ansonsten weitgehend chronologisch geschilderten Ablauf der Ereignisse im Ghetto, der meistens Jakobs (teils auch Mischas) Sicht folgt. Man darf sich daher fragen, ob diese Ausnahme, die der Erzähler macht, indem er Preuß die Ehre für einen weiteren Auftritt in seiner Erzählung und Gelegenheit zur Rechtfertigung gibt, etwas Besonderes zu bedeuten hat.

Wichtig scheint zu sein, was nicht erzählt wird. So fragt der Erzähler Preuß nach dem Verbleib von Kirschbaums Schwester. Sie wurde nämlich wenig später unter demütigenden Umständen abgeholt, um, wie die Nachbarn denken, „für die Unfähigkeit ihres Bruders [zu] bezahlen, dafür, daß er es entgegen den Erwartungen nicht vermochte, den Sturmbannführer zu heilen“ (JL, 231). Preuß war mit der Abholung von Elisa Kirschbaum nicht betraut und fragt, als wüsste er nicht, was in solchen Fällen geschah: „Ist da noch was gewesen?“ (JL, 202). Diese rhetorische Frage übergeht der Erzähler und verabschiedet sich. Auch wenn er nichts dergleichen explizit sagt, müssen der Besuch bei Preuß und dessen höfliche Zudringlichkeit eine Zumutung für ihn sein. Er ist nicht zu Preuß gekommen, um ihm Vorwürfe zu machen, wie Preuß selbst erwartet, als er versteht, wen er vor sich hat. In Preuß’ Reaktion beim Abschied wird deutlich, dass es ihm mindestens an Verständnis für die Juden fehlt; es zeigt aber auch, dass der Erzähler erstaunlich milde ist. Er lässt die Situation für sich sprechen, so könnte man diese Milde interpretieren, in der Hoffnung, dass Preuß’ Verhalten ihn bloß genug stellt.

Die Version von Preuß kann stimmen oder auch nicht, entscheidend ist, dass der Erzähler keinerlei Angaben darüber macht, dass es anders war. Überdies schenkt er Preuß Glauben. Trotzdem steht eine Alternative im Möglichkeitsspektrum des Romans, nämlich die naheliegende Version, von der die Bekannten und Nachbarn Kirschbaums im Ghetto ausgehen: dass sein Rettungsversuch gescheitert ist und er dafür mit dem Tod bestraft wurde. Inwiefern hängt diese Episode um eine Nebenfigur mit der Hauptfigur und dem übergeordneten Thema des Romans zusammen?

Beckers Roman trägt nicht umsonst den Titel „Jakob der Lügner“. Es ist die Geschichte Jakobs, der aus Zufall erfährt, dass die Russen vorrücken, und dann, weil ihm niemand glaubt, ein Radio erfindet, dessen unwahrscheinliche (und lebensgefährliche) Existenz ihm die Ghettobewohner eher abnehmen als die wahre Begebenheit, der gemäß er an die Information gekommen ist.Footnote 68 Sie gieren nach der Hoffnung, die ihnen aus der Nachricht über die heranrückende Front erwächst, und so ist Jakob gezwungen, sich fortan Nachrichten auszudenken, aus denen die Juden immer wieder neue Hoffnung schöpfen können. Tatsächlich bricht die Zahl der Selbstmorde ein, aber das Lügen fällt Jakob zunehmend schwer, und mit Kirschbaums Tod schwinden seine Kräfte deutlich. Straßenzug um Straßenzug wird evakuiert, indem die Bewohner die Fahrten in die Vernichtungslager antreten.

Jakobs ganzes Tun ist gekennzeichnet von der Sorge, immer wieder neue Geschichten zu erfinden, mit denen er seine Leidensgenossen bei Laune halten kann. Ein Lügner ist er nicht in jeder Hinsicht, denn was er ihnen erzählt, könnte sich abgespielt haben und hat sich auch mehr oder weniger so abgespielt, wenn auch nicht rechtzeitig. Dass er ein Radio besitze, ist eine Lüge; was er an erfundenen Nachrichten erzählt, ist aber möglich. Der Erzähler erzählt Jakobs Geschichte nach und denkt sich die Details dazu. Jakob und der Erzähler sind sich nicht unähnlich, weil ihr Geschäft darin besteht, mit Erfindungen etwas zu bewirken: die Wahrheit über die Shoah zu erzählen im einen Fall, Hoffnung auf baldige Beseitigung des Nazi-Terrors im anderen Fall. Erfindungen gehören gewissermaßen zur Wahrheit dazu, könnte man sagen – aber nicht, um diese zu diskreditieren, sondern um sie zu überliefern. Die Erfindungen sind die Räder, die das Vehikel zum Rollen bringen.Footnote 69

Durch die Zeugenschaft von Preuß kommt jedoch eine Instanz in die Geschichte, die ihr fremd ist. Wie erwähnt, ist er in der ersten Schilderung durch den Erzähler bemerkenswert freundlich dargestellt. Erst hinterher zeigt sich, dass er selbst der Gewährsmann für die Abholung Kirschbaums ist. So gesehen, ist es kein Wunder, dass er in überraschend gutem Licht erscheint, denn natürlich wird er sich gegenüber einem Überlebendem positiv zu schildern versuchen. Erstaunlicherweise übernimmt der Erzähler diese Schilderung, ohne sie in Frage zu stellen. Sollte der Erzähler diesbezüglich unzuverlässig sein?

Ich würde nicht sagen, dass er in dem hier vertretenen strengen Sinne mimetisch unzuverlässig erzählt, weil man ihm nicht nachweisen kann, dass es sich anders verhalten hat. Der Erzähler besteht – nach allem, was er sagt – auf der Glaubwürdigkeit von Preuß. Mit Kirschbaums Todesart (Selbstmord) und -zeitpunkt (vor der Behandlung Hardtloffs) verhält es sich am ehesten so, wie Preuß es schildert. Es ist gerade dieser erzwungene Heroismus, der der Kirschbaum-Episode nicht nur ihre besondere Erzählwürdigkeit verleiht, sondern auch ihre Wahrhaftigkeit, denn Kirschbaum ist es auf diese Weise gelungen, der Kollaboration mit den Deutschen zu entkommen, die in solch einer Situation der Normalfall gewesen wäre.

Der Sachverhalt, der Gegenstand der potentiellen Unzuverlässigkeit des Erzählers ist, betrifft demnach nicht die Todesumstände von Kirschbaum. Stattdessen zeigt sich in der Beziehung des Erzählers zu Preuß etwas, das sich als Diskrepanz beschreiben lässt zwischen dem, was der Erzähler vermittelt, und dem, was sich durch den Erzähler vermittelt. Die formale Anomalie der Prolepse und die weitere Anomalie, dass ein Täter zum Zeugen ausgerechnet in einer solchen Geschichte befördert wird, wecken Zweifel: nicht Zweifel an dem Sachverhalt, sondern an etwas anderem.

Die Unzuverlässigkeit des Erzählers bezieht sich möglicherweise auf den Umstand, dass er sich auf jemanden wie Preuß verlässt. Demnach wäre der Erzähler nicht mimetisch, sondern axiologisch unzuverlässig, weil er einen Gestapo-Mann, mag dieser auch die Wahrheit sagen, in seiner Erzählung eine solch herausgehobene Position zuweist und dadurch aufwertet. Er gibt damit mehr oder weniger unfreiwillig Preuß Gelegenheit, seine eigene positive Selbstdarstellung unter Ausklammerung seiner wahrscheinlichen Beteiligung an schweren Verbrechen in der Geschichte, die von Jakob und den menschenunwürdigen Bedingungen im Ghetto handelt, festzuschreiben und weiter zu verbreiten. Die Frage zu beantworten, ob das unzuverlässig erzählt ist, hängt (unter Zugrundelegung der Daumenregel (R)) davon ab, ob der Erzähler damit gegen einen Wert W verstößt, der in der erzählten Welt gelten müsste.

Ich denke, dass der Text ansonsten keinen Anlass gibt, der diesen Verdacht bestätigt. Meiner Meinung nach reicht dieses Beispiel deshalb nicht hin, damit man dem Erzähler axiologische Unzuverlässigkeit zuschreiben kann, und sei es nur mit Bezug diesen festumgrenzten Bereich der den Täter Preuß in gewisser Hinsicht salvierenden Zeugenschaft. Trotzdem hat der Zuschreibungsversuch der Unzuverlässigkeit einen interpretativen Gewinn zu verzeichnen, indem er für Anomalien im Text sensibilisiert, die zu einer tieferen Durchdringung des Textes anregen. Wenn die Zeugenschaft von Preuß und die für den Text ansonsten ungewöhnliche Prolepse sich nicht befriedigend durch Unzuverlässigkeit des Erzählers erklären lassen, so bleiben sie als Anomalien bestehen und verlangen nach einer anderen Erklärung.

Wenn man den Zusammenhang der Kirschbaum-Episode sowie des axiologisch unpassenden Umgangs mit ihr durch den Erzähler mit der übergreifenden Thematik des Romans herzustellen versucht, mag der Sinn der gestörten Axiologie darin liegen, die Einsicht in die Bedingtheit von Wahrheit zu illustrieren. Schon durch den Titel ist Wahrheit als Thema immer präsent, und die Wahrheit über die Front wird den Juden im Ghetto vorenthalten. Sie befinden sich im Zustand des Nichtwissens. Auch der Erzähler weiß vieles nicht, und die Nachwelt schon gar nicht, weil die meisten Zeugen ermordet wurden. Der Erzähler als einer der wenigen Überlebenden hat nur eine lückenhafte Kenntnis der Vorfälle, weil er nicht überall zugleich sein konnte. Das ist es, was die zweifelhafte Verlässlichkeit des Zeugen Preuß, die der Erzähler gutgläubig oder aus Mangel an Alternativen übernimmt, möglicherweise besagt. Die Variante von Kirschbaums Tod als Selbstmord ist für Preuß vorteilhafter, sie ist aber auch ungewöhnlicher, weil alle, die nicht dabei waren, von einer anderen Variante ausgegangen sind, die erwartbarer ist: erfolgloser Behandlungsversuch mit anschließender Ermordung Kirschbaums. Der springende Punkt aber ist, wie erwähnt, dass Kirschbaum so oder so nicht lebendig zurückgekehrt ist und dass in beiden Fällen die Deutschen für seinen Tod die Verantwortung tragen. Und in diesem Punkt ist Kirschbaum wie alle Juden, die in dieser Zeit ermordet wurden. Ganz gleich, wie es genau geschehen ist, am Ende waren die allermeisten tot, und die Verantwortung dafür tragen die, die dabei gewesen sind, auch wenn sie nur abgeholt und zugesehen haben. Das ist die Gewissheit, die bleibt, das unumstößliche Faktum, das nicht mehr rückgängig zu machen ist und aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragt.

3.4 Kurzanalyse 3: Joseph Breitbachs Bericht über Bruno (1962)

Zum Schluss dieses ersten Kapitels möchte ich mich noch der Frage zuwenden, woran man eigentlich einen zuverlässig erzählten Roman erkennen kann. Gerade bei Ich-Erzählungen steht der Verdacht im Raum, dass diese durch die notorische Fehlbarkeit des Ich immer ein wenig unzuverlässig sind. Es mag schon sein, dass im 20. Jahrhundert, seitdem die Erkenntnis der Fehlbarkeit des Ich immer stärkere Verbreitung gefunden hat, solche Erzählungen in der Literatur immer häufiger anzutreffen, ja teilweise sogar zur Norm geworden sind.Footnote 70 Es ist aber davon auszugehen, dass dies nur für ein bestimmtes Segment der Literatur gilt. Insgesamt betrachtet, wird – zumal in der Nachkriegsliteratur – Zuverlässigkeit, auch quantitativ gesehen, die Norm sein. Qualitativ gesehen, ist Zuverlässigkeit sowieso als Norm zu betrachten, weil sie strukturell einfacher ist.

Ich habe schon im vorangegangenen Abschnitt auf Voraussetzungen aufmerksam gemacht, die akzeptieren muss, wer die Kategorie des unzuverlässigen Erzählens sinnvoll und mit Aussicht auf Gewinn einsetzen will. Dazu gehört auch, die jeweils geltenden Normen, die ein Text setzt, zu erkennen und ggf. als poetische Lizenzen zu verbuchen. Ein Beispiel dafür ist, dass ein Ich-Erzähler die ausufernd lange Rede einer anderen Figur wörtlich wiedergibt, obwohl dies die kognitiven Kompetenzen jedes realen Menschen übersteigt. Das kann in bestimmten Fällen eine Anomalie sein, die eben darauf hindeutet, dass der Ich-Erzähler auch im Rahmen der erzählten Welt seine Kompetenzen überschreitet; es kann aber auch in dem poetisch-narrativen Universum, das der Text setzt, normal sein, dass der Erzähler über solche Kapazitäten verfügt. Dann besteht kein Zusammenhang zwischen diesem Erzählverhalten und Unzuverlässigkeit.

Gerade die axiologische Ebene ist bei Ich-Erzählern oft nicht eindeutig und manchmal recht fragwürdig. Es wäre aber nicht zweckmäßig, hier immer von axiologisch unzuverlässigem Erzählen zu sprechen, weil sonst tatsächlich die Gefahr besteht, dass nur wenige Texte nicht axiologisch unzuverlässig erzählt sind. Man muss unter Umständen sehr genau hinsehen, welche Normen von einem Text zur Disposition gestellt werden. Um dies an einem zuverlässig erzählten Text zu illustrieren, wähle ich einen Text aus dem Korpus der Nachkriegsliteratur, der heute nicht mehr allzu bekannt ist. Das mag auch damit zu tun haben, dass Texte, die eindeutig zuverlässig erzählt sind bzw., allgemeiner gesagt, wenige Fragen offen lassen, nicht unbedingt das meiste literaturwissenschaftliche Interesse auf sich ziehen. Joseph Breitbachs Bericht über Bruno (1962) ist solch ein Text. Trotzdem ist er für meine Absichten gut geeignet, weil die Zuverlässigkeit des erzählenden Ich möglicherweise im Widerspruch zu seinem Scheitern auf der Ebene der erzählten Handlung steht. Dass dies nicht so ist, möchte ich im Folgenden darlegen.

Der Autor Joseph Breitbach gehört zu den älteren Autoren der frühen Bundesrepublik, die wie Robert Neumann ihre literarische Sozialisierung noch in der Weimarer Republik durchliefen. Auch sonst nimmt er als Exilautor eine Sonderstellung ein. Bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten übersiedelte Breitbach im Alter von nicht einmal dreißig Jahren nach Frankreich, wo er sich dem Kreis um die von André Gide und Gaston Gallimard gegründete Zeitschrift Nouvelle Revue Française anschloss, namentlich Jean Schlumberger, der ihm lebenslang ein enger Freund blieb. Seit seiner Ausbildung in einem Augsburger Warenhaus auch im Wirtschaftsleben als Manager und später als Aktienhändler integriert, avancierte Breitbach, der in der Nachkriegszeit viele Bekannte in der damaligen politischen Elite sowohl Frankreichs als auch Deutschlands hatte, zu einem einflussreichen Akteur in den kulturpolitischen Beziehungen beider Länder.Footnote 71

Bericht über Bruno handelt von der Beziehung zwischen Bruno und seinem Großvater und von den Intrigen der Politik. Der Großvater erzählt die Geschichte seiner Beziehung zu seinem Enkel und davon, wie dieser wurde, was er am Ende der Geschichte ist: ein so gewissenloser wie gerissener politischer Karrierist, der seine Laufbahn kaltblütig plant und am Ende für die Absetzung der Regierung sorgt, der sein Großvater als Innenminister angehört, kurz bevor sie zwei dem Großvater wichtige Reformen durchbringen kann. Laut Breitbach ist der Großvater „die Hauptfigur, nicht der Enkel, dessen Entwicklung er erzählt“ (Breitbach/Kramberg 1962).

Im Wesentlichen ist der Roman, wiewohl er es an der Kapitelfolge nicht erkennen lässt, zweigeteilt. Im ersten, der fast zwei Drittel des Gesamtumfangs einnimmt, schildert der Großvater retrospektiv sehr ausführlich die Ereignisse, die zum Wendepunkt in Brunos Entwicklung führen; im zweiten, der die Handlung stark rafft, die Abwendung Brunos vom Großvater und sein Machtstreben, das ihn zunächst in die Sowjetunion führt und dann in den Journalismus, als ihm ein erster Coup gegen den Großvater glückt, bis er zuletzt selbst die politische Bühne betritt und die Reformen des Großvaters verhindert. Kennzeichnend für Bruno ist, dass er sich dabei gegensätzlicher Ideologien bedient, ohne sie selbst zu vertreten. Scheint er zunächst dem Kommunismus nahezustehen, geht er bei seiner letzten Attacke eine Kooperation mit reaktionären und kirchlichen Kräften ein, die gegen die progressive Regierungspolitik des Großvaters und seiner sozialliberalen Koalition kämpfen.

Im ersten Teil werden die persönlichen Voraussetzungen von Bruno eingeführt: seine Verschlossenheit, sein unbändiger Ehrgeiz, seine frühreife, aber schon berechnende Intelligenz und Empathielosigkeit, gleichzeitig ein zerrüttetes Elternhaus, das der Großvater, der nicht nur Politiker ist, sondern auch Generaldirektor eines Chemie-Unternehmens, ihm zu ersetzen versucht, indem er Bruno Privatunterricht geben lässt. Zentral für Brunos Entwicklung sind aber zwei weitere Charakterzüge, mit denen er auf kontingente Ereignisse in seiner unmittelbaren Umgebung reagiert. Zunächst ist da der Umstand, dass er sich selbst und andere mit zweierlei Maß misst, was Wahrheitsliebe angeht. Selbst hemmungslos lügend, verlangt er vom Großvater absolute Aufrichtigkeit und wendet sich von ihm ab, als er ihn bei einer eher belanglosen Notlüge ertappt. Zum Zweiten wird seine Zuneigung zu seinem Hauslehrer Rysselgeert von diesem nicht in der Weise erwidert, wie es sich Bruno vielleicht wünscht. Am Ende treibt er Rysselgeert in den Tod. Daher kann der Großvater am Ende resümieren, dass Ehrgeiz in Kombination mit Eifersucht eine unheilvolle Wirkung zeitigen (vgl. BB, 295).

Es werden zwar durch diesen Hintergrund Erklärungen angeboten, warum Bruno so brutal und rücksichtslos ist: zum einen eine psychologische Erklärung, die in der Zurückweisung durch Autoritätsfiguren, die er gerne als solche akzeptiert hätte, zu suchen ist; zum andern eine, wenn man so will, soziobiologische Erklärung, für die der ebenfalls brutale Urgroßvater Brunos steht sowie seine nichtsnutzigen Eltern, der leichtsinnige, verantwortungslose Hubert Collignon und Brunos drogenabhängige Mutter (vgl. BB, 46).

Man könnte nun schließen, dass der Großvater, so erfolgreich er im öffentlichen Leben ist, im privaten Bereich ein Versager ist, und weiter, dass das private Versagen eine Folge des öffentlichen Engagements ist, da die Tochter des Großvaters (also Brunos Mutter) mit dem Lebemann Collignon durchbrennt, als ihr Vater auf einer seiner zahlreichen Reisen im Ausland weilt. Ebenso wie das Schicksal der Tochter könnte man das Heranwachsen Brunos als Folge emotionaler Vernachlässigung interpretieren. Dies wiederum könnte, wenn man den axiologischen Maßstab M daran ausrichtet, dass emotionale Nähe und Sorge einen positiven Wert darstellen, als Grund angesehen werden, dem Großvater axiologische Unzuverlässigkeit zu attestieren.

Doch diese Zuschreibung ist vorschnell und unzutreffend, weil sie sich auf einen Maßstab stützt, der in der erzählten Welt von untergeordneter Bedeutung ist. Das heißt nicht, dass er gar nicht gelten würde, denn man kann diese Schlüsse durchaus ziehen.Footnote 72 Aber es ist nicht der für die Axiologie entscheidende Maßstab, nach denen der Großvater in erster Linie zu beurteilen ist. Für den Großvater ist charakteristisch, dass er sich seine herausragende Stellung in Staat und Wirtschaft selbst erarbeitet hat und immer versucht, übergeordneten Zielen zu dienen. Persönliches – und dazu zählt auch die Familie – ist sekundär und hat gegenüber dem Gemeinwohl (sowohl im Staat als auch im Unternehmen) zurückzutreten.

Dass der Roman für Brunos Entwicklung kausale Antezedentien namhaft macht, heißt nicht, dass sie auch auf der axiologischen Ebene gelten. Eben dies zeigt sich im Großvater, der auch nicht die allerbesten Startvoraussetzungen hatte und sich trotzdem zu einem verantwortungsvollen Menschen entwickelte, der nicht alle moralischen Prinzipien über Bord geworfen hat. Bruno hat keine Moral, aber auch jemand wie er hätte die Möglichkeit zu moralischem Handeln. Es liegt an einem selbst, was man aus seinen Anlagen macht.

Allerdings sollte man den Großvater nicht dahingehend missverstehen, dass er als positive Kontrastfigur zu Bruno einer bestimmten Ideologie verpflichtet wäre. Während Bruno Ideologien benutzt, um seine persönlichen Ziele durchzusetzen und seinem reinen Machtstreben zum Erfolg zu verhelfen, ist der Großvater generell ideologieskeptisch. Er versteht nicht nur am Beispiel seines Enkels, dass Ideologien missbraucht werden, um bestimmte Ziele (persönliche Macht) durchzusetzen. Was ihn von Bruno und seinesgleichen unterscheidet, sind seine gesellschaftlich progressiven, konkreten Reformziele: „Die Moral des Buches auf einen Satz gebracht: Machtbesitz allein macht keinen Staatsmann, nur was er sich geschworen hat, mit der Macht anzufangen, darauf kommt es an“ (Breitbach/Kramberg 1962).

Zwar könnte man aus heutiger Perspektive sagen, dass der Großvater durchaus nach ideologischen, nämlich liberalen Grundsätzen handelt. Aber auch hier lässt sich dem Großvater kein Widerspruch zu den für den Roman geltenden Maßstäben nachweisen. Sein Handeln und seine Maximen sind dadurch legitimiert, dass er u. a. ein Gesetz abschaffen möchte, das von der politischen Klasse zur Herrschaftssicherung missbraucht wird, an das sich aber gerade die Vertreter dieser Klasse selbst nicht halten. Es geht um die Strafbarkeit von Ehebruch und Homosexualität. Daher ist eine der ersten Entscheidungen, die der Großvater als wiederernannter Innenminister vornimmt, die Reduktion der sog. Sittenpolizei. Dabei ist der Großvater durchaus kein Engel, sondern setzt seine Ziele ebenfalls mit dubiosen Mitteln durch. Als er am Ende ein entsprechendes Gesetz ins Parlament einbringt und bereits mit erheblichem Gegenwind rechnet, verliest er die Sittlichkeitsvergehen derjenigen Abgeordneten seiner Regierungskoalition, die seine Reform aufgrund der von Bruno betriebenen öffentlichen Kampagne nicht mehr stützen, um ihre Doppelzüngigkeit zu entlarven. Die Informationen über die Abgeordneten hat er jedoch aus den Akten der Sittenpolizei, die er eigentlich abschaffen will. Man könnte denken, dass auch der Großvater sich eines Verhaltens schuldig macht, das er eigentlich bekämpft, und deswegen axiologisch widersprüchlich einzuschätzen ist. Aber auch hier gilt wieder: Es gibt keinen Widerspruch, weil das Mittel um des guten Zieles willen (in diesem Fall) gerechtfertigt ist. Doch letztlich scheitert er. Die Abschaffung der entsprechenden Paragraphen kann er nicht mehr durchsetzen, weil Bruno durch seine Allianz mit der katholischen Kirche und der Presse schließlich obsiegt und dem Großvater nur der Rücktritt bleibt.

Der Erzähler scheitert, aber auch diesbezüglich liegt keine Unzuverlässigkeit vor, weil er nicht nur das Scheitern zugibt, sondern sich auch zu dem bekennt, was ihm misslingt. In der Axiologie des Romans handelt der erzählende Großvater immer richtig, auch dann, wenn die Mittel, wie erwähnt, mitunter dubios sind, weil die Umstände manchmal so sind, dass er keine Gelegenheit hat, gut zu handeln, sondern von zwei Handlungsoptionen nur die weniger schlechte wählen kann.

Der Großvater liegt mit seinem Gesetzesvorhaben schließlich auch deshalb richtig, weil Bruno – das zumindest würde seine Eifersucht auf Rysselgeert erklären, der in einer festen homosexuellen Partnerschaft lebt – ebensolche Neigungen hat, die er möglicherweise besser hätte ausleben können, wenn die Gesellschaft das erlaubte und nicht in die Illegalität verbannte. So gesehen, würde das Erreichen der politischen Ziele des Großvaters dazu beitragen können, solche verirrten Sublimierungen in Zukunft zu vermeiden.

Demnach ist der Großvater, dessen mimetische Akkuratesse sowieso nicht in Frage steht, auch ein in axiologischer Hinsicht zuverlässiger Erzähler. Dafür spricht am Ende zudem, was Breitbach dazu zu sagen hat. Der Großvater ist das Sprachrohr des Autors: „Der Großvater, das bin ich in vieler Hinsicht selbst. Seine Gedanken sind meistens meine“ (Breitbach/Durzak 1976, 59). Auch was Breitbach sonst dazu zu sagen hat, spricht dafür, dass der Großvater das axiologische Orientierungszentrum des Romans ist, das identisch mit der Zuverlässigkeit des Erzählers ist.