Anhand historischer Germanismen in Nachbarsprachen des Deutschen (v. a. des Englischen, aber auch des Polnischen) versucht der Aufsatz, einen Beitrag zu einer interdisziplinären Linguistik der Erinnerung zu leisten. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, wie sprachliche Ausdrücke als immaterielle Erinnerungsorte (P. Nora) konzeptualisiert werden können. Nach einer Übersicht über die relevante geschichts- und sprachwissenschaftliche Literatur wird zunächst vorgeschlagen, das Denotat lexikalischer Erinnerungsorte als narrative Abbreviatur (J. Rüsen), das Konnotat als historisches Stereotyp (H.H. Hahn, H. Orłowski) zu beschreiben. In einem zweiten Schritt wird die strenge Dichotomie von Denotat und Konnotat durch eine flexiblere framesemantische Konzeption ersetzt. So lässt sich linguistisch modellieren, wie Sprache als Erinnerungsstabilisator (J. Fried) die Ordnungen des sozialen Gedächtnisses (H. Feilke) herzustellen und weiterzutragen hilft, und zwar auch übereinzelsprachlich, insofern nämlich translingualer Wortschatz als Repertoire transnationaler Erinnerungsorte zur perpetuierenden Aktualisierung geteilter Erinnerung beiträgt.

1 Einleitung

Obwohl die Sprach- und die Geschichtswissenschaft eine beachtliche Reihe von Berührungspunkten aufzuweisen haben (siehe u. a. die Beiträge in Trabant, Hrsg., 2005b), hat die historische Erinnerungsforschung bisher nur wenig Interesse an Sprache gezeigt. Eine seltene Ausnahme bildet die von dem Mediävisten Johannes Fried vertretene „historische Memorik“, die die klassische philologische Quellenkritik durch Erinnerungskritik ergänzt und relativiert (Fried, 2004). Sie schreibt der Sprache eine Rolle als „Erinnerungsstabilisator“ zu (ebd.: 296), beruft sich dabei jedoch auf die neurokulturelle Gedächtnisforschung (ebd.: 80–152), nicht auf die Linguistik, und nimmt auch keine konkreten sprachlichen Ausdrücke in den Blick. In ihrer fachwissenschaftlichen Rezeption (Überblick bei Müllerburg, 2010; theorievergleichende Diskussion bei Riel, 2018: 49–55) ist von Sprache dann auch ebenso wenig die Rede wie in Arbeiten, die sich der transnationalen Verflechtung von Erinnerungen widmen (Aust, 2009; Feindt et al., 2014a, 2014b) oder Gedächtnis und Erinnerung als Herausforderung der Geschichts- bzw. der historisch orientierten Politikwissenschaft anerkennen (Jaworski, 2009; Subotic & Steele, 2021).

Entsprechendes gilt für die Erinnerungsforschung literatur-, kultur- und kommunikationswissenschaftlicher Prägung. Deren Grundeinsicht lautet: „Erinnerungen sind […] darauf angewiesen, dass sie vermittelt und transportiert werden“ (Rüsen & Jaeger, 2006: 78); sie haben eine „kommunikative Struktur“ (ebd.). Umso mehr muss es überraschen, dass einschlägige Arbeiten wie die von A. Assmann (u. a. 1999, 2006) und Erll (u. a. 2004, 2017) die Rolle der Sprache als Medium von Erinnerung nicht substanziell thematisieren bzw. dies im Falle Assmanns (1999: 179–217) nur indirekt anhand der Schrift tun. Zwar schreibt Erll (2004: 4):

Die Konstitution und Zirkulation von Wissen und Versionen einer gemeinsamen Vergangenheit in sozialen und kulturellen Kontexten werden erst durch Medien ermöglicht: durch mündliche Sprache, Buch, Fotografie und Internet etwa. Auf kollektiver Ebene ist Gedächtnis stets medial vermittelt bzw. [...] wird es oftmals überhaupt erst medial konstruiert.

Und Assmann (2006: 25) hebt unter Verweis auf Halbwachs hervor, dass

das individuelle Gedächtnis immer schon sozial gestützt (ist). [...] Das Gedächtnis als Zusammenhalt unserer Erinnerungen wächst also ähnlich wie die Sprache von außen in den Menschen hinein, und es steht außer Frage, dass die Sprache auch seine wichtigste Stütze ist.

Trotz der so begründeten Verankerung des kommunikativen Gedächtnisses in „einem Milieu räumlicher Nähe, regelmäßiger Interaktion, gemeinsamer Lebensformen und geteilter Erfahrungen“ (ebd.) bleibt natürliche Sprache im umfassenden, Mündlichkeit einschließenden Sinne jedoch außer Betracht; „eine Untersuchung der Medien des Gedächtnisses“, hatte Assmann zuvor bereits pointiert formuliert, „muss von der Schrift ausgehen“ (Assmann, 1999: 180). Diese Aussparung setzt sich in der Behandlung des sozialen und kollektiven sowie kulturellen Gedächtnisses durch Assmann (2006: 26–31, 51–54) ebenso fort wie in den Spezialaufsätzen, in denen Assmann die viel diskutierte Kategorie Erinnerungsort thematisiert (Assmann, 2009; Assmann & Assmann, 2014). In der konstruktivistischen Erinnerungs- und Gedächtnistheorie von S.J. Schmidt (1994, 2010) bleibt natürliche Sprache ebenfalls unberücksichtigt.

Angesichts dieser offenkundigen Lücke versucht der vorliegende Beitrag, die von Trabant (2005a) noch „halb ironisch“ (ebd.: XV) geforderte „Linguistik der Geschichte“ (ebd.: XIV–XVI, XXII) in eine Linguistik der Erinnerung umzumünzen, die den „Eigensinn des Mediums Sprache“ (Jäger, 2005) im Konstituieren von Erinnerung ernst nimmt. Dass Jäger (2005; implizit auch Riel, 2018) natürliche Sprache als Medium im kommunikationswissenschaftlichen Sinn betrachtet (statt z. B. wie S.J. Schmidt, 2000: 94 als den „Prototyp von Kommunikationsinstrumenten“, aber „nicht als Medium“), ist dabei nicht entscheidend. Vielmehr nehmen wir konkrete sprachliche Ausdrücke in den Blick und fragen, ob/wie sie als immaterielle Erinnerungsorte (Nora, 1984, siehe unten) zu konzeptualisieren sind. Dabei nehmen wir die transnational-translinguale Perspektive ein, die Harnisch (2017) u. a. anhand deutsch-tschechischer Toponymdubletten demonstriert. Da die erinnerungsvermittelnde Rolle von Lexik bei komplexerer Semantik deutlicher hervortritt, ziehen wir statt Toponyma jedoch Praxonyma wie Anschluss, Endlösung und Kulturkampf sowie Appellativa wie Blitzkrieg, Drang nach Osten und Lebensraum als Beispielmaterial heran. Deren Gebrauch als sog. historische Germanismen im Englischen sowie teils auch im Polnischen haben Schröter und Leuschner (2013), Leuschner und Schröter (2015) und Jaworska und Leuschner (2018) mit diskursanalytischen Mitteln erforscht, ohne jedoch schon Bezüge zur Erinnerungsforschung oder zu Erinnerungsorten herzustellen.

Im nachfolgenden Abschn. 2 wird zunächst die wichtigste Handbuch literatur zu Erinnerungsorten erschlossen, wonach in Abschn. 3 die Kategorien „narrative Abbreviatur“ (Rüsen, 1994) und „historisches Stereotyp“ (Hahn, 1995 u.ö., Orłowski, 2004 u.ö.) als Bausteine der Analyse historischer Germanismen als lexikalischer Erinnerungsorte herausgestellt werden. Da sich die von Harnisch (2017) vorgeschlagene Dichotomie von Denotat und Konnotat in der Praxis kaum durchhalten lässt, wird in Abschn. 4 – vor dem Hintergrund der empirischen Forschungsergebnisse zu historischen Germanismen, insbesondere ihrer unterschiedlichen diskursiven Aneignung in den Nehmersprachen – eine flexiblere framesemantische Konzeption vorgeschlagen, mit deren Hilfe sich linguistisch modellieren lässt, wie Lexik als Erinnerungsstabilisator die „Ordnung sozialer Gedächtnisse“ (Feilke, 2014: 104) herzustellen hilft, im fortgesetzten Gebrauch außerhalb mnemonischer Kontexte aber auch einer De-Mnemonisierung und ggf. De-Onymisierung unterliegen kann.

Wie zusammenfassend in Abschn. 5 gezeigt wird, kann von einem nicht nur einzelsprachlichen, sondern zumindest rudimentär auch übereinzelsprachlichen Common Sense im Sinne von Feilke (ebd.) gesprochen werden, insofern nämlich translinguale Lexik als Menge transnationaler Erinnerungsorte zur perpetuierenden Aktualisierung geteilter Erinnerung beiträgt. Daraus wiederum ergibt sich ein vielversprechendes interdisziplinäres Forschungsprogramm, bei dem (Lehnwort-)Lexikologie, historische Erinnerungsforschung, historische Stereotypenforschung und Diskursanalyse zusammenwirken.

2 Erinnerungsorte: die historische Referenzliteratur

Der Gedanke, dass sprachliche Ausdrücke als Erinnerungsorte betrachtet werden können, geht schon auf Pierre Nora zurück, der in der Einleitung zu Les lieux de mémoire (Nora, 1984) diese Möglichkeit erwähnt. Sprachliche Zitate oder Kategorien finden sich in Les lieux de mémoire allerdings nur selten und zufällig als Lemmata; der Slogan „Liberté, égalité, fraternité“ ist eines der wenigen Beispiele, ein anderes sind Straßennamen („Le nom des rues“). Besondere Überlegungen zum Status sprachlicher Ausdrücke als Erinnerungsorte werden von Nora ebenso wenig angestellt wie von dem wohl wichtigsten Vermittler seines Ansatzes im deutschen Sprachraum, Etienne François. In dessen Aufsatz über „Begriffe als Erinnerungsorte“ (François, 2019) fließen Real-, Begriffs-, Sprach- und Erinnerungsgeschichte ineinander, wobei Wortartwechsel und/oder semantischer Wandel (Bedeutungsverengung, Pejoration) am Beispiel résistant und collaborateur behandelt und diesen beiden Begriffen (sowie nebenbei auch Shoah) der Status von Erinnerungsorten zugeschrieben wird. Explizit thematisiert wird dieser Status jedoch nicht.

Den eher metaphorischen als analytisch-terminologischen Charakter der Kategorie Erinnerungsort betonen François und Schulze (2001: 18) in der Einleitung zu ihrem dreibändigen Standardwerk Deutsche Erinnerungsorte. Dort definieren sie Erinnerungsorte als

langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert.

Im Zusammenhang mit der ebenfalls schon von Nora (1984) eingeführten Unterscheidung zwischen materiellen und immateriellen Erinnerungsorten erwähnen François und Schulze (2001: 18) „Begriffe“ als einen Typ immaterieller Erinnerungsorte. Inwiefern „Begriff“ hier terminologisch zu verstehen ist und ob die Autoren an bestimmte Lemmata denken, bleibt jedoch offen. Immerhin finden sich in den Deutschen Erinnerungsorten mehrere als Zitat markierte Lemmata wie „Am deutschen Wesen …“, „Frisch, fromm, fröhlich, frei“ und „Wissen ist Macht“, die mehr oder weniger an das oben genannte „Liberté, égalité, fraternité“ erinnern. Auch einige Buchtitel wie etwa De l’Allemagne kommen vor.

Anders gehen die Europäischen Erinnerungsorte (den Boer et al., Hrsg., 2012) vor. Sie enthalten eine eigene Sektion „Metaphern, Zitate, Schlagworte“ (ebd.: 565–624) mit acht Lemmata: „Cogito ergo sum“, „Liberté, Egalité, Fraternité“, „Das Europäische Haus“, „Europas Mitte“, „Grenze Ural“, „Balkan“, „Gleichgewicht der Kräfte“, „Konzert der Mächte“. Deren Status als Erinnerungsorte wird hier jedoch ebenso wenig thematisiert wie in den einbändigen Erinnerungsorten in Ostmitteleuropa (Weber et al., Hrsg., 2011), wo ein anderer Typ immaterieller Erinnerungsorte zum Zuge kommt, nämlich Jahreszahlen. Unter der Überschrift „Historische Umbrüche im geteilten Gedächtnis“ werden 1945, 1956, 1968 und 1989 behandelt (ebd.: 287–367).

Stärker theoriegeleitet verfahren die binationalen Deutsch-polnischen Erinnerungsorte (Hahn & Traba, Hrsg., 2012–2015), indem sie fordern, die Kategorie,Erinnerungsort‘ eng an realhistorische Phänomene zu binden und klar von Kategorien wie ‚Mythos‘ und ‚Stereotyp‘ abzugrenzen (Hahn & Traba, 2012: 42; zur terminologischen Differenzierung in diesem Bereich siehe Hahn, 2008; Pleitner, 2001: 124–128; Konrad, 2006: 124–131). In der Aufzählung möglicher Typen von Erinnerungsorten durch die Herausgeber (Hahn & Traba, 2012: 20) werden Begriffe, Schlagworte, Slogans usw. nicht erwähnt. Demgemäß enthalten die Deutsch-polnischen Erinnerungsorte zwar Lemmata wie Schlacht bei Tannenberg, Kulturkampf (als historische Epoche), Rosa Luxemburg, Bromberger Blutsonntag und Oder-Neiße-Grenze sowie (passend zur bilateral-beziehungsgeschichtlichen Perspektive) auch Schlagwortpaare wie verlorene Heimat/wiedergewonnene Gebiete, aber keine zitatförmigen Lemmata.

Gegen die realistisch-normative, teils wohl auch der lexikographischen Praktikabilität geschuldete Position von Hahn und Traba wendet sich der flexiblere, funktionsorientierte Ansatz von Orłowski (2013). Nicht ganz zufällig formuliert Orłowski seine Position im Reflexionsband zu den Deutsch-polnischen Erinnerungsorten, und zwar anhand historischer „Stereotype der langen Dauer“ wie etwa polnische Wirtschaft, deren Anerkennung als Erinnerungsorte er verlangt. Zur Begründung verweist er u. a. auf die Fähigkeit solcher Stereotype, Diskurse zu strukturieren und so eine erhebliche realhistorische Wirksamkeit zu entfalten (ebd.: 114), wobei er speziell das Fehlen des historischen Stereotyps polnische Wirtschaft als Lemma in den Deutsch-polnischen Erinnerungsorten beklagt (ebd.: 111–118). Angesichts der funktionalen Symmetrie gegenseitiger Heterostereotype in der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte (Wippermann, 1996) ließe sich diese Argumentation leicht um z. B. Drang nach Osten erweitern.

3 Zwischen Sprach- und Geschichtswissenschaft

3.1 Lexikographie, Rhetorik, Semiotik

Ebenso wenig wie in der historischen Referenzliteratur wird in dem von Linguisten erarbeiteten Wörterbuch der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ (Eitz & Stötzel, 2007) über den Zusammenhang zwischen Sprache und Erinnerung nachgedacht. Anlass dafür hätte es ausreichend gegeben, soll dieses Werk doch „darüber auf(klären), wie […] im öffentlichen Sprachgebrauch [der Bundesrepublik] auf Ereignisse, Institutionen, Personen und auf den Sprachgebrauch zwischen 1933 und 1945 Bezug genommen wird“ (ebd.: 1). Unter den Lemmata finden sich naturgemäß auch einige, die uns in Nachbarsprachen des Deutschen als historische Germanismen begegnen wie z. B. Anschluss und Endlösung (ebd.: 10–24 bzw. 163–185). Insgesamt gilt jedoch, was ein rezensierender Historiker schon mit Blick auf das zuvor von denselben Autoren herausgegebene Zeitgeschichtliche Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache feststellte: „Sprachbezogene Reflexionen sucht man […] vergebens“ (Dipper, 2003: 2).

Mehr verspricht der Titel von Reisigls Aufsatz „Erinnerungsorte aus linguistischer und rhetorischer Sicht“ (Reisigl, 2009). Jedoch spielt darin gerade die linguistische Perspektive kaum eine Rolle. Vielmehr kritisiert Reisigl den Begriff Erinnerungsort aus Sicht der klassischen Rhetorik, indem er ein „rezeptive[s] Missverständnis der rhetorischen Mnemotechnik“ konstatiert, die zu einer Vermischung der Kategorien topos/locus einerseits und imago andererseits geführt habe (ebd.: 118). Die in dem vorliegenden Aufsatz behandelten lexikalischen Erinnerungsorte würden gemäß Reisigls Gegenvorschlag wohl gar nicht zu den Erinnerungsorten gehören, insofern diese Kategorie nämlich materiellen Referenten im Sinne „räumlich-geographische[r] Örtlichkeiten“, die erinnert werden, vorbehalten sein soll (ebd.: 125, 136 f.); vielmehr würden sie zumindest teilweise unter „Erinnerungsgeschehen“ (ebd.: 138) fallen.

Da laut der auf ontologischen Kategorien fußenden Taxonomie Reisigls auch z. B. Personen („Erinnerungsfiguren/-gestalten“, ebd.: 137) nicht zu den Erinnerungsorten gezählt werden (ebd.: 134 am Beispiel Goethes), definiert Reisigl die Kategorie Erinnerungsort noch erheblich enger als Hahn und Traba (2012) in den Deutsch-polnischen Erinnerungsorten. „Stereotype der langen Dauer“ à la Orłowski hätten darin wohl erst recht keinen Platz. Bei Reisigl würden sie vielmehr unter die „Erinnerungstopoi“ (bzw. dt. „Erinnerungsfundplätze“, 2009: 125, 138 f.) fallen, also unter jene „kognitiven topischen Entitäten […], die eine mnemonische und sehr häufig argumentativ-persuasive (einschließlich symbolisch identifikationsheischende) Funktion erfüllen“ (ebd.: 138, sehr ähnlich ebd.: 125).

Wenn im vorliegenden Beitrag ein anderer Weg gewählt und an dem Begriff Erinnerungsort festgehalten wird, dann u. a. deshalb, weil sich aus der von Reisigl (ebd.: 124 f.) kritisierten konzeptuellen Vermischung des erinnerten Objekts, des erinnerungstragenden Zeichens und der vom Zeichen hervorgerufenen Erinnerung in dem Begriff Erinnerungsort (als vermeintliches Negativbeispiel zitiert Reisigl ebd. François & Schulze, 2001: 17 f.) durchaus auch andere Schlüsse ziehen lassen. Statt auf eine Schwäche verweist Reisigls Kritik (die ja von nichts anderem handelt als vom klassischen semiotischen Dreieck) gerade auf eine Stärke der Kategorie Erinnerungsort, sofern man Erinnerungsorte nämlich konsequent semiotisch auffasst. Hierfür zu werben, ist der Zweck des Begriffs mnemonic signifier, der – interessanterweise von Historikern (Feindt et al., 2014a: 31) – als Alternative zu Erinnerungsort vorgeschlagen worden ist.

Wenn zudem Erinnerungen „immer Bewusstseinsphänomene, […] kognitive Operationen“ sind (Reisigl, 2009: 122) und Erinnern „als prozessuale Etablierung eines kognitiven Erlebnisbereichs eigener Art zu verstehen (ist), der den kognitiven Bereich eben um die memorialen Prozesse erweitert“ (ebd.), dann scheint die Annahme materieller und immaterieller Erinnerungsorte à la Nora sinnvoller als Reisigls dualistische Trennung zwischen rein materiellen Erinnerungsorten und rein kognitiven Erinnerungstopoi – was immaterielle Erinnerungsorte selbstverständlich nicht daran hindert, im rhetorischen Kontext als argumentativ-persuasive, teils identifikationsheischende Topoi zu fungieren. Indem die Linguistik untersucht, aufgrund welcher semantischen Voraussetzungen lexikalische Erinnerungsorte als sprachliche Zeichen dies leisten, trägt sie dazu bei, das medientheoretische Defizit der lieux de mémoire-Tradition (P. Schmidt, 2004) zu beheben.

3.2 Linguistik: einzelsprachübergreifende Perspektiven

Ganz anders als Reisigl geht Harnisch (2017) vor, indem er – Noras Unterscheidung zwischen materiellen und immateriellen Erinnerungsorten aufgreifend – unumwunden feststellt: „Immaterielle Erinnerungsorte sprachlicher Art können uns in einer großen Spannweite entgegentreten, etwa textuell, lexikalisch oder pragmatisch“ (ebd.: 49). Als Beispiele für „textuelle“ Erinnerungsorte im ostmitteleuropäischen Kontext nennt Harnisch Täter- und Opfernarrative wie etwa bezüglich des Münchener Abkommens von 1938 und der Vertreibung der Deutschen ab 1945 (ebd.). Terminologisch wäre es daher wohl treffender, von „narrativen“ Erinnerungsorten zu sprechen als von „textuellen“. Für das in der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung vorhandene Interesse an Narration und Narrativität (Reil, 2018: 43-45; Subotic & Steele, 2021) ist eine solche transtextuelle Verortung von Erinnerungsorten unmittelbar anschlussfähig.

Harnischs Ansatz hat nach eigener Aussage (2017: 49, Fn. 1) eine Affinität zu Linke (2005), die vom „Gedächtnispotenzial“ von Sprache spricht und damit v. a. die Gebrauchskontexte indizierende, Generationen teils vereinende, teils trennende Funktion sprachlicher Formen meint (ebd.: 76–80); der Entwurf einer „kulturanalytischen Linguistik“ (Kämper, 2015) setzt diese Traditionslinie mit handlungstheoretischer Akzentuierung fort. Außerdem steht Harnischs Ansatz der sog. „kultursensitiven“ Linguistik nahe, die anhand von Leitbegriffen wie „sprachliches Weltbild“ (Bartmiński, 2012) bzw. „diskursives Weltbild“ (Czachur, 2011) die einzelsprachliche Verfasstheit und Manifestation des (individuellen wie sozialen) Gedächtnisses sowie dessen ständige Re-Konstitution im Kommunikationsprozess zu erfassen sucht. Der Unterschied zu Harnisch liegt vor allem in der Perspektive: Während sich Harnisch für den jeweils lexemspezifischen Wissens- und Meinungsgehalt interessiert, geht es der kultursensitiven Linguistik um die Systematik des Wissens und Meinens, das sich im Zeichengebrauch manifestiert.

Mit Teilen der kultursensitiven Linguistik (u. a. Czachur, 2011) hat Harnisch den einzelsprachübergreifenden Ansatz gemein, wobei ihn jedoch vor allem der Austausch von Lehnwörtern interessiert. Wechselseitige Entlehnungen wie dt. Kren (< tschech. křen) und tschech. švagr (< dt. Schwager) erinnern Harnisch zufolge an „den Sprach- und Kulturkontakt, in dem dieser Austausch möglich war, zumal wenn solche Wort-Herkünfte gewusst werden“ (2017: 49). Allerdings ist ein solches metasprachliches Expertenwissen kaum vergleichbar mit dem alltäglichen, historisch-enzyklopädischen Bedeutungswissen und ideologisch gefärbten ‚Meinen‘, auf das es Harnisch (wie auch der kultursensitiven Linguistik) ansonsten ankommt.

Wichtiger als die Etymologie vollintegrierter Lehnwörter dürfte die Wahrnehmung un- oder nur teilintegrierter Entlehnungen in ihren nehmersprachlichen Verwendungskontexten sein, da hierbei der indexikalische Aspekt der Zeichenverwendung salient wird (siehe zur Indexikalität im Zusammenhang mit Sprache als „Erinnerungsmittel“ Feilke, 2014: 91 f.). Buchtitel sind dafür ein einschlägiges Beispiel. So ist etwa in einem englischsprachigen Titel wie Hans Frank: Lebensraum and the Holocaust (Housden, 2003) der historische Germanismus Lebensraum schon durch sein Auftreten in Nachbarschaft zu Holocaust als ein auf die NS-Zeit verweisender Erinnerungsort markiert – und zwar auch und gerade dann, wenn seine alltagssprachliche Bedeutung (etwa als Synonym von Biotop) dem englischsprachigen Leser unbekannt ist. Eine sprachvergleichende Gegenprobe hierzu liefern Fälle, wo ein historischer Germanismus nur in bestimmten Sprachen als Erinnerungsort fungiert wie etwa bei Kulturkampf, das diese Rolle z. B. im Polnischen hat, nicht aber im Englischen (Jaworska & Leuschner, 2018, Näheres unten in Abschn. 4.3).

3.3 Versuch einer Synthese

Damit sind wir wieder bei der diskursiven Dimension angelangt, die es mit Blick auf Harnischs Ansatz hervorzuheben galt. Sie ermöglicht eine doppelte Anschlussfähigkeit: zum einen (bei allen Einwänden) zur rhetorischen Perspektive Reisigls, zum anderen zur Historischen Stereotypenforschung, wie sie vor allem von Hahn (u. a. 1995, 2008) vertreten wird. Hahn – der schon erwähnte Mitherausgeber der Deutsch-polnischen Erinnerungsorte – schließt aus der Kontextgebundenheit von Stereotypen nämlich, dass eine „historische Diskursanalyse“ die geeignetste Methode zur Erforschung von Stereotypen sei (2008: 242). Passend dazu hatte er zuvor (Hahn, 1995) bereits die beiden komplementären Grundfragen der Historischen Stereotypenforschung herausgearbeitet: nach dem historischen Gehalt von Stereotypen („Geschichte im Stereotyp“) und nach der realhistorischen Rückwirkung von Stereotypen („das Stereotyp in der Geschichte“). Wenn Orłowski (2013), wie erwähnt, die realhistorische Wirksamkeit historischer Stereotype ins Feld führt, um am Beispiel von polnische Wirtschaft deren Berücksichtigung in den Deutsch-polnischen Erinnerungsorten einzufordern, vertritt er implizit Hahns eigene Konzeption, die übrigens zeitgleich von Leuschner (2013) anhand von Drang nach Osten durchgespielt wurde.

Aus sprachwissenschaftlicher Sicht lassen sich die Gedankengänge dieser Autoren für die Frage nach dem „Eigensinn des Mediums Sprache“ (Jäger, 2005) in Hinblick auf Erinnerungsorte fruchtbar machen. Den letzten noch fehlenden Hinweis gibt der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen, der mit Blick auf die diskursive Weitergabe von Erinnerung die Kategorie „narrative Abbreviatur“ einführt (1994: 11 f., auch zitiert bei Orłowski, 2004: 66 f.; von „Erinnerungsorten“ spricht Rüsen hier nicht, erst in Rüsen, 2013: 225 ist beiläufig von „Orten der Erinnerung“ die Rede). Narrative Abbreviaturen sind laut Rüsen „in Sprache eingelagerte Geschichten“, die dank der Anlagerung an das betreffende sprachliche Zeichen nicht mehr ausführlich erzählt zu werden brauchen. Vielmehr werden sie (um es linguistisch auszudrücken) als tatsächlicher oder vermeintlicher Teil des jeweiligen Common Ground prä-supponiert, d. h. im Diskurs „als schon erzählte [Geschichten] aufgerufen“, um der „schnellen Verständigung über historische Voraussetzungen, Hintergründe, Erklärungen und Implikationen einer Aussage“ zu dienen (Rüsen, 1994: 10 f.). Treffend und eingängig bezeichnet Rüsen narrative Abbreviaturen deshalb auch als „Ultrakurzgeschichten“ (ebd.: 11).

Noch deutlicher als an Rüsens Beispielen Bismarck, Bastille und Auschwitz (ebd.: 10; zum „Erinnerungspotenzial“ von Bismarck, Einstein und Auschwitz auch Kämper, 2015: 176–178) lässt sich das Gemeinte an Lexemen verdeutlichen, deren semantischer Frame von vornherein temporal strukturiert ist. Prädestiniert hierfür sind deverbale Substantive wie Anschluss (< anschließen), Drang (< drängen) und -lösung (< lösen) in Endlösung, darüber hinaus aber auch z. B. -krieg, das mit Blitz- als Determinans einen Krieg von besonders kurzer Dauer und entsprechendem Überraschungseffekt bezeichnet, und auch -nacht in dem von Rüsen erwähnten Beispiel Reichskristallnacht (1994: 217; siehe hierzu auch Eitz & Stötzel, 2007: 523–531); selbst das Kompositum Lebensraum mit dem semantisch an sich nicht-temporal strukturierten Determinatum -raum kann in Nachbarschaft des Praxonyms Holocaust zur Abbreviatur für eine dynamische, brutale Eroberungen und Genozid rechtfertigende Ideologie werden (siehe oben zum Titel von Housden, 2003). Diskursanalytisch betrachtet schlägt die Kategorie narrative Abbreviatur somit die Brücke zwischen lexikalischer und (trans)textueller Semantik: Je nach Bedarf können historische Ereignisse im Diskurs ultra-kurz mittels Einzellexemen (à la Rüsen) oder explizit auf Textebene und darüber hinaus (à la Harnisch) narrativ erinnert werden – mit vielen Zwischenstufen, die uns hier nicht im Einzelnen zu beschäftigen brauchen.

Für weiterführende Überlegungen anschlussfähig sind die Ansätze Harnischs, Hahns, Orłowskis und Leuschners auch insofern, als alle vier Autoren ähnliche Vorstellungen von der semantischen Gesamtstruktur lexikalischer Erinnerungsorte bzw. historischer Stereotype entwickeln. Schaff (1980: 109) folgend spricht Hahn davon, dass Stereotype an Begriffen „schmarotzen“, indem sie deren referenzielle Inhalte ideologisch-emotional aufladen wie etwa im Fall von Jude (Hahn, 2008: 241); sehr Ähnliches meint Harnisch, wenn er sagt, dass auf dem historischen Denotat lexikalischer Erinnerungsorte ein Konnotat ideologisch grundierten „Meinen(s)“ aufsetze (2017: 54). Als Beispiel verweist Harnisch (ebd.: 50, Fn. 2) auf Drang nach Osten, das Leuschner als „Index für ideologische Aufladung“ bezeichnet hatte (Leuschner, 2013: 285, vgl. Harnisch, 2017: 50, Fn. 2), ferner auf Begriffspaare wie tschech. odsun und dt. Vertreibung (ebd.: 54 f.) sowie auf Toponymdubletten im deutsch-slawischen Kontaktbereich mit ihren potenziell konfliktträchtigen illokutionären und perlokutionären Verwendungsdimensionen (ebd.: 53), etwa wenn ostentativ dt. Eger für tschech. Cheb gebraucht wird (ebd.: 56). Nach allem oben Gesagten ist leicht zu erkennen, wie sich die genannten Ansätze zusammenführen lassen, nämlich indem als Konnotate historischer Germanismen – insoweit diese als lexikalische Erinnerungsorte fungieren, also nicht de-mnemonisiert sind (siehe hierzu v. a. Abschn. 4.3) – historische Stereotype angenommen werden. Dies liegt nicht zuletzt bei Drang nach Osten nahe, das ja auch schon von Hahn selbst (1995: 199 f., 2008: 247 f.) als historisches Stereotyp eingeordnet wird.

4 Historische Germanismen als Fallstudie

4.1 Konstruktionen, Frames, Diskurse

Wenn wir uns im Folgenden der Funktionsweise entlehnter sprachlicher Ausdrücke mit einerseits narrativ-abbreviierendem, andererseits historisch-stereotypisierendem Gehalt aus linguistisch-empirischer Sicht zuwenden, weichen wir in einem linguistisch wichtigen Punkt von der Konzeption Harnischs ab, nämlich indem wir auf die (heuristisch gleichwohl hilfreiche) Unterscheidung zwischen Denotat und Konnotat verzichten. Stattdessen wählen wir einen von Konstruktionsgrammatik und Framesemantik geprägten, kognitiv fundierten Ansatz, der das in den betreffenden Ausdrücken sprachlich gebundene Wissen in den Mittelpunkt rückt und hier zunächst anhand von Drang nach Osten demonstriert werden soll.

Drang nach Osten gehört zu jenen deutschen Ausdrücken, die in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa v. a. in der Sprache der Medien weithin geläufig sind (Oschlies, 2000). Er verbalisiert eine pessimistische Sicht der Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn, der zufolge die Deutschen im Laufe ihrer ganzen Geschichte seit dem Mittelalter (mit einem besonderen Schwerpunkt im 19. und 20. Jahrhundert) eine kollektivpsychologische Disposition gezeigt haben, ihren Einfluss und ihr Siedlungsgebiet ostwärts auszudehnen (Lemberg, 2003). Als Makroframe für die historische Rolle Deutschlands in Ostmitteleuropa (vgl. Orłowski, 2004: 148–156 zu polnische Wirtschaft als „Makrodefinition“ des Polenbilds in Deutschland) indiziert Drang nach Osten ein dauerhaftes historisches Verlaufsmuster mit Täter-Opfer-Dichotomie, das in der Erinnerung für die östlichen Nachbarn entsprechend identitätsstiftend und ggf. handlungsleitend wirken kann bzw. soll. Diese Konzeption kann an den lexikologischen Ansatz der klassischen Politolinguistik (Dieckmann, 1975) anknüpfen, dem zufolge Drang nach Osten ein typisches (in diesem Fall: phrasenförmiges) Stigmawort ist, das einem spezifischen Kollektiv eine negative Evaluation zuordnet. Im Sinne konstruktionsgrammatischet und framesemantischer Ansätze (u. a. Ziem, 2008) betont sie allerdings stärker das Zusammenspiel zwischen sprachlicher und kognitiver Stereotypisierung. Nach konstruktionsgrammatischer Auffassung bildet ein Syntagma genau dann eine Konstruktion, d. h. ein eigenständiges Form-Bedeutungs-Paar im jeweiligen einzelsprachlichen Konstruktikon, wenn es Eigenschaften hat, die aufgrund seiner Komponenten oder anderer, bereits etablierter Konstruktionen nicht strikt vorhersagbar sind (Ziem & Lasch, 2013: 9–17). Dies ist bei Drang nach Osten der Fall, vor allem dank Osten, das im Deutschen eine ersatzkoloniale „Ostmythik“ indiziert (Lemberg, 1985: 79). Damit erweist sich Drang nach Osten als eine typische Kollostruktion, d. h. als eine stereotypisierte Konfiguration von Kollexemen (Stefanowitsch, 2013), der aus framesemantischer Sicht eine im kollektiven Wissen der Sprachgemeinschaft verankerte Füllung seiner spezifischen Leerstellen („slots“) entspricht. Diese erlaubt es Drang nach Osten, als Erinnerungstopos im Sinne Reisigls zu fungieren, ohne die Besetzung der Experiencer-/Agensstelle explizieren zu müssen. Tatsächlich bleibt die Besetzung gewöhnlich implizit, es sei denn, es erfolgt kontextbezogen eine explizite Attribuierung mittels deutsche oder der Deutschen (Leuschner, 2013: 282).

Der zweite Traditionsstrang, der in letzter Zeit in die Erforschung historischer Germanismen Einzug gehalten hat und deren Funktion als Erinnerungsorte erhellt, ist die Diskursanalyse. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht u. a. die altbekannte Tatsache, dass Drang nach Osten überwiegend in nicht-deutschsprachigen Quellen verwendet wird. Meyer (1996: 110) schätzt ein Verhältnis von 1:10 für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg; eine Vergleichsschätzung von Leuschner und Schröter (2015: 170) aufgrund gegenwartssprachlicher Referenzkorpora ergab ein ähnliches Zahlenverhältnis für die Zeit nach 1990. Dies ist umso bemerkenswerter, als im Deutschen zahlreiche Abwandlungen des Ausdrucks Drang nach Osten vorkommen, die die stereotypisierte Kollexem- und Framekonfiguration Drang nach Osten als Kontrastfolie für Rekonfigurationen wie „Drang der Deutschen nach Süden/nach Einheit/nach Erkenntnis“, „Drang der Deutschen in die Fremde“, „Drang der Deutschen, sich und andere unaufhörlich zu erziehen“, „Drang der deutschen Unternehmen, im Ausland zu investieren“ usw. nutzen (Leuschner, 2013: 282). Regelmäßig ist zudem von einem „russischen Drang nach Westen“ und dergleichen die Rede (ebd.: 283).

In qualitativer Hinsicht lässt sich dank der diskursanalytischen Perspektive u. a. die diskursive Aneignung (engl. „discursive appropriation“) des historischen Schlagworts Drang nach Osten mittels Transposition in neue zeithistorische Diskurskontexte ab 1990 verfolgen (Leuschner & Schröter, 2015: 165–172; zu Schröter & Leuschner, 2013 siehe weiter unten). So wurde im Vorfeld des EU-Beitritts Polens und anderer Staaten 2004 die EU-Osterweiterung oft als eine Fortsetzung des deutschen Drangs nach Osten mit anderen Mitteln darstellt; auch multinationale Firmen wurden und werden in journalistischen Texten gelegentlich als Agens eines erneuerten Drangs nach Osten identifiziert. In solchen Fällen dient der Drang nach Osten als Erinnerungstopos dazu, eine Gegenwartssituation im doppelten Sinne zu ‚framen‘ und durch Anschluss an das präsupponierte historische Stereotyp negativ zu evaluieren (Leuschner & Schröter, 2015: 170–172).

Dabei machen sich allerdings auch Abnutzungseffekte bemerkbar, die dazu führen, dass sich die negative Evaluation mit zunehmender Entfernung von der ursprünglichen Konfiguration immer mehr verliert (ebd.: 172). Ein wichtiger Indikator solcher De- und Rekontextualisierungen sind die typischen Kollokationsmuster von Drang nach Osten, nicht zuletzt aus sprachvergleichender Sicht. So wird Drang nach Osten im polnischen Korpus oft gemeinsam mit anderen, ebenfalls deutschsprachigen Schlagwörtern wie etwa Lebensraum verwendet, und zwar fast immer existenzpräsupponierend und ohne Distanzierungssignale (Leuschner & Schröter, 2015: 168). In den deutschsprachigen Daten finden sich gelegentlich Parallelen, etwa wenn Drang nach Osten (irrtümlich) als Nazi-Jargon behandelt wird. Selbst dann schreiben deutschsprachige Autoren den Drang nach Osten gewöhnlich aber nicht den Deutschen insgesamt zu, sondern den Nationalsozialisten oder einzelnen Individuen; Kollokationen wie „unser Drang nach Osten“ fehlen völlig, während Kollokationen wie „Niemcy z ich Drang nach Osten“ (,die Deutschen mit ihrem Drang nach Osten‘) in den polnischen Daten gang und gäbe sind (ebd.: 171).

4.2 Methodologie

Zu den wichtigsten Bindegliedern im angestrebten Zusammenwirken von Kontaktlinguistik und Erinnerungsforschung gehört es, dass Entlehnungen nicht primär als Teile des Lexikons betrachtet werden (so z. B. noch Pfeffer & Cannon, 1994; Stanforth, 1996), sondern als Teile von Diskursen. Ihre graduelle, von Fall zu Fall unterschiedliche Integration in nehmersprachliche Diskurse war Gegenstand einer Pionierstudie, mit der Schröter und Leuschner (2013) mit Blick auf das Englische – noch ohne Bezug zu Themen wie Erinnerung und Erinnerungsorte – vier historische Germanismen untersuchten, und zwar neben der älteren Entlehnung Drang nach Osten auch noch die mit der NS-Zeit assoziierten Germanismen Anschluss, Blitzkrieg und Endlösung.

Im Rahmen dieses Ansatzes entwickelten Schröter und Leuschner eine Skala diskursiver Appropriierungsgrade, die anhand korpuslinguistisch bestimmter Gebrauchskontexte definiert werden. Dabei unterscheiden Schröter und Leuschner (2013: 155) vier entsprechende Verwendungsweisen: die historische, die aktualisierende, die erweiternde und die transponierende. Grundlegend für die historische Verwendungsweise ist die mnemonische Funktion des jeweiligen Germanismus als Index für das betreffende historische Phänomen im Rahmen der deutschen Geschichte. Der aktualisierende, der erweiternde und der transponierende Gebrauch stehen dann für die progressive De- und Rekontextualisierung des Germanismus in weiter abliegende Diskurse, wobei auch zunehmend dessen mnemonische Funktion als Erinnerungsort in den Hintergrund geraten kann (aber nicht muss). Klassische Indikatoren einer anfänglich geringen systemischen Integration wie das Beibehalten der Initialmajuskel und die Hinzufügung einer nehmersprachlichen Übersetzung in Klammern und/oder von Anführungsstrichen werden ins Gesamtbild einbezogen.

Als Quellen verwendeten Schröter und Leuschner (2013) eine Reihe überregionale Zeitungen Großbritanniens, die in der Datenbank LexisNexis zugänglich sind; je vier Qualitäts- und Boulevardzeitungen samt ihren Sonntagsausgaben wurden ausgewählt und auf das Vorkommen der vier Germanismen untersucht. Die zur Verfügung stehenden Zeitabschnitte variierten dabei von durchschnittlich ca. 22 Jahren bei Qualitätszeitungen (z. B. The Times ab, 1985) bis zu ca. 15 Jahren bei Boulevardzeitungen (z. B. The Daily Mail ab, 1992). Insgesamt wurden so 2316 Artikel, in denen Blitzkrieg vorkam, gefunden und heruntergeladen (gut 2 Mio. laufende Wörter), 955 Artikel mit Anschluss (gut 1 Mio. laufende Wörter), 34 Artikel mit Drang nach Osten und 22 Artikel mit Endlösung. Dabei wurde jeweils auf Einschluss von Groß- und Kleinschreibung, von <ss/ß> und <o/ö> sowie von Umlauten und ihren Auflösungen (<oe> in Endloesung) geachtet.

Wie sich zeigt, sind historische Germanismen in Qualitätszeitungen weit geläufiger als in Boulevardblättern, wo es aus inhaltlichen und stilistischen Gründen weniger Gelegenheit gibt, eine solche Lexik zu verwenden (Schröter & Leuschner, 2013: 160). Allerdings gibt es auch hier Divergenzen: So kommt Blitzkrieg selbst in Boulevardzeitungen relativ häufig vor, während die Vorkommenszahlen von Drang nach Osten und Endlösung wesentlich geringer waren; diese beiden Germanismen konnten Schröter und Leuschner daher nur qualitativ, nicht quantitativ analysieren (ebd.: 159–162). Im Falle von Blitzkrieg und Anschluss wurden die heruntergeladenen Texte mit dem Korpusanalysetool Sketchengine auf Kollokationsmuster im Zusammenhang mit Anschluss bzw. Blitzkrieg durchsucht. Dabei wurden Kookkurrenzen bis zur 5. Position links und rechts des Suchworts berücksichtigt und die Kollokationsstärken mittels log likelihood berechnet, sodass Kollokatoren ausschieden, die auch anderswo im Korpus oft vorkommen wie etwa der Artikel the.

4.3 Von diskursiver Aneignung zu De-Mnemonisierung

Die Einzelanalyse weist Endlösung als den am wenigsten appropriierten der vier Germanismen aus (Schröter & Leuschner, 2013: 162 f.). Endlösung wird ausschließlich historisch und nur in spezifischen, auf die Vergangenheit referierenden Genres verwendet, nämlich in Buchbesprechungen, Nachrufen, Essays über historische Ereignisse oder Persönlichkeiten usw. Dabei sind 20 der 22 Treffer mit der Übersetzung „final solution“ versehen und sind auch klare Belege für die Rekontextualisierung von final solution überliefert, etwa wenn der damalige britische Außenminister Robin Cook 1999 das Vorgehen Serbiens gegen Albaner im Kosovo als „Milosevic‘s final solution“ umschrieb. Offenbar haben britische Journalisten größeren Respekt vor Endlösung als vor final solution, was dessen Potenzial als Topos historischer Vergleiche angeht, und sollte Schröter und Leuschners semasiologischer Ansatz folglich durch eine onomasiologische Perspektive ergänzt werden, um ein vollständigeres Bild zu erzielen.

Etwas häufiger als Endlösung wird mit 34 Treffern Drang nach Osten verwendet. Drang nach Osten wird von englischsprachigen Journalisten offenbar auch für deutlich bekannter gehalten, denn nur vier Treffer sind mit einer Übersetzung versehen (,push/drive/expansion to the East‘). Obwohl Drang nach Osten nie zum Nazi-Jargon gehörte, wird es im Englischen (wie auch im Deutschen, Schröter & Leuschner, 2013: 163 f.) gern mit der Nazi-Zeit in Verbindung gebracht. Daneben gibt es aber auch aktualisierende und erweiternde Gebrauchsweisen, unter denen die aktualisierende Verwendung im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung in Großbritannien mit acht Belegen (alle zwischen 1989 und 1994 datiert) hervorsticht; in diesen Fällen dienen Attribute wie new/next/reproduced/updating/renewing als lexikalische Indikatoren. Erweiternde Verwendungsweisen beziehen den Drang auf andere Staaten oder Instanzen (USA, EU, die European Bank for Reconstruction and Development) und sogar auf die englische Sprache (ebd.: 164).

Weit häufiger als die vorigen beiden Germanismen wird Anschluss verwendet, und zwar überwiegend historisch, wie Kollokatoren wie 1938 (205), Austria (171), Nazi (57), Nazis (23), Germany (73), Hitler (73) usw. zeigen (ebd.: 165 f.). Gelegentlich finden sich in der britischen Presse um 1990 Wiedergaben und Echos der innerdeutschen Debatte um den Charakter der Wiedervereinigung (zu dieser Eitz & Stötzel, 2007: 18–23), etwa wenn über die Bezeichnungskonkurrenz zwischen Beitritt und Anschluss berichtet wird. In diesen Fällen liegt Aktualisierung vor; in anderen Fällen kommt es zur Erweiterung mit weiterhin mnemonischer Funktion, etwa wenn die britische Übergabe Hongkongs an China als „Anschluss“ bezeichnet wird. Transpositionen in andere Diskurse sind seltene Einzelfälle ohne erkennbares Muster.

Der frequenteste und bei weitem am stärksten appropriierte der vier historischen Germanismen ist Blitzkrieg (Schröter & Leuschner, 2013: 166–168). Auf graphemische Integration deutet die mehrheitliche Schreibung mit <b> statt <B> hin. Dennoch wird auch Blitzkrieg überwiegend in historischen Diskurskontexten verwendet; typische Kollokatoren sind deshalb German (141 Treffer), 1940 (90 Treffer), France (64 Treffer) usw. Erweiternde Gebrauchsweisen gibt es bei Blitzkrieg erwartbarerweise mit Bezug auf neuere Kriege, u. a. bezüglich der Balkankriege der 1990er Jahre (mit Kollokatoren wie Croatian, Croatia, Bosnia, Serbs), vor allem aber wiederum hinsichtlich der Golfkriege der 1990er Jahre (mit Kollokatoren wie Gulf, Iraq, Saddam usw.). Wie stets ist eine Nachkontrolle der Belege notwendig, etwa bei einem Beleg wie „ruthlessness of a Nazi blitzkrieg“, in dem der Kollokator Nazi keineswegs einen direkten Bezug auf den Zweiten Weltkrieg indiziert, sondern vielmehr eine Charakterisierung der Besetzung Kuweits durch Saddam Hussein. Interessanterweise wird auch die US-geführte Gegeninvasion gern als „blitzkrieg“ bezeichnet, ohne dass damit eine Abwertung verbunden wäre. Ganz offensichtlich genügen strukturelle Analogien mit neueren Ereignissen, um den Agens-Slot im Frame von Blitzkrieg umzubesetzen und die vom ursprünglichen Agens evozierte Evaluation in den Hintergrund zu drängen. Damit tritt auch die mnemonische Funktion des Topos Blitzkrieg zu-nehmend in den Hintergrund, sodass von einer De-Mnemonisierung von Blitzkrieg gesprochen werden kann.

Weiter reicht die Umbesetzung der Leerstellen des Frames bei jenen Gebrauchsweisen, die durch die Transposition von Blitzkrieg in (vor allem) folgende drei Diskursdomänen bedingt sind: Innenpolitik („the Blair blitzkrieg“), Werbung („a publicity/advertising/marketing/promotional blitzkrieg“) und Sport („a 33-minute blitzkrieg of aces“, „blitzkrieg basketball“). Der frequenteste relevante Kollokator bleibt zwar German, das 141 der insgesamt 2316 Verwendungen von Blitzkrieg begleitet. Bei den Kollokatoren Germans und Germany beziehen sich jedoch nur 25 der insgesamt 44 Vorkommen auf den Zweiten Weltkrieg. Die übrigen 19 sind disparat, enthalten aber immerhin siebenmal einen Bezug zum Fußball. Angesichts der deutsch-englischen Fußballrivalität mit ihren Reminiszenzen an den Zweiten Weltkrieg wird hier besonders deutlich, dass die De-Mnemonisierung von Blitzkrieg nur eine relative ist.

Entsprechendes zeigt sich auch bei Kulturkampf, in diesem Fall jedoch besonders klar im interlingualen Vergleich. Wie Jaworska und Leuschner (2018: 131–133, 137 f.) in einer separaten Studie nachwiesen, bildet Kulturkampf als deutschsprachige Entlehnung im Polnischen weiterhin eine wichtige Reminiszenz an jene (letztlich gescheiterten) Anstrengungen Bismarcks im Bunde mit den Liberalen zur Domestizierung der katholischen Kirche und der katholischen polnischen Minderheit in Preußen/Deutschland ab den frühen 1870er Jahren, als deren zunächst positiv besetzte Bezeichnung Kulturkampf 1873 in den öffentlichen Diskurs eingeführt wurde (Molik & Scholz, 2015); bei Kulturkampf im Englischen spielt dagegen weder der identitätsstiftende noch der evaluative Aspekt eine Rolle (Jaworska & Leuschner, 2018: 132–134). Zwar sorgt die Komponente -kampf weiterhin für die temporal strukturierte Semantik, im Gebrauch entwickelt sich Kulturkampf im Englischen (wie übrigens auch im Deutschen) inzwischen jedoch zu einem Topos zur Charakterisierung innergesellschaftlicher Deutungskämpfe (ebd.: 134, 140), dem dann keine praxonymische oder mnemonische Funktion mehr anhaftet. Insofern ist bei Kulturkampf nicht nur von einer De-Mnemonisierung, sondern auch von einer damit eng verbundenen De-Onymisierung zu sprechen.

5 Ausblick

Am Beispiel historischer Germanismen demonstriert die soeben vorgeführte Methodologie das angestrebte Zusammenspiel von (Lehnwort-)Lexikologie, historischer Erinnerungsforschung, historischer Stereotypenforschung und Diskursanalyse in der angestrebten „Linguistik der Erinnerung“. Anknüpfend an Harnisch (2017) gingen wir davon aus, dass Lehnwortschatz ein „wichtiger lexikalischer Erinnerungsort“ ist (ebd.: 49). Als Beispielmaterial wählten wir jedoch Praxonyme wie Anschluss, Endlösung und Kulturkampf sowie Appellative wie Blitzkrieg und Drang nach Osten, da sich mit deren Hilfe eine theoretische und empirische Lücke füllen lässt, die sich im Ansatz Harnischs (2017) zwischen Appellativa ohne historische Referenz wie Kren und švagr und Toponymen wie Cheb/Eger auftut. Anstelle des metasprachlichen Expertenwissens, das notwendig ist, um vollintegrierte Entlehnungen wie Kren und švagr überhaupt als Entlehnungen zu identifizieren, genügen bei historischen Germanismen im Allgemeinen einfache Kontextualisierungssignale, um – im Zusammenspiel mit Laienwissen – den indexikalischen Aspekt der sprachlichen Zeichenverwendung salient zu machen. Solche Signale können vom Textthema, von Kollokaten oder von der gebersprachlichen Graphemik ausgehen, etwa wenn im laufenden nehmersprachlichen Text ein Wort mit Initialmajuskel, Umlautgraphem, <ß> oder dergleichen (eventuell in Kursivsatz oder mit nehmersprachlicher Übersetzung) auftaucht.

Mit Blick auf die potenzielle Transnationalität des Sprachkontakts lassen sich historische Germanismen in den europäischen Nachbarsprachen des Deutschen zusammenfassend als translinguale Erinnerungsorte bestimmen, die der transnational verflochtenen europäischen Erinnerung (u. a. Aust 2009; Feindt et al., 2014a, 2014b) einen geteilten Makroframe bezüglich des Nationalsozialismus/Faschismus, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust bereitstellen (vgl. hierzu auch Riel 2018: 45, die von „kulturell erlernte[n] Erzähl- und Deutungsmodelle[n]“ spricht, ohne den Framebegriff zu erwähnen). Die Erinnerungen sind dabei im doppelten Sinne „geteilt“, da die „Europäisierung des ‚negativen Gedächtnisses‘“ bezüglich dieser historischen Themen zwar weit fortgeschritten ist, aber nie vollständig gelingen wird (Bauerkämper, 2012: 392–401; ferner u. a. Assmann, 2006: 250–271 u.ö.; Leggewie, 2011).

Indem er die ständige, mehr oder weniger beiläufige, teils konvergente, teils divergente Perpetuierung des Erinnerns in unterschiedlichen Nehmersprachen am Beispiel historischer Germanismen dokumentiert, stellt der hier vorgeführte Ansatz zugleich eine induktive, performativ orientierte Form der empirischen Operationalisierung theoretischer Konstrukte bereit, wie sie die nicht-normative, sozialkonstruktivistisch geprägte „dritte Welle“ der Erinnerungsforschung seit einigen Jahren anstrebt (Feindt et al., 2014a: 27, 43 f.). Die Ergebnisse legen nahe, dass historische Germanismen mit ihren divergierenden Verwendungsmustern – bis hin zur De-Mnemonisierung, ggf. auch De-Onymisierung – am jeweiligen sprachlichen „Common Sense“ der betroffenen Sprechergemeinschaften im Sinne von Feilke (1994) teilhaben und deren teils kon-, teils divergente „diskursive Weltbilder“ (Czachur, 2011) konstituieren helfen.