Referenzierungen von Raum sind eine überzeitliche Konstante in Erzähltexten des 18.-21. Jahrhunderts. Und doch lassen die Daten, die während dieser Analyse generiert und betrachtet wurden, auch den Schluss zu, dass die Bedeutung von Raum für die Gegenwartsliteratur heute – wenn auch nur minimal – tendenziell größer ist als sie es im 18. Jahrhundert zu Lessings Lebzeiten noch war. Die dieser Arbeit zu Grunde liegende Hypothese, dass zu Lessings Zeiten Raumdarstellungen einen kleineren Anteil an Erzähltexten hatten als an zeitgenössischen und dass die Entwicklung zu stärker von Raumdarstellungen dominierten Erzähltexten diachron verlief, konnte also verifiziert werden. Doch im Prozess dieser Forschungsarbeit konnten noch drei weitere Teilergebnisse erarbeitet werden, die abschließend zusammengefasst und in ihrer Relevanz für die literaturwissenschaftliche Forschung bewertet werden.

Im ersten Teil dieser Arbeit stand die Auswertung traditionell-analoger Forschungsbeiträge im Vordergrund. Diese wurden zu einem theoriebasierten Modell zusammengefasst. Dabei handelt es sich um ein System aus sechs in ihrer Qualität sehr unterschiedlichen Kategorien, die zusammen für ein skalar-vektorielles Raumverständnis stehen. Dieses fuzzy-set-Modell kann – so hat es die Implementierung im zweiten Teil der Arbeit gezeigt – trotz der Heterogenität der Unterkategorien so operationalisiert werden, dass es zur Basis eines Machine-Learning-Trainings werden kann, das dazu führt, dass Wörter, die Raum referenzieren, automatisch vom Algorithmus erkannt und klassifiziert werden. Im Prozess des Trainings, der Tests und der Bewertung der Resultate hat sich aber auch gezeigt, dass Raumdarstellungen interpretativ und häufig sehr unterschiedlich klassifiziert werden. Dabei sind sich manche der Raumkategorien näher, während andere mehr Trennschärfe aufweisen. Erstaunlich ist der Vergleich des Inter-Annotator-Agreements mit der Erkennungsquote des Raum-Classifiers. Hier zeigt sich, dass die automatische Annotation im Vergleich mit meiner manuellen Test-Annotation eine sehr ähnliche Übereinstimmungsquote erreicht wie zwei voneinander unabhängige menschliche Annotatorinnen. Einen Text von einem Computer annotieren zu lassen, anstatt es selbst zu tun, führt also zu einer – rein quantitativ – ähnlichen Datenbasis wie die Annotation durch eine*n andere*n Literaturwissenschaftler*in.

Das zweite Teilergebnis neben dem theoriebasierten Raummodell umfasst gleich drei Dinge. Im Vordergrund der in dieser Arbeit angewendeten Methode stand das Machine-Learning-Training eines StanforNER-Raum-Classifiers, also einer Anwendung mit Hilfe derer Indikatoren für Raumdarstellung in Erzähltexten automatisch erkannt und entsprechend des Raummodells klassifiziert werden können. Diese Software wurde auf Zenodo publiziert und damit zur Nachnutzung bereit gestellt. Eher aus der Not heraus, Raummetaphern mit dieser Methode nicht angemessen in die Betrachtungen integrieren zu können, entstand die relationale (Meta-)Datenbank der Raummetaphern laRa. Hierin sind alle rund 800 während des Machine-Learning-Trainings erfassten raummetaphorischen Ausdrücke verzeichnet und mit den Erzähltexten verknüpft, in denen sie vorkommen. LaRa eignet sich sehr gut zur Recherche von Raummetaphern und ihrem diachronen Wandel. Obwohl die Datenbasis relativ klein ist, konnten die Analysen dieser Studie belegen, dass sie einen guten Einblick in die Nutzung von Raummetaphern in Erzähltexten der Jahrhunderte 18–21 bietet. Auch dieses (Neben-)Produkt der vorliegenden Arbeit wurde veröffentlicht und kann als Ressource frei nachgenutzt werden. Zur Berechnung von Indexwerten, die den relationalen Vergleich quantitativer Aspekte von Raumdarstellungen im diachronen Verlauf ermöglichen, wurde eine einfache Formel entwickelt. Diese kann auf das ganze Raum-Kategorien-System, auf Unterkomplexe oder einzelne Kategorien angewendet werden. Diese drei Tools und methodischen Umsetzungen der theoretischen Überlegungen dieser Studie sind in ihrer Innovation vor allem für die digitale Literaturwissenschaft relevant. Bisher gab es noch kein Verfahren, mit Hilfe dessen Raumdarstellungen in deutschsprachigen Erzähltexten automatisch erkannt und anhand heterogener Unterkategorien klassifiziert werden konnten. Die hier entwickelte Software bietet vor allem einen ersten Schritt zur massenweisen Erkennung von Wörtern, die zu Raumdarstellungen beitragen. Ist diese Masse der Raumausdrücke erkannt, so können im nächsten Schritt z. B. durch weitere Strukturierungen der Annotationsdaten tiefer gehende narratologische Analysen erstellt werden. Ähnliches gilt für laRa. Die digitale literaturwissenschaftliche Metaphernforschung hat bisher noch nicht dazu geführt, dass diese in Texten automatisch erkannt werden können. Auch das Machine-Learning-Training, das Teil dieser Untersuchung war, zeigt hier keine vielversprechenden Ergebnisse. Es gab aber bisher auch kein digitales Verzeichnis literarischer Raummetaphern, sodass auch hier ein erster Schritt getan werden konnte. Auf Basis der in laRa verzeichneten Metaphern könnte durch Erweiterung der Datenbasis z. B. durch einen Zusammenschluss mit anderen Projekten der digitalen Metaphernforschung ein erneuter Versuch unternommen werden, um eine kritische Masse an Raummetaphern-Daten zusammenzustellen und so einen Teil dazu beitragen, einer maschinellen Erfassung den Weg zu bereiten. Für die Formel zur Errechnung von Raumindexwerten wäre eine Implementierung (vielleicht zusammen mit dem Raum-Classifier) denkbar, die diese Werte als Metrik der räumlichen Dimension von Erzähltexten automatisch errechnet. Die in der Analyse in Kapitel 9 aufgeführten Indexwerte für Texte aus vier Jahrhunderten könnten dann als Vergleichswerte zur Kontextualisierung herangezogen werden.

Neben der zentralen Fragestellung war für diese Arbeit auch der Gedanke leitend, dass traditionelle literaturwissenschaftliche Forschung mit neuen digitalen Methoden verknüpft werden kann, um zu einer fruchtbaren Synthese zu gelangen. Das dritte und vielleicht bedeutendste Teilergebnis dieser Arbeit ist, dass diese Verknüpfung gelingen kann. Der dritte Teil dieser Studie zeigt in einer Reihe von Einzelanalysen, dass es möglich ist, mit digital unterstützten Studien direkt an traditionell-analoge Forschung der Literaturwissenschaften anzuschließen. Es können sowohl theoretische Konzepte weitergedacht als auch einzelne Thesen geprüft, gestützt und manchmal auch widerlegt werden. Auch der explorative Zugang zur hier mit Hilfe digitaler Tools und Methoden erstellten Datenbasis kann zu Einsichten in einzelne Phänomene kleinerer Teilkorpora führen. Diese intra- und intertextuelle (im weiten Wortsinne) Perspektive erlaubt es, eine größere Distanz zum einzelnen Phänomen aufzubauen und z. B. mehrere Raumthemen zugleich in den Blick zu nehmen. Unabhängig davon, ob eine enge oder eher eine weite Verknüpfung mit analog-traditioneller literaturwissenschaftlicher Forschung gewählt wird, sollten die hier angewendeten Methoden stets in dem Bewusstsein eingesetzt werden, dass sie anfällig für Verzerrungen sind. Wie Ausreißer-Phänomene zu solchen Verzerrungen führen können, wurde an Beispielen aus dem Kernkorpus gezeigt.

Mit neuen Methoden über alte Fragen nachdenken und so zu neuen Einsichten gelangen – dieses Ziel konnte in dieser Studie in mehrfacher Hinsicht erreicht werden. Nun ist es aber kein Endziel, sondern eher die Grundlage einer Reihe von neuen Studien-Möglichkeiten, die sich zum Teil schon während der Arbeit an diesem Buch ergeben haben. Raumdarstellungen mit anderen narratologisch relevanten Kategorien, wie z. B. Figuren zu verknüpfen, erscheint mir dabei eine besonders fruchtbare Möglichkeit zu sein. Das mit Fokus auf Genderzuschreibungen zu tun, die ebenfalls automatisiert annotiert werden können, ist bereits geplant. Auch die Übertragung der hier entwickelten Methode auf andere literarische Textarten wie z. B. Dramen ist vielversprechend. Vor allem, da diese Textform einerseits Lessing als Autor von Dramen noch näher ist und andererseits andere nicht oder weniger narrative Möglichkeiten der Raumdarstellung zur Verfügung hat, wäre ein Test des Raum-Classifiers und des dahinter stehenden theoriebasierten Modells sehr interessant. In dieser Studie wurde ein (im Vergleich zu anderen Digital-Humanities-Studien) vergleichsweise kleines Korpus betrachtet. Nun, da der Raum-Classifier annehmbare Resultate erreicht, wäre es aber von großem Interesse, auch die Skalierbarkeit der Anwendung zu testen. Mehr Erzähltexte in den Blick zu nehmen und damit noch mehr Annotationsdaten zu generieren – führt das eigentlich zu neuen Einsichten oder bloß dazu, dass irgendwann der Blick für das einzelne Phänomen verloren geht? Auf diese Grundsatzfrage des Distant Reading mit immer größer werdenden Datensätzen könnte mit Hilfe der Methoden dieser Studie möglicherweise eine Antwort gefunden werden. Obwohl die zu Beginn dieses Buches aufgestellte Hypothese validiert werden konnte, führen die Teilergebnisse, Modelle, Tools, Methoden und die Synthese von Tradition und Innovation, die im Laufe dieser Studie erarbeitet wurden, keineswegs dazu, dass die Forschung zur literarischen Darstellung von Raum sich einem Abschluss nähert. Im Gegenteil eröffnen sich eine Fülle neuer Möglichkeiten, um Raumphänomene in der Literatur auch weiterhin auf neue Weise zu betrachten.