Zusammenfassung
Der Aufsatz sondiert anhand des Nationalökonomen Gustav Schmoller (1838–1917) die Positionierung von Sozialwissenschaftlern zwischen einem Selbstbild, welches den Forscher als Verfechter paradigmatischer Wahrheitsansprüche präsentiert, und einer pluralistischen Wissenschaftsauffassung, die mit fachlicher Disparität unbefangener umgeht. Wie je nach Selbstverständnis der Akteure ihr Umgang mit Konflikten und Konkurrenten variiert, wird unter anderem am Beispiel der Theorie sozialer Differenzierung diskutiert, mit welcher sich nicht nur die frühe Soziologie, sondern auch die historische Nationalökonomie intensiv beschäftigte.
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Notes
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Hier und im Folgenden wird das generische Maskulinum verwendet, weil es (m. E.) wenn auch nicht eine ideale, aber eine neutralere Form darstellt als Schreibweisen, die die Differenz zwischen „Wissenschaftlern“ und „Wissenschaftlerinnen“ im Schriftbild eher zementieren als normalisieren.
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Viele der konkreten Themen finden sich in meiner Dissertation über den jungen Gustav Schmoller (Herold 2019), auch wenn hier auf Basis des begrifflichen Rahmens „Disparität“ und mit dem Erkenntnisziel „Pluralismus“ andere, eher konzeptionelle als biografische Thesen und Argumente entwickelt werden. Aus pragmatischen Gründen soll nur in dieser einen Anmerkung auf das Buch verwiesen sein (abgesehen von konkreten Belegstellen).
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Die Einschätzung ist nicht ganz einfach, da Schäffle möglicherweise erst nachträglich von Spencer abgerückt ist. Einen nennenswerten Einfluss bestreitet Schäffle rückblickend in seiner Autobiographie (1905, Bd. 2, S. 123). Expliziter Anschluss an Spencer, Comte und Lilienfeld allerdings im Hauptwerk (1875–1878, Bd. 1, S. VII u. ö.).
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Ein Schlaglicht wäre z. B. die nicht geringe Zahl bekannter deutscher Nationalökonomen, die zumindest pro forma als Präsidenten oder Vizepräsidenten des „Institut International de Sociologie“ gewonnen werden konnten – im Fall Schmollers über Georg Simmel als Kontaktperson (Neef 2019, S. 70, S. 73 f.). In den 1920er Jahren (also posthum) versuchten enge Mitarbeiter Schmollers wie Wilhelm Stieda und Heinrich Herkner, Schmollers soziologischen Einschlag hervorzuheben; vielleicht, um so die eher verhaltene Schmoller-Rezeption an die Modeströmung der Zeit anzupassen (Stieda 1921, S. 250 f.; H. Herkner zit. in Harnisch 1994, S. 562).
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Herold, J. (2022). Wissenschaftlicher Pluralismus bei Gustav Schmoller. In: Endreß, M., Moebius, S. (eds) Zyklos 6. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-34744-4_3
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