Öffentlichkeit als Differenzierungsderivat – Anmerkungen zu einem soziologischen Grundbegriff im Zeitalter der Digitalisierung

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Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit

Part of the book series: Mediensymposium ((MESY))

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Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird vorgeschlagen, den Begriff der Öffentlichkeit von dem Begriff des Netzwerkes zu unterscheiden und als Derivat sozialer Differenzierung zu begreifen: Um füreinander anschlussfähig zu sein, müssen sich Personen, politische Gruppen oder Organisationen in einer differenzierten Umwelt an einer gemeinsamen und in diesem Sinne öffentlichen Verständigungsebene (lingua franca) orientieren. Aus diesem Begriffsverständnis folgt, dass politische Gruppierungen im Netz bestimmten Mechanismen der Selbstzensur unterliegen, sobald sie versuchen, politischen Einfluss innerhalb wie außerhalb der Netzwelt auszuüben. In meinem Beitrag prüfe ich diese Hypothese am Beispiel der amerikanischen Alt-Right.

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Notes

  1. 1.

    „Seltsamerweise war es also gerade die Ausdifferenzierung aus der schon funktional differenzierten Gesellschaft, die es den Diskutierenden ermöglichte, sich selbst als ‚die Gesellschaft‘ zu begreifen“ (Luhmann 1994: 11). Kieserling (2001: 185 ff.) spricht in diesem Zusammenhang von „Gegenrepräsentation“, um zu betonen, dass das gesellschaftliche Allgemeine nicht in Übereinstimmung, sondern in Differenz zu den grundlegenden Strukturen der Gesellschaft repräsentiert werden soll.

  2. 2.

    Der Physiker Hermann Haken beschreibt die Bildung einer öffentlichen Meinung im Anschluss an Noelle-Neumann (1974) als einen Prozess der sich selbst verstärkenden „Versklavung“. Die vorherrschende öffentliche Meinung spielt die Rolle eines Ordners, der die individuellen Meinungen der Einzelnen „verklavt“ (oder in der obigen Terminologie: „zensiert“), indem er diese auf Vereinheitlichung drängt und auf diese Weise selbst am Leben erhalten wird (vgl. Haken 1981: 157).

  3. 3.

    Ein berühmtestes Beispiel aus dem vor-digitalisierten Zeitalter ist die Veröffentlichung des Kinsey-Reports Anfang der 1950er Jahre: Bis dato galt eine klassische, aus heutiger Sicht eher prüde Sexualmoral als Common Sense. Der Bericht zeigt hingegen ein gänzlich anderes Bild; über 80 % der befragten Männer gaben an, bereits Sex vor der Ehe gehabt zu haben, fast die Hälfte vermerkte bisexuelle Neigungen usw. (vgl. Kinsey 1949).

  4. 4.

    Bei einer Befragung von Flughafengästen eines großen internationalen Airports etwa konnte festgestellt werden, dass befragte Personen umso freigiebiger mit intimen Informationen umgehen, je weiter sie von der Region des Flughafens entfernt leben (vgl. Rubin 1973: 171 f.). Gleichzeitig sind fremde und mit großer Wahrscheinlichkeit fremdbleibende Personen in besonderem Maße verwundbar. Vor allem Großstädte sind in dieser Hinsicht für rauere Umgangsformen und erhöhte wechselseitige Rücksichtslosigkeit bekannt.

  5. 5.

    Da die User durch subtile Signale nur schwer zu sanktionieren sind, müssen auch die Sanktionen üblicherweise stärker stilisiert werden: „The theater of authority in virtual reality is one which demands and facilitates a strongly dramaturgical element. All actions on MUDs [virtuelle Communities, TG] must be overt, every nuance of experience must be manifestly represented for it to become part o the play, and so punishment must be flamboyant” (Reid 1999: 118). Die besondere Stilisierung von Signalen im öffentlichen Raum, wie sie bereits Bahrdt am Beispiel von Großstädten analysiert hatte (1998: 88 f.), bleibt damit auch auf Online-Foren intakt. Sowohl herzliche Gesten (z. B. durch eine Kette von Smileys und Herzen) als auch kommunikative Rügen werden auf Online-Plattformen tendenziell verstärkt stilisiert, um ihnen hinreichenden Ausdruck zu verleihen.

  6. 6.

    Bereits 2010 wurde 4chan von Fox News als „internet hate machine“ bezeichnet. In neueren sozialwissenschaftlichen Studien tritt das Forum vor allem als „Petrischale für extreme und extrem virulente Formen rechter populistischer Anatagonismen“ in den Fokus (Tuters und Hagen 2019: 6, vgl. auch Nagel 2018; Philips 2015).

  7. 7.

    „Auf 4chan surfen“, gefunden auf: https://de.wikihow.com/Auf-4Chan-surfen [19.04.2019].

  8. 8.

    Um einen Beitrag vor dem Verschwinden zu bewahren, müssen die User diese auf ihrer eigenen Festplatte – oftmals in einem dafür erstellen /b/-Ordner – speichern und können diese bei Gelegenheit wieder aufgreifen oder in einen Tausch mit anderen Usern eingehen (vgl. Bernstein et al. 2011: 54).

  9. 9.

    Als Definition ist diese kurze Beschreibung eines Memes sicherlich unzureichend. Um die Vielfältigkeit von Memes einzufangen, ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur etwa von diskursiven, multimodalen Artefakten die Rede, welche populäre Referenzen (etwa aus weltweit berühmten Filmen, Liedern oder Reden) mit innovativen oder partikularen Standpunkten verknüpfen (vgl. Milner 2013: 1; Tuters und Hagen 2019). Solange der Kontext breit genug gewählt wird, eignen sie sich Memes freilich auch auf Mainstream-Plattformen als Verständigungsmedium. Milner spricht in diesem Zusammenhang von Memes als „nationwide inside jokes“ (vgl. Milner 2013).

  10. 10.

    Da Memes in diesem Sinne häufig rein phatisch genutzt werden, um die Inklusion in die Community darzustellen, ist freilich nicht ganz klar, ob User, welche rassistische oder verschwörungstheoretische Memes teilen, tatsächlich daran glauben.

  11. 11.

    „While many of the alt-right’s ideas were not necessarily new, what was novel was the way in which their ideas became entangled with the abstract dynamics of Internet memes and subcultural practices of Internet ‘trolls’, both of which arguably find their home in the notorious anonymous imageboard: 4chan“ (Tuters und Hagen 2019: 2). „[The] combination of antagonism and nebulousness matches a combative style of innuendo-laden political communication, as favoured authoritarian demagogues like Trump…“ (ebd.: 14).

  12. 12.

    Da es sich bei rechtsextremen Gedanken nach wie vor um eine Minderheitsmeinung handelt, sieht Daryle L. Jenkins, ein amerikanischer Antifa-Aktivist, in dem Herausfinden und Publizieren der Identitäten der rechten Hassredner eine der wichtigsten Kampfmittel der Antifa: „Sie haben große Angst davor entlarvt zu werden, gedoxt zu werden; dass die Leute herausfinden, wer sie sind. Denn dann verlieren sie ihren Job und ihre gesellschaftliche Stellung. Diese Leute haben mehr Angst vor uns als wir vor ihnen.“ (Jenkins in einem Beitrag von Lough 2018, Min. 10.36).

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Griebau, T. (2021). Öffentlichkeit als Differenzierungsderivat – Anmerkungen zu einem soziologischen Grundbegriff im Zeitalter der Digitalisierung. In: Eisenegger, M., Prinzing, M., Ettinger, P., Blum, R. (eds) Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit. Mediensymposium. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32133-8_10

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