Zusammenfassung
Gleisdreieck, ein Ort in Berlin. Das Wort bezeichnet eine reale Topographie. Aber es meint nicht nur einen Platz in der Stadt, es ist auch ein Gemeinplatz im Reden über die Stadt. In den zwanziger Jahren wird der Name als Chiffre für Berliner Großstadterfahrungen im umfassenden Sinne gebraucht. Das Gleisdreieck gilt als Symbol für die Stadt insgesamt, manche sehen darin sogar das Sinnbild einer ganzen Zivilisation. In der Literatur über Berlin funktioniert das Stichwort Gleisdreieck als literarischer und rhetorischer Topos: als ein vorgeprägtes Schema, das immer wieder aufgegriffen und variiert wird[1].
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Anmerkungen
Vgl. Baeumer, Toposforschung (1973) und Jahn, Toposforschung (1973).
Die Quellen zur Ortsgeschichte weise ich im folgenden nicht im einzelnen nach. Es sind: Berlin und seine Eisenbahnen (1896), Berlin und seine Bauten, Teil X (o. J.) und Wittig, Die Architektur der Hoch- und Untergrundbahn in Berlin (1922). — Die konziseste Gesamtdarstellung findet sich in dem Aufsatz von Jürgen Karwelat, Bitte einsteigen und Türen schließen (1987).
Egon Erwin Kisch, Die Untergrundbahn (1923), S. 383.
Ausführlicher werden Überlegungen in dieser Richtung entwickelt bei Pierre Bourdieu und seinen Mitarbeitern in Eine illegitime Kunst (1965), besonders S. 85–89: »Die gängige Praxis [unterwirft] die photographische Wahl den Kategorien und Regeln der traditionellen Weltdeutung. Deshalb überrascht es nicht, daß die Photographie mit dieser Weltdeutung übereinstimmt, d. h. daß sie objektiv erscheint. Anders ausgedrückt: Nur weil der gesellschaftliche Gebrauch der Photographie aus der Fülle ihrer möglichen Gebrauchsweisen nach den Kategorien, die die übliche Wahrnehmung der Welt organisieren, gezielt auswählt, kann das Bild für die genaue und objektive Wiedergabe der Wirklichkeit gehalten werden.« (S. 88).
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, dritter Band (1929), S. 235.
Bourdieu, a.a.O.
Siehe: Christoffel, Berlin in Bildpostkarten (1987), S. 536.
Schmidt-Brümmer/Schulz, Stadt und Zeichen (1976), S. 49.
Der Gedanke ist nicht ganz abwegig, da die ursprünglich geplanten, nüchternen Eisen-Glas-Konstruktionen der Hochbahn seinerzeit auf heftige Kritik stießen. »Die nackten Eisenkonstruktionen galten nicht nur als ästhetisch minderwertig und häßlich, sondern wurden von der Öffentlichkeit, die noch stark dem traditionellen Stildenken verhaftet war, geradezu als Herausforderung empfunden und deshalb mit Entrüstung abgelehnt […] Deshalb sah sich Siemens und Halske gezwungen, grundsätzliche Maßnahmen zur ästhetischen Aufwertung und damit zur Rettung der Hochbahn zu ergreifen: Man mußte den Architekten zur stärkeren Mitarbeit heranziehen. Er sollte die Hochbahn in ein architektonisches Gewand kleiden, das mehr überzeugt als die aus der Anonymität des Siemens’schen Konstruktionsbüros hervorgegangenen rein zweckorientierten Bauten.« (Bohle-Heintzenberg, Die Gestaltung der Hoch- und Untergrundbahn in Berlin (1981), S. 208f.)
In der Verwendung der Kategorien Komposition, Konstruktion, Struktur folge ich dem Definitionsversuch von Dieter Honisch: Die innere Verfassung des Bildes. Komposition — Konstruktion — Struktur (1977), S. 1/11f.
In: Mende, Gleisdreieck (o. J.), ohne Seitenzahl.
Am Ende der Befreiung von den Regeln der Komposition (vgl. Honisch, a.a.O.) steht also nicht eine konstruktivistische oder funktionalistische Darstellung, sondern das bloße »Ornament, zu dessen Verschlossenheit die substanzhaltigen Gefüge sich entleeren.« Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse (1927), S. 52.
Roland Barthes, Mythen des Alltags (1957/64), S. 57.
Siegfried Kracauer, a.a.O.
Michel de Certeau, Umgang mit Raum S. 4. Schmidt-Brümmer/Schulz, Stadt & Zeichen (1976), S. 49.
Alfons Paquet, Reise-Beschreibung. Kultur und Landschaß (1931). Vgl. auch Gustav Langen, Das Luftbild in Städtebau und Siedlungswesen (1928).
Werner Hegemann, Das steinerne Berlin (1930), Tafel 63.
In diesem Kapitel zeigen alle Ziffern in runden Klammern Seitenzahlen an in: Viktor Schklovskij, Zoo oder Briefe nicht über die Liebe (1923/65). Die Übersetzung stammt von Alexander Kaempfe. Ich habe sie mit der sprachlich weniger überzeugenden Übersetzung von Elena Panzig verglichen (in Berliner Begegnungen (1987)) und sie auf dieser Grundlage ergänzt, wo es mir notwendig schien.
Bely, Wie schön es in Berlin ist (1924), S. 59. — Alle vorangehenden Angaben folgen Majakowski, Das heutige Berlin (1923) (S. 33) und Fritz Mierau, Russen in Berlin (1987), S. 175.
Vgl. dazu die Ausfuhrungen über die ›Anorganizität‹ des Stadtbildes im folgenden Kapitel Schreckbilder.
Ein Indiz fur die Nähe seines Romans zu diesen Formen ist auch Schklovskijs Auskunft über die Entstehungsgeschichte im ersten Vorwort. Er habe ursprünglich »einige Skizzen über das russische Berlin im Sinn« gehabt, die nachträglich zu einem Roman in Briefen verknüpft worden seien [7].
Schklovskijs Einstellung zu den Maschinen ist ambivalent. Ihr scheinbares Eigenleben, ihre gigantischen Dimensionen erfahrt er als bedrohlich; zugleich spricht er sie als »Genossen« an [71]. In der russischen Revolution hatte Schklovskij, Ausbilder einer Kampfwageneinheit, sie als wichtige Verbündete kennengelernt (vgl. das Ende des Einleitenden Briefes — und Kaempfe, Viktor Schklovskij (1965). S. 139).
Erhard Schütz, Kritik der literarischen Reportage (1977), S. 16ff.
Die Darstellung von Fakten droht danach stets in Propaganda fur die »Diktatur der Tatsachen« (ebd.) umzuschlagen; die ›neusachliche‹ Zuwendung zur Objektwelt läuft Gefahr, die verdinglichte Wahrnehmung zum literarischen Programm zu erheben (Michael Geisler, Die literarische Reportage (1982), S. 38ff.
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945/1984), Nr. 66 und folgende.
Hans Kern, Gleisdreieck (1931), in: Seitz/Zucker, Um uns die Stadt (1931), S. 189f.
Johannes Trojan, Die Gegend der vielen Brücken (1903), S. 185f.; August Endell, Die Schönheit der großen Stadt (1908/1984), S. 39f.; Bernard von Brentano, Wo in Europa ist Berlin? (1928), S. 131; Hans Kafka, Gleisdreieck (1929); Walther Kiaulehn, Berlin (1958), S. 24.
Franz Hessel, Spazieren in Berlin (1929), S. 171.
Günter Grass, Gleisdreieck (1960). — Vgl. auch Grass’ Zeichnungen in Vier Jahrzehnte, Göttingen 1991, p. 94f.
Hegemann, a.a.O., Tafel 63; Scheffler, Berlin (1930), S. 66; Paquet, Und Berlin?, IV. Ein Sermon (1933) [erstes Zitat] und Paquet, Fluggast über Europa (1927), S. 145 [zweites Zitat]. — Zur Problematik der Zuschreibung von Organizität siehe: Leo Adler, Über das Organische und Malerische in der Baukunst (1925).
Siegfried Kracauer, Ginster (1928), S. 25.
Brief an Margarete Susman vom 17. Januar 1918, zitiert nach Strohmeyer, Berlin in Bewegung (1987/Bd. 2), S. 38. — Um der Genauigkeit willen ist hinzuzufügen, daß Simmel hier das frühe Nachkriegsberlin meint, das Vorkriegsberlin aber als »wunderbaren Arbeitsorganismus« bezeichnet. Ich halte es dennoch für legitim, diese Äußerung hier in einem etwas allgemeineren Kontext zu zitieren; erstens, weil sie eine Vorstellung pointiert ausspricht, die in vielen Berlinbeschreibungen wirksam ist (etwa bei Scheffler, siehe dazu das folgende Kapitel); zweitens, weil Simmel in seinem Aufsatz über Rom das Organismusmodell einsetzt, um die Spezifik der alten Metropole zu erfassen; die modernen Teile der Stadt, also die Teile, in denen Rom Berlin ähnelt, grenzt er hingegen aus, weil sie die »organischen Einheit des Eindrucks« stören (Rom. Eine ästhetische Analyse (1922)). — Noch 1930 verwendet Josef Räuscher das Prädikat »anorganisch« fur den Eindruck, den das gebaute Berlin beim Betrachter hinterläßt (Räuscher, Berlin (1930), S. 19).
Alfons Paquet, Die Stabilisierung Berlin (1924), S. 183.
Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte (1970/72), S. 20.
Hegemann, a.a.O., S. 321ff.
Adolf Behne, Eine Stunde Architektur (1928), S. 21.
»Wir fassen […] die kollektive Masse gleichartiger Glieder wie ein atmendes Wesen auf, das nicht starr einem Machtwort folgt, sondern das in jedem einzelnen Gliede das kollektive Bewußtsein trägt und infolgedessen lebendig ist. Seine Gesamtqualität hängt von der Qualität der einzelnen Glieder ab. Ein wichtiger Teil der Qualität ist die Beziehung von einem Teil zum Ganzen und deswegen muß der Lebensstrom das Ganze in seinen Gruppen und Reihungen durchziehen.« (Bruno Taut, zitiert nach Hüter, Architektur in Berlin (1987), S. 205.) — Dies schreibt ein Pionier der Typisierung und Serienfertigung im Wohnungsbau!
Siehe dazu Marx’ Analyse des Übergangs vom Manufakturwesen zum industriellen Einsatz dampfgetriebener Maschinen. Mit ihm emanzipiert sich das Werkzeug »von der organischen Schranke.« (Das Kapital (1867), S. 394). »In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendiges Anhängsel einverleibt.« (S. 445) — Bedauerlicherweise bricht Hans Blumenberg seine Übersicht über organische und mechanische Hintergrundmetaphorik im 18. Jahrhundert ab (In: Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), S. 69–83). Sie zeigt aber, daß sich der Gebrauch dieser Metaphern deutlich von demjenigen unterscheidet, der mit der Entfaltung des Kapitalismus Gemeingut wird.
Auf diese Metaphorik und ihre Nähe zu psychotischen Krankheitsbildern hat Hans-Thies Lehmann aufmerksam gemacht (Beiträge zu einer materialistischen Theorie der Literatur (1977), S. 292ff. — Dort finden sich auch Nachweise).
Hermann Ulimann, Flucht aus Berlin? (1932), S. 24–27.
Karl Scheffler, Berlin (1910), S. 58f.
Walther Kiaulehn, Berlin (1958), S. 24.
Walther Kiaulehn berichtet, in den zwanziger Jahren habe die Hochbahn am Gleisdreieck ihr Tempo auf Schrittempo verlangsamt und dadurch den optischen Eindruck noch verstärkt (Berlin (1958), S. 24.).
Viktor Auburtin, Der Prophet Sacharja (1922), S. 65f.
August Endeil, Die Schönheit der großen Stadt (1908/1984), S. 33f. und 36.
Georg Simmel, Philosophie der Landschaft (1913), S. 132, 131. — Im folgenden referiere ich aus diesem Aufsatz, dessen Hauptthesen sich wiederfinden bei Joachim Ritter, Landschaft (1962). Die darin vorgetragenen Einsichten lassen sich auch in eine modernere Terminologie übersetzen; man könnte ebensogut von einem »kulturellen Code« reden, der den Wahrnehmungsakt leitet und den Aufbau der mentalen Repräsentation bestimmt.
Ritter, a.a.O., S. 153.
Joseph Roth, Spaziergang (1921).
Ullmann, a.a.O., S. 25f. — Vgl. auch Scheffler, Berlin (1930), S. 184.
Bernhard Diebold, Verschwörung gegen Berlin. Stadt und Landschaft (1932).
Friedrich Sengle, Wunschbild Land und Schreckbild Stadt (1963).
Vgl. z. B. Döblins Vorrede zu Mario von Bucovichs Berlin (1928).
Camill Hoffmann, in: Jeder einmal in Berlin (1927), S. 27.
Erst nachdem ich diesen Gedankengang entlang der Beschreibungen des Gleisdreiecks entwickelt hatte, bin ich auf August Endells Buch gestoßen, das eine ausfuhrliche Anleitung zur Wahrnehmung der Stadt als Landschaft enthält (Die Schönheit der großen Stadt (1908/1984), S. 33ff.).
Ritter, a.a.O., S. 174.
Siegfried Kracauer, Aus dem Fenster gesehen / Berliner Landschaft (1931), S. 41.
Was in dem Ausdruck »ungestelltes Berlin« (Ebd.) mitschwingt — die Abgrenzung gegen das »gestellte« Berlin — wird deutlich vor dem Hintergrund der Stadtinszenierung, auf die ich im vierten Kapitel eingehe.
Siehe dazu vor allem die Texte Der auferstandene Mensch (1923), Wolkenkratzer (1922), H-Moll-Symphonie ( 1922), Flug nach Dortmund (1921), Nachruf auf den lieben Leser (1922), Das Lächeln der Welt (1923). Siehe auch Westermann, Joseph Roth (1987).
Roth, Der auferstandene Mensch (1923).
Georg Simmel, Philosophie des Geldes (1900), Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1923).
Tote Welt (1922), Rückkehr (1922), Auferstehung (1922).
Tote Welt (1922), zitiert nach dem Erstdruck.
Hanns Heinrich Bormann, Die Zeitung — Darstellung und Bericht (1926), S. 6 und 7.
Roth, Rückkehr (1922).
Die Interpretationen von Karl Prümm und Klaus Scherpe zu Roths Text scheinen stillschweigend von dieser Übereinstimmung auszugehen; wenigstens lassen sie diese fur jede Interpretation dieses Textes entscheidende Frage unerörtert (Prümm, Die Stadt der Reporter und Kinogänger (1988), S. 89ff.; Scherpe, Ausdruck-Funktion-Medium (1988), S. 132f.)
Alle Aussagen über die Wirkung des Bekenntnisses auf den Leser beruhen auf Beobachtungen bei der Diskussion des Textes in Seminaren, ferner auf der eigenen Leseerfahrung und der Erörterung meiner Interpretation mit einem Psychologen — Rudolf Schmitt —, der mir sehr geholfen hat, den Appell des Textes ans Unbewußte genauer herauszuarbeiten.
Ich verstehe hier den Ausdruck »regressiv« psychoanalytisch: als »Rückkehr zu früheren Entwicklungsformem des Denkens, der Objektbeziehungen und der Strukturierung des Verhaltens« (Laplanche/Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse (1967/1973), S. 436).
Vgl. Hanne Bergius, Im Laboratorium der mechanischen Fiktionen. Zur unterschiedlichen Bewertung von Mensch und Maschine um 1920 (1981); Anton Kaes, Weimarer Republik (1983), S. 159ff.; Jörg Hienger, Großstadt Masse Maschine in der Literatur (1983); Helmut Lethen, Neue Sachlichkeit (1970), S. 58–92; Erhard Schütz, Kritik der literarischen Reportage (1977), S. 16ff.
Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1923).
In Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) spricht Lukacs davon, daß die »Arbeitsteilung jeden organisch einheitlichen Arbeits- und Lebensprozeß zerreißt.« (S. 114 der Erstausgabe). Die Metaphorik geht auf Marx zurück (s. Anm. 38) — Auf Spengler bin ich aufmerksam geworden durch Jörg Hienger, a.a.O., S. 246f.
Beispiele finden sich bei Helmut Lethen, a.a.O., S. 58ff.
Josef Räuscher, Deutschlands Versuchslokal (1930), S. 130
Josef Räuscher, Berlin (1930), S. 25f.
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Bienert, M. (1992). Gleisdreieck. In: Die Eingebildete Metropole. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03405-2_2
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