Der hier edierte Text „Deutschlands Niederlage: Sinnloses Schicksal oder Schuld?“Footnote 1 ist ein unveröffentlicht gebliebenes Manuskript aus dem Nachlass von Rudolf Carnap.Footnote 2 Der Text war von Carnap unter dem Pseudonym Kernberger (nach Carnaps Wohnort in Jena) verfasst worden. Er war zur Veröffentlichung in den Politischen Rundbriefen vorgesehen, einer vom späteren DDR-Historiker Karl Bittel edierten Zeitschrift. Diese Zeitschrift war schon vor dem Kriegsende „vertraulich, als Handschrift“ (Bittel, 1918) erschienen. Zwischen Oktober 1918 und Ende 1919 fungierte sie dann als öffentliches politisches Organ der sozialdemokratisch orientierten Freideutschen.Footnote 3 In Bittels Editorial zur ersten, mit 5. Oktober 1918 datierten, öffentlichen Nummer heißt es:

Wir erleben eine Zeit der Bedeutung und Schwere, wie sie selten oder nie einem Volke Schicksal war. Daß diese Zeit maßlosen Geschehens bewußt und verantwortungsvoll gelebt werde, dazu wollen diese Rundbriefe mithelfen.

Vor allem wenden sie sich an staatsbürgerlich und politisch Erwachende.

Sie wollen Kenntnisse und Wissen vermitteln, aufklären und beraten, zu politischer Gesinnung erziehen, einen politischen Gedankenaustausch ermöglichen, Tatsachen und Ereignisse mitteilen und deuten – frei von allem Interesse irgendwelcher Interessenten. Alle Gedanken hier dürfen nur einen Maßstab anerkennen: das öffentliche Interesse; dienend nur einem: der Idee. (RC 110-01)

Die hier proklamierte Unabhängigkeit bedeutet nicht zwangsläufig politische Neutralität, stammten die Autoren des Blattes doch in der Mehrzahl aus einem der USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) nahe stehenden Kreis von (Berliner) Freideutschen.Footnote 4 Dieser Kreis publizierte Anfang 1919 einen von Helmut Tormin verfassten und von Carnap mit unterzeichneten „Aufruf an die freideutsche Jugend“, in dem die Grundsätze einer „[d]emokratisch-sozialistischen Gruppe der Freideutschen Groß-Berlins“ (Tormin, 1968, S. 615) charakterisiert wurden.Footnote 5

Nach anfänglich affirmativer Haltung zum Krieg hatte sich Carnap gegen Kriegsende zum Pazifisten gewandelt.Footnote 6 Er war am 1. August 1918 der USPD beigetreten (RC 028-09-04) und hatte schon davor die für seine intellektuelle Entwicklung wichtigen (mit der Publikation Bittels nicht zu verwechselnden) Politischen Rundbriefe (1918) verfasst. Mit diesen wollte Carnap in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld über Kriegsereignisse informieren, und zwar auf einer möglichst neutralen, die ausländische Presse miteinbeziehenden Ebene, um eine von nationalistischen Vorurteilen freie Verständigung über die Haltung zum Krieg zu erreichen. Dieses Projekt scheiterte. Im September 1918 hatte die Militärführung Carnap „‚die weitere Versendung von Rundbriefen jeder Art‘ verboten“ (RC 089-72-03). Zudem war es ihm auch nicht gelungen, alle Mitdiskutierenden von seiner pazifistischen Haltung zu überzeugen. Nach Kriegsende – der Waffenstillstand wurde am 11. November 1918 unterzeichnet – setzte sich die Politisierung von Carnaps freideutschem Kreis weiter fort. Allerdings versuchte man nun nicht mehr so sehr auf den Konsens aller ursprünglich am freideutschen Gedanken beteiligten Kräfte hinzuarbeiten, sondern der eigenen Denkweise Profil zu verleihen. Adressiert werden in „Deutschlands Niederlage“ in erster Linie „wir, die politisch Gleichgesinnten“ (Carnap, 1918, S. 1).

Unmittelbar vor der Entstehung von „Deutschlands Niederlage“ hat Carnap in Bittels Politischen Rundbriefen einen kurzen Text mit dem Titel „Völkerbund – Staatenbund“ in zwei Teilen (im ersten und vierten Rundbrief vom 5. und 23. Oktober 1918) veröffentlicht (Carnap, 2019 [1918]). Der Text erschien unter der Rubrik „Von Büchern und Schriften“, als rezensionsartige Stellungnahme zu zwei aktuellen Publikationen, die unterschiedliche Sichtweisen eines Völkerbundes zum Ausdruck brachten. Einerseits ein nur von den Regierungen der einzelnen Staaten getragener „Staatenbund“, andererseits, wie Carnap suggeriert, ein echter Völkerbund, der von den Volksvertretungen der verschiedenen Länder beschickt wird. Auch wenn Carnap in der Stellungnahme eine Präferenz für das auf Volksvertretungen basierende Modell erkennen lässt, plädiert er letztlich für keine der beiden Varianten und weist stattdessen auf die Notwendigkeit einer Grundsatzdebatte hin:

Wenn die Verhandlungen zur Organisation der Welt einsetzen werden – sicherlich unter lebhafter Anteilnahme der öffentlichen Meinung besonders von Amerika und England –, dann wollen wir doch nicht mit der Gleichgültigkeit, die man bisher in Deutschland diesen Fragen entgegengebracht hat, ahnungs- und ziellos dastehen, wie ein unmündiges Volk, dem eine Verfassung aus Gnaden geschenkt wird. Sondern wir, d.h. die politisch interessierten Freideutschen, müssen diese Probleme eingehend durchdenken und besprechen, um das bevorstehende weltgeschichtliche Ereignis [gemeint ist die Gründung des Völkerbunds, C.D.] [,] mit Bewußtsein und grundsätzlicher Klarheit erleben zu können.

Zu solcher Klärung gehört allerdings mehr als dilettantische Diskussion aus Augenblicksgefühlen heraus. Ich schlage deshalb vor, zuvor im Allgemeinen der grundsätzlichen Diskussion über den Völkerbund in diesen Rundbriefen Raum zu geben, aber die schwierigen Verfassungsfragen, darunter auch das angeschnittene Problem: Völkerbund oder Staatenbund, erst einmal einzeln oder im engeren Kreise an Hand der Literatur und mit Unterstützung der Juristen und Nationalökonomen unter uns zu studieren. Auf der Grundlage der Kenntnis sowohl der historisch gegebenen Tatsachen der Außenwelt, als auch der juristischen Möglichkeiten wird dann eine kritische Erörterung fruchtbar werden können. (Carnap, 2019 [1918], S. 6–8)

Der hier edierte Text „Deutschlands Niederlage“ ist als Carnaps Versuch zu identifizieren, zur „grundsätzlichen Diskussion über den Völkerbund in diesen Rundbriefen“ einen Beitrag zu leisten. In Carnaps Tagebuch, in dem in dieser Zeit auch die häufig von ihm besuchten Diskussionen der Sozialistischen Freideutschen Gruppe dokumentiert sind, findet sich am 18. Oktober 1918 der Eintrag „6–8 zu Heimann (über Bittels Vorschlag Politische Rundbriefe)“ (Carnap, 2022). Es ist zu vermuten, dass Bittel Carnap dazu aufgefordert hat, einen Beitrag zu der in seiner Kurzrezension geforderten „grundsätzlichen Diskussion“ über den Völkerbund zu liefern. Über Carnaps mit 28.10. datierten Beitrag ist in den folgenden Einträgen im Tagebuch allerdings nichts zu finden. Dagegen schreibt er am 3.11.: „Morgens geschrieben (Bittel usw.). […] Abends Lohmann hier; Bittel geschrieben“ und dann am 5.11.: „Nachmittags frei. Zu Heimann; dann stenotypiert für Bittel“ (Carnap, 2022). Weitere Hinweise auf Bittels Rundbriefe finden sich in Carnaps Tagebuch nicht. Es könnte sein, dass sich die Einträge vom 3. und 5.11. auf die Erstellung des im Nachlass befindlichen Typoskripts beziehen. Dann würde das Datum 29.10. wohl auf die Fertigstellung einer (nicht erhaltenen) Kurzschriftfassung dieses Textes verweisen.

Warum Carnaps Text nicht in eine der folgenden Nummern von Bittels Politischen Rundbriefen aufgenommen wurde, ist unklar. Der Text ist ebenso konziliant wie rhetorisch bombastisch und von Spuren völkischer Rhetorik durchsetzt.Footnote 7 Man könnte spekulieren, dass dieser (auch für den späteren Carnap, ab 1920, kaum charakteristische) Ton durch die sich nach Kriegsende in der Berliner Novemberrevolution überstürzenden politischen Ereignisse von seinem Autor rasch als nicht mehr zeitgemäß empfunden und der Text daher zurückgezogen worden war. Was noch im Frühjahr 1918, in den Rundbriefen, den Zeitgeschmack traf, war bereits im Herbst nicht mehr passend.Footnote 8 Die revolutionären Umwälzungen der Novemberrevolution bildeten sich jedenfalls unmittelbar in Bittels Politischen Rundbriefen ab, was sich auch an dem neuen, aktivistisch-agitatorischen Tonfall zeigt, in dem ein zweites, unmittelbar zum beziehungsweise nach dem Kriegsende erschienenes Editorial verfasst ist, das dem sechsten Rundbrief voransteht:Footnote 9

An die freideutsche Jugend!

Die Ereignisse dieser Zeit, die Umwälzungen auf politischem Gebiet, der Durchbruch des Willens der bisher sozial unterdrückten Volksschichten, fordern jeden Deutschen zu einer Stellungnahme heraus. Rücksichtslose Zerstörung des Alten auf der einen Seite, zähes Verteidigen des Ueberkommenen auf der andern, spalten das deutsche Volk stärker denn je in politische Gruppen und Parteien.

Wohin gehört in diesem Kampf die Jugend? Die freie deutsche Jugend, die einst im Meißnerschwur sich verband zu eigener Verantwortung und innerer Wahrhaftigkeit? Sie halte im Kampf der Interessen die Partei der Idee, sie stelle sich in den Dienst der Ordnung, der Vermittlung, des Wiederaufbaues. Jetzt ist die Zeit, wo eine neue Welt ersteht, wo ohne die alten Hemmungen fruchtbare Arbeit getan werden kann.

Jetzt können wir bewähren, was wir in der Zeit, da wir es für unser Recht und unsere Pflicht hielten, uns von aller Tat zurückzuhalten, gedanklich erarbeitet haben.

Wir wollen helfen, daß die neue Zeit besser, freier und wahrer wird. (RC 110-01-06, 21)

Diesem am Beginn der Novemberrevolution formulierten Editorial folgte dann der oben bereits erwähnte und im Januar 1919 publizierte, von Carnap mitunterzeichnete und also mitautorisierte „Aufruf an die freideutsche Jugend“. In diesem Text, der das Resultat der Aktivitäten der Berliner sozialdemokratischen Freideutschen um Tormin zur Zeit der Novemberrevolution von 1918 darstellte, wird die Rhetorik nochmals radikaler und präziser:

Es gilt eine Entscheidung. Wollen wir die neue politische und wirtschaftliche Lebensform des deutschen Volkes mitgestalten, so müssen wir Partei ergreifen im Streit der großen Ideen des Zeitalters. Die Zeit des verschwommenen Sowohl-als-auch ist vorüber.

Welche Frage fordert unsere Entscheidung?

Es ist nicht die Frage: Aristokratie oder Demokratie? Wir haben eingesehen, daß die Herrschaft der Besten nicht zuverläßiger gewährleistet werden kann als durch die denkbar weiteste und vorurteilsloseste Auslese aus den breitesten Schichten des Volkes. So sind heute alle Parteien demokratisch.

Es ist auch nicht die Frage: national oder international? Denn wir wissen, daß die Einordnung eines Volkes als dienendes Glied in eine Rechts- und Freundschaftsgemeinschaft der Völker eine kraftvolle Ausprägung einer eigenartigen nationalen Kultur nicht ausschließt, sondern fordert. So stehen alle Parteien heute auf dem Boden des Völkerbundes.

Die beiden Lösungen, zwischen denen der Streit heute geht, heißen: Sozialismus oder Bürgertum? Wie stellt sich zu ihnen die Freideutsche Jugend?. (Tormin, 1968, S. 614)

Die Antwort wird im Aufruf in unzweideutiger Weise gegeben. „Geschichte und Soziologie geben die Antwort“ (Tormin, 1968, S. 614), heißt es dort weiter, und es wird ein kontrastreiches Bild der negativen Auswirkungen des „Kapitalismus“ gezeichnet:

Wie soll das anders werden? Dem Geist des Eigennutzes, der Lieblosigkeit, der Ausbeutung, die hinter diesem System steht, können wir nur beikommen, indem wir, jeder in seinem Kreise, einen andern Geist verbreiten, den Geist der Brüderlichkeit, der Liebe, der Gerechtigkeit. Das ist eine Erziehungsaufgabe von Jahrhunderten.

Aber eines können wir schon heute erreichen:

Wir können die Macht jenes Geistes, seine Zwingburg, die er sich aufgerichtet hat, brechen. Diese Zwingburg ist die kapitalistische Wirtschaftsordnung, und zu brechen ist sie durch den – Sozialismus. (Tormin, 1968, S. 615)

Den sich daraus ergebenden theoretischen Forderungen – nach Demokratie, Sozialismus, Völkergemeinschaft – stellt der Aufruf die mit diesen konvergierenden „praktischen Forderungen“ gegenüber:

Solche sind beispielsweise Lehr- und Lernfreiheit, freie Gedankenäußerung im weitesten Umfange, Einheitsschulen, gleiches Wahlrecht, Nationalversammlung, sozialistischer Aufbau der Wirtschaft, insbesondere: Sicherung des vollen Arbeitsertrages für Hand- und Kopfarbeiter, Arbeiter-, insbesondere Jugendschutz. Förderung des Genossenschaftswesens, Wohnungsreform, Aufteilung des Großgrundbesitzes, innere Kolonisation, Bekämpfung der Erzeugung und Verbreitung von Schundwaren und Genußgiften, ferner Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, Einheit des Deutschen Reiches, Selbstbestimmungsrecht der Völker, Bekämpfung der Militarisierung besonders der Jugend, Völkerbund. (Tormin, 1968, S. 616)

Auch wenn vor dem Hintergrund dieser wesentlich weiter reichenden Forderungen das Dokument „Deutschlands Niederlage“ als Momentaufnahme eines sich in der Novemberrevolution rasch selbst überholenden historischen Prozesses gesehen werden muss, so ist Carnaps Text doch in mehrfacher Hinsicht interessant und wichtig.Footnote 10 Erstens als Dokument seiner intellektuellen Entwicklung, schließlich handelt es sich um einen der ganz wenigen von Carnap vor 1919 verfassten Texte, in denen er sich philosophisch beziehungsweise überhaupt intellektuell artikuliert. Zweitens wird in diesem Text – wie auch in den anderen Texten aus Carnaps Frühzeit – vor allem eine praktisch-ethische Komponente sichtbar, die in ihrer fundamentalen Bedeutung für Carnaps gesamte Philosophie bislang weitgehend unterschätzt worden ist.Footnote 11 Drittens artikuliert Carnap hier Ideen zu Völkerbund und Demokratie, die er wohl auch später, etwa im Zusammenhang seines „wissenschaftlichen Humanismus“ vertreten hätte, aber kaum je explizit artikuliert hat.Footnote 12 Der Text von 1918 ist also auch deswegen interessant, weil er, nur am Rande philosophisch argumentierend, die politiktheoretische Seite Carnaps sichtbar macht, die sich sonst in seinen Schriften meist nur in Andeutungen findet.

„Deutschlands Niederlage“ dokumentiert also eine bestimmte Stufe der Entwicklung von Carnaps Politisierung und fügt sich so, als wichtiges Bindeglied in seiner intellektuellen Biographie, in die sonst vor allem durch seine Tagebücher, den Briefwechsel mit Freunden wie Wilhelm Flitner und Franz Roh, sowie die erwähnten Politischen Rundbriefe vom Frühjahr 1918 illustrierten Entwicklungen.Footnote 13 Am Ende dieses Prozesses der Politisierung stand, nach dem Bruch zwischen „völkischen“ und „sozialistischen“ Freideutschen bei der Jenaer Führertagung im April 1919,Footnote 14 für Carnap, wie für so viele andere, eine gewisse Ernüchterung. Er blieb zwar zeitlebens Sozialdemokrat, politisch engagierte er sich aber erst wieder ab den späten 1920er-Jahren, da allerdings eher nur indirekt, als wissenschaftlich orientierter Antimetaphysiker.Footnote 15

Nun zum Inhalt des Aufsatzes. „Deutschlands Niederlage“ verteidigt Woodrow Wilsons 14-Punkte-Programm und rechtfertigt jeden einzelnen Punkt im Detail.Footnote 16 Carnaps Argumentation stützt sich auf die Idee des „Völkerrechts“, auf die „Forderungen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, des Schiedsgerichts, der Abrüstung“ sowie den Völkerbund und die Hoffnung, dass diese Dinge „immer weiter in das Bewusstsein der Menschheit“ eindringen und „bald in einer ersten primitiven Gestalt Wirklichkeit werden“ (Carnap, 1918, S. 12). Dem von ihm uneingeschränkt bejahten „Wilson-Frieden“ stellt Carnap das gegenüber, was er „Entente-Frieden“ nennt, also den tatsächlich nach Kriegsende zu erwartenden Frieden, der „manche Punkte des Wilson-Programmes erfüllen, in anderen Punkten dagegen unrechtmäßige Ansprüche der Feinde durchsetzen [wird]“ (Carnap, 1918, S. 8 f.). Darunter versteht Carnap zunächst Gebietsaneignungen, die gegen den mehrheitlichen Willen der dort ansässigen Bevölkerung erfolgen. Diese sind für Carnap allerdings nicht das Kernproblem, weil seiner Ansicht nach der Völkerbund für Minderheitenrechte sorgen wird. Als „schwere Bedingung“ des „Entente-Friedens“ sieht er jedoch die zu erwartende „wirtschaftliche Bedrückung auf Jahre hinaus“ (Carnap, 1918, S. 10). Carnap fasst zusammen:

Wir erkennen jetzt, so deutlich, wie es gegenwärtig möglich ist, was geschehen ist und geschieht: Deutschland ist nach langem Kampf der Uebermacht unterlegen: Zwar wird der Völkerbund kommen, der schließlich allen Völkern ihr gerechtes Los zuerteilen wird. Einstweilen aber wird Deutschland, da es aus diesem vielleicht letzten Kriege der Kulturstaaten als der Besiegte hervorgeht, unter sehr schwerem wirtschaftlichen Druck liegen. (Carnap, 1918, S. 11)

Die politische Schuldfrage lässt Carnap in diesem Zusammenhang weitgehend (abgesehen von der von ihm eingeräumten Schuldhaftigkeit der Annexion Belgiens) offen. Diese müsse „durch eine heute noch nicht mögliche Einsicht in die Dokumente der Vorgeschichte des Krieges“ (Carnap, 1918, S. 5) von HistorikerInnen entschieden werden. Allerdings könne man diese Frage auch beiseitelassen. Denn wichtiger als die politische erscheint für Carnap die geistig-kulturelle Schuldfrage, die sich nicht auf die Verantwortung politischer EntscheidungsträgerInnen bezieht, sondern auf das Verhalten der Gesamtbevölkerung. „Das Wesentliche ist: Die Geistesverfassung Europas, die den Weltkrieg unvermeidbar und dann seine Beendigung bisher unmöglich machte, hat ihren Hauptnährboden in Deutschland“ (Carnap, 1918, S. 15). Es gibt für Carnap eine Schuld, die Deutschland trifft, und diese besteht darin, dass seine Bevölkerung „später als die Westeuropäer und Amerikaner dem neuen Geiste zugänglich wird“ (Carnap, 1918, S. 14). Er führt aus:

Ein Blick in das sozialdemokratische Programm zeigt uns, dass der Arbeiterklasse theoretisch längst bekannt war, in welcher Weise das Verhältnis der Staaten zueinander umzugestalten sei. Doch das Volk der Dichter und Denker war zu unpolitisch, um solchen Fragen die volle Aufmerksamkeit zuzuwenden oder gar ihre Lösung selbst durchzusetzen. Auch dies ist verständlich, ja beruht auf einem Charakter, den wir hochschätzen und der das Volk zu gewaltigen Leistungen auf andern Kulturgebieten befähigt hat. Verständlich, aber nicht entschuldbar. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht, und ihr Urteil ist unerbittlich. Unsere Generation und die folgende haben das Schwergewicht der Busse zu tragen. (Carnap, 1918, S. 14)

Auch wenn der vorletzte Satz („Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ – eine auch von Hegel strapazierte Verszeile aus Schillers Gedicht „Resignation“) und die Rede von „Buße“ einen fatalistischen Unterton haben, möchte Carnap hier doch offenkundig sagen, dass die Deutschen die Zeichen der Zeit nicht gesehen haben, die auf Völkerverständigung, Abrüstung und Demokratie zeigten und dass sie nun die Konsequenzen dieses Versagens zu tragen haben.Footnote 17

Von allgemeinen Betrachtungen über Friedensbedingungen und die Schuldfrage gelangt Carnap zur Analyse der Frage des Anteils der „geistigen Menschen“ an der Schuld Deutschlands. Hier kritisiert er, dass „von den beiden Polkräften des geistigen Lebens: Aktivität und Kontemplation“ eben „die zweite, die quietistische, mystische vielleicht auf den deutschen Menschen allzu starken Einfluss ausgeübt [hat]“ (Carnap, 1918, S. 15 f.). Carnap kritisiert eine „von einflussreichen Vertretern der Geisteswissenschaften“ vertretene Auffassung des Staates, die nur „das Bestehende anerkannte, ohne es an dem Massstab eines objektiven Wertes zu prüfen“ und „die lehrte, dass das Wesen des Staates reine Macht und seine Aufgabe Machterweiterung sei“ (Carnap, 1918, S. 17).Footnote 18 Carnap fordert dagegen, dass man in der Politik und in den Geisteswissenschaften nicht bloß die vorhandene Ordnung verteidigen und Politik als Machtpolitik verstehen soll, sondern dass es eben darum geht, neue Werte auszuarbeiten und politisch umzusetzen. In welchem Sinn diese Werte dann „objektiv“ sind, bleibt an dieser Stelle unklar. Man vergleiche aber die in Fußnote 1 von „Deutschlands Niederlage“ enthaltene Bemerkung Carnaps, wo die „objektive Geltung auch der politischen Werturteile“ an die „wichtige und dringende Aufgabe“ geknüpft wird, „durch Aussprache und besonders auch durch diese Rundbriefe auf Übereinstimmung in den politischen Grundsätzen hinzuarbeiten“ (Carnap, 1918, n1).Footnote 19 Dazu passend die Schlusspassage von Carnaps Text:

In diesem Sinne ist Politik als Wissenschaft neben der Individualethik der andere Zweig der praktischen Philosophie, also eine Wertlehre; und Politik als Tun besteht in der Verwirklichung dieser Werte. Das ist Aufgabe eines Einzelnen oder einer Arbeitsgemeinschaft solcher, die gleiche Werte anerkennen und durchsetzen wollen. Die Bedeutung dieser Aufgabe und die Verantwortung, die mit ihr übernommen wird, sind uns klar geworden durch das Erkennen der Schuld, die wir geistigen Menschen am Schicksal unseres Volkes und der Menschheit, und gerade auch an der Katastrophe der letzten Jahre tragen. (Carnap, 1918, S. 18)

Der Text von „Deutschlands Niederlage“ wird hier unverändert wiedergegeben, nur offensichtliche Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert. Auf eine textkritische Bearbeitung und Kommentierung wird ebenso verzichtet wie auf den Nachweis bibliographischer Angaben. Die Paginierung des Originalmanuskripts wird angegeben. Auf Seite 5 in der Originalpaginierung befindet sich eine von Carnap als gestrichen markierte Passage, die wir mit abdrucken, jedoch entsprechend kennzeichnen. Seite 9 bis 11 des Originalmanuskripts wurden mit einer anderen Schreibmaschine verfasst, die über ein ß verfügte. Wir belassen die Schreibweisen durchgehend bei „Mass“ beziehungsweise „Maß“.

1 Deutschlands Niederlage: Sinnloses Schicksal oder Schuld?

Das rein egocentrische Streben entfesselt in der ganzen Umwelt alles Anarchische, bis eines schönen Tages die Macht von einer noch grösseren Macht zu Boden geschlagen und in Ohnmacht verwandelt wird. Das ist das ewige Weltgericht über alle blosse Machtpolitik.

Friedrich Wilhelm Förster, Oesterreich und der Friede, Juli 1917

Bevor wir den schwierigen und gewagten Versuch machen, uns über den Sinn dessen klar zu werden, was im Krieg und durch ihn geschehen ist, müssen wir uns erst einmal vergewissern, ob wir, die politisch Gleichgesinnten, auch wirklich das Gleiche erleben. Denn wenn etwa der eine im jetzigen Geschehen den Zusammenbruch eines durch vierjährige Belastung erschöpften Volkes sieht, das im Begriff ist, aus Verzweiflung seine besten Güter von sich zu werfen, ein anderer aber Genugtuung über die endlich beginnende Einsicht und über den Willen, unrechtmässigen Besitz herzugeben, empfindet, so wäre zwischen diesen beiden jede Erörterung über den tieferen Sinn des Geschehens verfehlt. Darum will ich zuerst sagen, was für Ereignisse ich jetzt sehe. Darauf mögen andere entgegnen, und wir werden uns über diese (im höheren Sinne) rein tatsächliche Frage bald einigen. Das eigentliche Problem der ethischen Stellung |2 des Einzelnen zu dem Geschehen will ich nur am Schluss kurz andeuten. Vielleicht gelingt es uns später, auch hierüber zu einer Verständigung zu kommen.

1. Das Geschehen

Was ist geschehen? Das friedliebende und fleissige deutsche Volk ist in einen Krieg verwickelt und nach jahrelangem Kampf, in dem es sich als tapfer und zäh bewährt hat, von der Uebermacht besiegt worden. Das wirtschaftlich blühende, kulturell und organisatorisch hoch befähigte Volk erlebt das traurige Schicksal einer Niederlage und sieht eine bedrückte Zukunft vor sich.

Hier muss gesagt werden, was uns „Niederlage und bedrückte Zukunft“ bedeutet. Erst einmal, was es uns nicht bedeutet: Im strategischen Misserfolg an sich sehen wir kein trauriges Schicksal, denn Waffenruhm ist uns kein Wert. Dieser Misserfolg sowohl, wie der der Diplomaten, ist zwar in seinen Folgen bedauerlich, aber keine Schande. Die Illusion der Unbesiegbarkeit des deutschen Heeres haben wir ohne Schmerz fallen lassen. Bleiben nur die Folgen, d. h. die schon zugestandenen oder noch zu erwartenden Friedensbedingungen. Die Waffenstillstandsbedingungen sind, da vorübergehend, unwesentlich, so schwerwiegend ihre Folgen auch sein mögen. Insbesondere die dabei vermutlich verlangten Garantieen (vielleicht: Besetzung von Elsass-Lothringen, von Metz und Helgoland, Auslieferung der Geschütze und der U-Boote, Uebergabe der militärischen Befehlsgewalt an eine wahrhafte Volksregierung) sind erstens wiederum eine Verletzung der „Waffenehre“, sogar der „nationalen Ehre des Deutschen Reiches“. Das ist uns gleichgültig. In unseren Augen hat das Deutsche Reich keine andere Ehre, als die, dem göttli|3chen Geiste an seinem Platz zu dienen, also dem deutschen Volke als einem Träger dieses Geistes. Zweitens sind sie uns zu einem Teil sogar willkommen, nämlich insoweit sie vielleicht in einem kommenden kritischen Augenblick verhindern, dass jener verhängnisvolle Begriff der nationalen Ehre Strömungen aufkommen lässt, die den Friedensschluss erschweren oder gar verhindern. Drittens sind insbesondere die verfassungsmässigen Garantieen hoch erfreulich, da sie uns eine schon längst bitter notwendige Reform für die Dauer bescheeren.

2. Die Friedensbedingungen

Bleiben also die eigentlichen Friedensbedingungen. Im einzelnen kennen wir sie noch nicht, doch genügt das wenige, was wir von ihnen wissen, zu einer grundsätzlichen Betrachtung. Wir wollen mit dem Ausdruck „Wilson-Frieden“ einen solchen bezeichnen, durch den alle strittigen Fragen nach den von Wilson früher festgesetzten Grundsätzen geregelt werden würden. Nach dieser Definition ist der Begriff unabhängig von Wilsons Gesinnung und Absichten, um so mehr von dem Frieden, der jetzt unter Wilsons Leitung und starken Einflüssen von England und Frankreich zu stande kommen wird. Diesen zu erwartenden Frieden bezeichnen wir als „Entente-Frieden“; seine Gestalt lässt sich nur in ungewissen Zügen erkennen, während wir uns vom Wilson-Frieden ein einigermassen deutliches Bild machen können.

Ich behaupte nun, dass der Wilson-Friede grundsätzlich dem entspricht, was auch wir fordern, nämlich dem Rechtsfrieden. Der Entente-Friede jedoch, der zwar wesentliche Punkte von jenem einschliessen, darüber hinaus aber ungerechte Forderungen der feindlichen Macht-, Geld- und Ländergier erfüllen wird, berechtigt uns, das Schicksal unseres Landes beklagenswert zu nennen, und zwar |4 auch nur in den Punkten, in denen dieser Friede über den Wilson-Frieden hinausgeht. Und nur hier darf von unserer Niederlage gesprochen werden. |4b

Der Wilson-Friede

Die „14 Punkte“ vom 8/1.18 nennen zuerst 5 allgemeine Grundsätze, denen wir sicherlich zustimmen: Oeffentlichkeit der Verträge und Vereinbarungen, Freiheit der Schiffahrt, Gleichheit der wirtschaftlichen Rechte, Abrüstung, unparteiische Schlichtung der kolonialen Ansprüche. In den folgenden 8 Sätzen wird der Grundsatz vom Selbstbestimmungsrecht der Völker auf verschiedene Einzelfälle angewendet. Darüber wird nachher zu sprechen sein. Der 14. Punkt verlangt die internationale Vereinbarung zur gegenseitigen Sicherung. Bei dieser Vereinbarung sollen, so sagt der erste Punkt des Programms vom 12/2.18, Gerechtigkeit die Grundlage und dauernder Frieden das Ziel sein. Hier folgt dann das schon genannte Selbstbestimmungsrecht der Völker als Beispiel der Anwendung des Gerechtigkeitsprinzips. Im 2.–4. Punkt wird es in seiner grundsätzlichen Bedeutung dargestellt.

Dasselbe geschieht im zweiten der vier „Friedensziele“ der Rede vom 4/7.18. Das erste besteht in der Beseitigung persönlicher Herrschaft, die den Frieden willkürlich stören kann. Das dritte Ziel ist: Rechtsgesinnung der Völker im Völkerbund, wie sie der Bürger im Staate hat. Das vierte: Sicherung des Friedens durch Organisation mit Zwangsrecht. Zusammenfassend wird dann gefordert: Herrschaft des Sittengesetzes, wie für Einzelne, so auch für Nationen und Staaten, eines Gesetzes, das freiwillig anerkannt und von der organisierten Menschheit verbürgt wird. – In der Rede vom 27/9.18 wird zuerst noch |5 einmal unparteiische Gerechtigkeit als Richtlinie des Friedensvertrages hingestellt. Dementsprechend wenden sich die Sätze 2–5 gegen Sonderinteressenpolitik, Sonderbündnisse, Wirtschaftskrieg und Geheimverträge.

Dies sind die Grundsätze des Wilson-Friedens. 〈So schwierig auch die mit jedem Satz zusammenhängenden völkerrechtlichen Probleme sein mögen, und noch schwieriger und mühevoller die Arbeit ihrer praktischen Durchführung, so werden unsere Ueberzeugungen über die objektive Rechtlichkeit dieser Grundsätze doch weitgehend übereinstimmen.Footnote 20 Auf keinen Fall dürfen wir uns in unserm Urteil über die Wahrheit der Sätze durch den Umstand beeinflussen lassen, dass sie von feindlicher Seite als Friedensprogramm aufgestellt sind. Besteht die Gefahr, dass wir auf unsere Objektivität Stolzen unvermerkt in diesen Fehler verfallen? Leider ja. Vielleicht ist das zu entschuldigen oder wenigstens zu erklären durch die Art, in der selbst massvolle Staatsmänner und Politiker zu uns über die Gesinnung und den Willen der Feinde, insbesondere Wilsons, gesprochen haben. Ich erinnere daran, dass Hartling (der Akademiker) über Wilsons Rede vom 4/7. eine Woche später im Reichstage erklärt hat: „Bis in die letzten Tage hinein haben wir die aufreizenden Reden der feindlichen Staatsmänner gehört. Herr Wilson will den Sieg bis zur Vernichtung…“Footnote 21Footnote 22Für die Anwendung dieser Grundsätze auf die Wirklichkeit gibt Wilson Beispiele in Punkt 6–13 der Rede vom 8. Januar. Er selbst hat |6 später betont, dass die Geltung der Rechtsgrundsätze das Wesentliche sei. Die Einzelheiten der Anwendung zu vereinbaren, werde für eine vom Geist der Grundsätze ausgehende Erörterung nicht mehr schwierig sein.

Gegen die Punkte 6 und 9–13 werden von uns wohl keine Einwände erhoben. Sie machen für verschiedene Völker und Volksteile (Russland, Italien, die Nationen Oesterreich-Ungarns, Rumänien, Serbien, Montenegro, die Völker der Türkei, Polen) das Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung noch einmal ausdrücklich geltend. Als selbstverständliche Voraussetzung hierfür wird die Räumung der besetzten Gebiete im Osten und Süden verlangt. Ferner wird für Polen und für Serbien Zugang zur See gefordert; (also nicht Besitz des Küstenlandes oder einer Hafenstadt, sofern das den Ansprüchen anderer Nationen widersprechen würde, sondern nur Hafenrecht und freie Durchfahrt). Die Dardanellen sollen internationale Fahrstrasse sein.

Nur den Punkten 7 und 8 gegenüber erheben sich Bedenken. Die Probleme Belgien und Elsass- Lothringen! Für Belgien wird Räumung, Wiederaufrichtung und unverletzte Souveränität verlangt. Die Absichten, Belgien nicht vollständig zu räumen, oder es in irgendeiner Form abhängig zu machen, sind ja zum Glück längst aus Deutschlands Kriegszielen verschwunden. Aber Wiederaufrichtung? Würde das nicht bedeuten, dass wir für alle zerstörten Ortschaften und Städte Entschädigung zahlen müssten, also auch für die Wirkung der feindlichen Artillerie und für die Folgen des Francstireurkrieges? Gewiss, das ist der Sinn der Forderung. Und doch, sie ist berechtigt. Das wird allerdings nur zugeben, wer überzeugt ist, dass uns allein die Schuld daran trifft, dass Belgien das Opfer des Krieges geworden ist. Ich |7 kann hier nicht näher darauf eingehen, erinnere nur an Bethmanns offene Erklärung und an manche spätere Reichstagsverhandlung, und weise besonders auf Erzbergers ausführliche und klare Erörterung der Schuldfrage hin.Footnote 23

Für das besetzte Gebiet Frankreichs wird ebenfalls Räumung und Wiederherstellung gefordert. Ob gemeint ist, dass wir allein die Wiederherstellungskosten zu tragen hätten, wird nicht ausdrücklich gesagt, vermutlich aber bei den Friedensverhandlungen so ausgelegt. Dem müsste für den Fall zugestimmt werden, dass sich durch eine heute noch nicht mögliche Einsicht in die Dokumente der Vorgeschichte des Krieges erweisen würde, dass Deutschland der Hauptschuldige wäre. Sollten die Feinde aber widerrechtlich uns die alleinige Last der Wiederherstellung aufbürden oder gar unter diesem Vorwande eine übermässige Kriegsentschädigung verlangen, so würden sie damit vom „Wilson-Frieden“ abweichen. Darüber wird unten beim Entente-Frieden zu sprechen sein.

Wenn die Wiedergutmachung des Unrechts von 1871 als Bedingung hingestellt wird, so kann das im Zusammenhang der Wilson’schen Grundsätze die Rückgabe Elsass-Lothringens nur für den Fall und in dem Masse bedeuten, als es von der Bevölkerung gewünscht wird. Und wenn wir bei der Volksabstimmung auch das bittere Schauspiel erleben müssten, dass nicht nur die französische Bevölkerung, auf die wir gern verzichten, sondern auch ein echt deutscher, alter alemannischer Volksteil sich mit freiem Willen von unserem Volksverbande lossagt, so müssten wir ihm doch das Recht hierzu zugestehen. Dass wir dann erkennen müssten, dass wir es ihm nicht möglich gemacht ha|8ben, in dem halben Jahrhundert als lebendiges Glied an das Volksganze anzuwachsen, das würde uns zwingen, uns selbst die Schuld zuzuschieben: unserer Verwaltungsmethode im Frieden und besonders den drückenden Massnahmen der Militärverwaltung in den Kriegsjahren.

Die Bodenschätze dürfen von uns nicht als Argument für die Notwendigkeit, die Länder zu behalten, angeführt werden. Ueber die Staatszugehörigkeit eines Landes und damit der Bodenschätze haben nicht die Regierungen, sondern die das Land bewohnende Bevölkerung zu entscheiden. Der Missstand, den die Verwirklichung dieser Forderungen hervorrufen wird, – dass nämlich einzelne Völker in der Lage sein werden, die aus dem Besitz von Bodenschätzen entspringende Monopolstellung zum Schaden der übrigen Welt auszubeuten, – ist nicht dadurch zu beseitigen, dass den Staaten das Recht zugestanden wird, durch Gebrauch oder Androhung von Gewalt oder auch Geltendmachung eines historischen Gebietsrechts sich einen ihrem Bedürfnis entsprechenden Anteil an den Bodenschätzen zu verschaffen, sondern die Möglichkeit zur Erlangung dieses Anteils muss allen Völkern durch eine übergeordnete Organisation gesichert werden. Das ist die Aufgabe des Völkerbundes. Er wird sie wahrscheinlich zuerst nur unvollkommen durch Gewährung von Handelsfreiheit und Zwang zu gleicher Zollbehandlung aller Aussenstaaten zu erfüllen suchen, später vielleicht vollständiger durch Rationierung der Rohstoffe. Gelöst wird die Aufgabe erst durch Sozialisierung der Weltwirtschaft.

Der Entente-Friede

Der Entente-Friede wird manche Punkte des Wilson-Programms erfüllen, in anderen Punkten dagegen unrechtmässige Ansprüche der |9 Feinde durchsetzen. Wir kennen diese Ansprüche noch nicht; ihr denkbares Höchstmaß wird wohl durch die Forderungen der Northcliffe-Presse dargestellt. Die Bedingungen, die uns möglicherweise auferlegt werden, beziehen sich auf Gebietsfragen, Heer und Flotte, Handels- und Zollfragen, Kriegsentschädigungen, wirtschaftliche Verpflichtungen. Die Bedeutung solcher Bedingungen hängt vor allem davon ab, ob der Völkerbund verwirklicht werden wird, oder vielmehr, in welchem Grade und in welcher Gestalt er verwirklicht wird; denn sein Kommen ist nicht mehr zu bezweifeln. Ich persönlich glaube nun, daß außer der nahe bevorstehenden Existenz der überstaatlichen Organisation auch gewisse Grundlagen und Wirkungen schon als gesichert angenommen werden können. Beweisen kann ich dies nicht, sondern nur auf die starke Strömung in breiten Volkskreisen aller Länder, die rege Anteilnahme der Gebildeten and der theoretischen Bearbeitung des Problems, besonders in England, Amerika und in neutralen Ländern, und auf die entschiedenen Proklamationen verschiedener einflußreicher Staatsmänner hinweisen. Die Organisation wird nach meiner Ueberzeugung zum mindesten die Lösung folgender Fragen in die Wege leiten: Friedliche Beilegung von Konflikten durch obligatorisches Schiedsgericht mit Ehrenklausel und durch Untersuchungskommissionen, erhebliche Einschränkung der Rüstungen, Sicherung der Gebiete der Einzelstaaten gegen gewaltsame Verletzung, aber Ermöglichung des freiwilligen Uebertritts der Bevölkerung eines Gebietsteils zu einem anderen Staat, Sicherung innerpolitischer Rechte der nationalen Minderheiten, Vereinbarung über Zollpolitik (vielleicht allgemeines Meistbegünstigungsrecht), Vereinbarung über Rohstoffbezug, Gewährung von Handelsfreiheit in den Kolonien für alle Nationen (vielleicht nicht von Kolonialbesitz), freie Schiffahrt. Weitere Punkte erscheinen zwar wünschenswert, doch ist ungewiß, ob und wann sie verwirklicht werden können. Z. B.: obligatorisches Schiedsgericht für alle Konflikte; vollständige Abrüstung; Vollzugsgewalt in der Hand des Bundes durch Sperre, nötigenfalls durch Waffengewalt; Institution zur Sicherung des Selbstbestimmungsrechts aller Volksgruppen; Sicherung bestimmter kultureller, demokratischer und sozialpolitischer Mindestrechte in allen Staaten; Handelsrechte für Angehörige aller Nationen in allen Gebieten, in den Kolonien zollfrei; Verteilung der Rohstoffe. Wer die Ueberzeugung nicht teilt, daß die zuerst genannten Punkte in den ersten Jahren der überstaatlichen Organisation zur Durchführung kommen werden, für den gelten die folgenden Ausführungen nicht, oder nur zum Teil. Und müßten wir gar annehmen, daß die „Illusion des Völkerbundes“ nicht in naher Zukunft Wirklichkeit werden würde, dann allerdings wäre Deutschlands Niederlage und Unterdrückung besiegelt, und der Ausblick in die Zukunft unseres Volkes gäbe uns Grund zur Verzweiflung.

Welche Bedingungen werden uns möglicherweise auferlegt? Man kann an Gebietsabtretungen denken, z. B. Loslösung des deutschen Elsaß ohne Volksabstimmung, vielleicht weiterer rheinischer Gebiete. So schrecklich eine solche Bedingung auch klingt, sie braucht nicht tragisch genommen zu werden. Denn wenn der Völkerbund kommt, – und von dieser Voraussetzung gehen wir ja aus, – so kann das Verbleiben von Gebieten mit vollständig deutscher |10 Bevölkerung bei Frankreich oder einem neutralen Staate nicht von langer Dauer sein. Und das Schicksal der Zwischenzeit würde auch dadurch erträglicher, daß künftig sicherlich in allen Kulturstaaten die nationalen Minderheiten gewisse Selbständigkeitsrechte erhalten werden, darunter auch das des Gebrauchs ihrer Sprache im öffentlichen Dienst, in Schule und Kirche. Vor allem aber dürfen wir eine solche Bedingung überhaupt für sehr unwahrscheinlich halten, da sie in allzu scharfem Widerspruch mit den Grundlagen jedes Völkerbundes steht.

Wahrscheinlicher ist die Bedingung militärischer Garantien, vielleicht schon vor den Friedensverhandlungen: sofortige Demobilisierung, vielleicht Auslieferung der wichtigsten Kriegsmittel zur See und zu Lande, Abrüstungsmaßnahmen, Niederlegung von Festungen, Neutralisierung Helgolands u. s. w. Diese Bedingung berührt manchen sehr schmerzlich; aber gerade sie am wenigsten darf uns bekümmern. Wir wissen doch, daß wir für die nächsten Jahre nach dem Frieden nicht an einen Krieg denken könnten, selbst wenn wir noch alle diese Mittel in Händen hätten. Und inzwischen werden Schiedsgericht und Abrüstung soweit entwickelt sein, daß wir nicht wehrlos zwischen Kriegsmächten, sondern gleichberechtigtes und gleichgesichertes Glied des Völkerbundes sind.

Schlimmer steht es mit der Bedingung der Geldentschädigung. Wenn sie nicht in offenem Widerspruch zu den Grundsätzen eines Rechtsfriedens als Kriegsentschädigung auferlegt wird, sondern als Beitrag zur Wiederherstellung der Kriegsgebiete, so darf sie nur insoweit als unrechtmäßig bezeichnet werden, als sie über den Anteil Deutschlands an der Schuld zur Entstehung des Krieges hinausgeht. Das wird erst nach Friedensschluß, wenn hoffentlich alle hierhergehörigen Dokumente veröffentlicht werden, beurteilt werden können. Wird dann die Entschädigung wirklich über dies Maß hinausgehen, so kann das allerdings eine wahrhaft ungerechte Bedingung genannt werden. Und diese wird auch sehr hart und drückend sein. Die Form der Abzahlung ist nicht von wesentlicher Bedeutung: vielleicht jährliche Geldzahlungen und Warenlieferungen, oder Auslieferung von Handelsschiffen, sonstigen Verkehrsmitteln, Fabrikanlagen, Maschinen, oder Zwang zu ungünstigen Handelsverträgen, Vorenthaltung von Kolonien, Beschränkung der Rohstoffzufuhr. Mit einem Wort: wirtschaftliche Bedrückung auf Jahre hinaus.

Dies ist die schwere Bedingung. Die einzige. Die Bedingungen des Wilsonfriedens erkannten wir als gerecht und auf die Dauer auch förderlich für unser Wohl. Die vorigen Bedingungen des Ententefriedens waren zwar ungerecht, aber nicht verhängnisvoll. Mit schwerer Sorge zu erfüllen vermag uns nur diese.

Vielleicht versuchen wir, unsere Besorgnis zu beschwichtigen durch das Vertrauen auf Wilson, er werde den Rechtsfrieden durchsetzen. Bis heute (26.10.) hat er dieses Vertrauen noch nicht enttäuscht, auch nicht durch seine Forderung radikaler Sicherheiten vor Beginn der Friedensverhandlungen. Aber: auch er ist nur ein Mensch. Vielleicht wird er Deutschlands Schuld am Kriege größer hinstellen als sie ist und uns eine größere Entschädigung auferlegen, als der Gerechtigkeit entspricht. |11

Ein Trost mag uns auch die Ueberzeugung sein, daß der auferlegte Druck nur von beschränkter Dauer sein wird, vielleicht sogar infolge der Entwicklung des Völkerbundes von kürzerer Dauer, als der Friedensvertrag vorsehen mag. Der beste Trost ist aber die Zuversicht in die unversiegbare Lebenskraft unseres Volkes, das durch Energie, durch technische und biologische Reformen der Arbeits- und Lebensgestaltung und schließlich durch rationelle Organisation des Wirtschaftslebens (Sozialismus) die Arbeitsfähigkeit und den Arbeitsertrag so steigern wird, daß die Lebensbedingungen des ganzen Volkes (die es bisher nicht waren!) erträglich werden.

Wir erkennen jetzt, so deutlich, wie es gegenwärtig möglich ist, was geschehen ist und geschieht: Deutschland ist nach langem Kampf der Uebermacht unterlegen: Zwar wird der Völkerbund kommen, der schließlich allen Völkern ihr gerechtes Los zuerteilen wird. Einstweilen aber wird Deutschland, da es aus diesem vielleicht letzten Kriege der Kulturstaaten als der Besiegte hervorgeht, unter sehr schwerem wirtschaftlichen Druck liegen. |12

3. Der Sinn des Geschehens

Der Krieg ist das natürliche Kampfmittel einer gewissen Kulturstufe. Die Epoche, in der die Menschheit oder ein Volksstamm sich auf dieser Stufe befindet, beginnt mit dem Zeitpunkt, wo durch Uebervölkerung die natürlichen Bedürfnisse der Menschen das Mass der von der Natur gebotenen Güter übersteigt. Das geschah vermutlich vor einigen Jahrhunderttausenden. Ihr Ende erreicht die Epoche, wenn die Entwicklung der Kultur die Organisation der Menschheit herbeigeführt hat. Das geschieht in den Jahrtausenden, in denen wir leben. Die ersten Zeugnisse vom Auftauchen des Menschheitsbewusstseins sind 2 und 3 Jahrtausende alt. Sie stammen aus Vorder- und Ostasien. Im Mittelalter begann der Uebergang vom Menschentumsbewusstsein zum menschheitlichen Gemeinschaftsbewusstsein und damit zur Organisation (Weltkirche und Weltreich). In den letzten Jahrhunderten tauchten die Gedanken eines autonomen Zusammenschlusses der Staaten auf der Grundlage des überstaatlichen Rechts auf (St. Pierre; Kant). Das hiermit geforderte Völkerrecht fängt in den letzten Jahrzehnten, veranlasst durch die gewaltige Steigerung der internationalen Beziehungen, an, sich zu entwickeln. Während des Weltkrieges dringt der Gedanke der überstaatlichen Organisation mit seinen Forderungen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, des Schiedsgerichts, der Abrüstung, immer weiter in das Bewusstsein der Menschheit, wird bald in einer ersten primitiven Gestalt Wirklichkeit werden und sich dann weiter entwickeln, um all die Aufgaben zu übernehmen und allmählich ihrer Lösung näher zu bringen, die das Gemeinschaftsleben der Völker an sie stellt.

So bilden nicht nur unsere Jahrtausende eine wichtige Uebergangszeit, sondern eine bedeutende Wendung in diesem grossen Uebergang vollzieht sich gerade jetzt, durch den Krieg. |13 Es ist, als ob die Kräfte der Anarchie sich noch einmal mit unerhörter Gewalt austoben und gegen Menschen und Menschenwerk wüten wollten, bevor sie weichen und auch das Gebiet des Völkerlebens der Herrschaft der Vernunftordnung überlassen müssen.

Hart und unerbittlich ist der Kampf der Prinzipien am Wendepunkt der beiden Zeiten. Hier Gewalt, Machtwille, der nur auf die eigene Kraft vertraut, dort Rechtlichkeit, Unterordnung der Willkür unter das Gesetz. Heute sind noch beide Kräfte in seltsamer Mischung und Verflechtung in allen Völkern wirksam. Wehe aber dem Volk, das sich sträubt, seinen Willen in den Dienst des neuen Prinzips zu stellen. Die neue Zeit wird nicht seine kriegerische Tapferkeit, seinen aufstrebenden Machtwillen achten, sondern es als Hort der Anarchie verfemen. Tragisch mag das Schicksal manches kraftvollen Mannes gewesen sein, der beim Uebergang vom Faustrecht zur gesetzlichen Ordnung im Staatsinnern nicht mehr als Held, sondern als Verbrecher betrachtet und behandelt wurde. Wird beim gegenwärtigen Umschwung in der Völkergeschichte irgend ein Volk eine ähnliche Rolle spielen? Russland hat sich, bevor es ein Opfer dieser Gefahr wurde, mit gewaltiger innerer Kraft zum Bewusstsein der weltgeschichtlichen Wende durchgerungen, mit unerhörter Kühnheit die geistigen und politischen Fesseln der alten Zeit von sich geworfen und sich entschlossen und rückhaltlos mit beiden Füssen auf den neuen Boden des Rechtes der Völker gestellt. Noch ist die Entscheidung nicht gefallen, ob es zu spät hierzu war. Sehr spät war es; der Umschwung musste allzu plötzlich geschehen, und das muss Russland jetzt büssen. Noch auf lange Zeit hinaus wird es an den Wunden der Uebergangskrise und an den Fehlern der allzu gewaltsamen Neugestaltung leiden.

Aehnliches geschieht mit Deutschland. Doch bei uns in andern |14 Formen, in anderm Tempo, mit andern Mitteln als in Russland. Das entspricht der Verschiedenheit der Volkscharaktere.

Historisch zu verstehen ist es, dass unser Volk später als die Westeuropäer und Amerikaner dem neuen Geiste zugänglich wird. Durch Betrachtung seiner geographischen Lage und seines Schicksals im Mittelalter und in der Neuzeit wird uns klar, wie schwer es ihm gemacht worden ist, sich gegen alle Nachbarn durchzusetzen und schliesslich zu einer Reichseinheit zu gestalten. Die kriegerische Erziehung durch diese geschichtlichen Notwendigkeiten hat den Charakter deutlich beeinflusst, besonders den der führenden Schicht, die, von Eroberern und Kolonisatoren abstammend, diesen Charakter durch Herrschaft über Landbesitz und militärische Betätigung gefördert und gefestigt hat. Den breiten Schichten des Volkes aber ist es als Schuld anzurechnen, dass sie nicht schon im Laufe des vorigen Jahrhunderts die Leitung des Staates jener Oberschicht aus der Hand genommen haben. Ein Blick in das sozialdemokratische Programm zeigt uns, dass der Arbeiterklasse theoretisch längst bekannt war, in welcher Weise das Verhältnis der Staaten zueinander umzugestalten sei. Doch das Volk der Dichter und Denker war zu unpolitisch, um solchen Fragen die volle Aufmerksamkeit zuzuwenden oder gar ihre Lösung selbst durchzusetzen. Auch dies ist verständlich, ja beruht auf einem Charakter, den wir hochschätzen und der das Volk zu gewaltigen Leistungen auf andern Kulturgebieten befähigt hat. Verständlich, aber nicht entschuldbar. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht, und ihr Urteil ist unerbittlich. Unsere Generation und die folgende haben das Schwergewicht der Busse zu tragen. |15

Auf den Einwand, Deutschland habe doch nicht – oder wenigstens nicht allein – den Krieg verschuldet, braucht nicht eingegangen zu werden. Das Wesentliche ist: Die Geistesverfassung Europas, die den Weltkrieg unvermeidbar und dann seine Beendigung bisher unmöglich machte, hat ihren Hauptnährboden in Deutschland. Ist es unter uns erforderlich, das erst zu beweisen? Ich kann hier nur kurz hinweisen auf Deutschlands Haltung bei den Haager Conferenzen und den Hass der andern Völker als Folge davon; auf die Gleichgültigkeit und den Spott unserer öffentlichen Meinung gegenüber dem, was im Haag geschah, im Vergleich zu den andern Völkern; auf die Wochen vor Ausbruch des Krieges, auf den Anfang des Jahres 1917, als eine schon begonnene Anbahnung zum Frieden durch den U-Bootkrieg zunichte gemacht wurde; auf den Januar 1918 mit den Ereignissen des Wilsonʼschen Friedensprogramms und der Berliner Militärherrschaft. Spätestens jetzt bei den Verfassungsreformen dieser Tage müssen doch jedem die Augen darüber aufgehen, wie sehr bei uns der kriegerische Gesichtspunkt dem politischen übergeordnet war, da die militärischen Instanzen durch die Verfassung in der Lage waren, neben und über den politischen zu regieren.

Und welches ist unser Anteil an Deutschlands Schuld? Zwar fühlen wir uns mit dem ganzen deutschen Volke solidarisch, d. h. innerlich schicksals- und schuldverknüpft. In noch engerem Masse fühlen wir uns aber verbunden mit denen aus dem Volke, die uns nach Lebensart, Gesinnung und Anschauung nahe stehen, mit den geistigen Menschen. Welchen Teil der Schuld tragen sie? Ihre Gleichgültigkeit gegen das politische Leben hat verschiedene Gründe. Von den beiden Polkräften des |16 geistigen Lebens: Aktivität und Kontemplation, die irgendwie eine noch unerkannte Synthese finden müssen, hat die zweite, die quietistische, mystische vielleicht auf den deutschen Menschen allzu starken Einfluss ausgeübt. Noch wissen wir selbst das Gleichgewicht zwischen beiden Kräften nicht zu finden, und müssen doch das strenge Urteil fällen: Disharmonie ist Schuld.Footnote 24 Ein weiterer Grund, der vielleicht mit jener nach innen gerichteten Einstellung zusammenhängt, ist mangelnde Konsequenz, die uns versäumen liess, nach dem, was theoretisch als richtig erkannt war, die Aussenwelt zu gestalten. Je klarer die ethischen Forderungen gerade von der deutschen Wissenschaft herausgearbeitet worden sind, umso schwerer ist unsere Schuld, dass sie auf das Gebiet der Theorie beschränkt oder bestenfalls auf das Privatleben angewandt wurden. Verhängnisvoller noch in seiner Wirkung auf das deutsche Geistesleben und auf das Urteil des Auslands über uns ist die Tatsache, dass eine Art der Geschichtsbetrachtung aufgekommen ist und noch bis heute starken Einfluss ausübt, die von |17 der vorhandenen Gestalt des innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Lebens ausgehend das Bestehende anerkannte, ohne es an dem Massstab eines objektiven Wertes zu prüfen. Aus dieser geschichtlichen Betrachtung ging eine Ethik hervor, die lehrte, dass das Wesen des Staates reine Macht und seine Aufgabe Machterweiterung sei. Kennzeichnend für die Auffassung ist ferner die Bewertung der nationalen Ehre und der absoluten Souveränität des Staates. Ihr Grundfehler liegt darin, dass sie die Tatsache übersieht, dass auch die Staaten Bestandteile eines umfassenden Zusammenhanges, Glieder einer Gemeinschaft sind. Dass diese Auffassung nicht nur von Staatsmännern, sondern auch von einflussreichen Vertretern der Geisteswissenschaften verkündet worden ist und zum Teil noch heute verkündet wird, bedeutet eine besonders schwere Belastung unserer, der Geistigen, Schuldrechnung und unserer Verantwortung für die Zukunft.

4. Was sollen wir also tun?

Je grösser die Schuld, um so dringender die Aufgabe. Wehren wir uns nicht gegen das aufkeimende Schuldbewusstsein! Aber verfallen wir dann auch nicht in Verbitterung oder Resignation! Hierzu ist weder genügender Grund noch Zeit vorhanden. Die Zeit drängt, denn die nächsten Jahre werden für die Gestaltung des Weltgefüges wie für die des Volksaufbaus in jeder Beziehung entscheidend sein. Das Erlebnis der letzten Jahre hat uns dazu geführt, einer dieser Beziehungen eine besondere Bedeutung beizulegen, nämlich der Politik im weitesten Sinne. Wenn wir glauben, gerade hier den Hebel ansetzen zu müssen, so befürchten wir nicht, dadurch könne unser Tätigkeitsbereich zu eng umgrenzt oder zu einseitig werden. Denn zur Politik gehört uns alles, was mit dem öffentlichen Gemeinschaftsleben der Menschen zusammenhängt, sowohl der Geist, |18 den die Gemeinschaft verkörpert, wie auch ihre Struktur: der Aufbau ihrer Gliedmassen, der Völker, grosser und kleiner Organe bis herab zu den Menschenatomen. So sind uns alle Berufe: – Erziehung und Pflege der Körper und der Seelen, Erforschung der Zusammenhänge der Natur, des Geistes und des Weltgeschehens, Gestaltung von Dingen oder menschlichen Beziehungen nach dem innerlich Erschauten, Erzeugung und Vermittlung der Dinge, deren Leib und Seele zum Leben bedürfen, – zwar ihrer Art nach gesonderte Funktionen, ihrer Wirkung nach aber Leistungen am gleichen Werk. Um das vielfältige Getriebe all dieser Leistungen der chaotischen Willkür zu entziehen und der zielbewussten Vernunft zu unterwerfen, bedarf es einer Gemeinschaftsgestalt, die jedem Gliede Freiheit und Leistung zumisst und die noch einem jeden Atom jedes Gliedes Raum zur Entfaltung seiner göttlichen Seele verschafft. Diese Form, mehr Organismus als Organisation, zu schaffen und zu entwickeln, ist uns die Aufgabe der Politik. In diesem Sinne ist Politik als Wissenschaft neben der Individualethik der andere Zweig der praktischen Philosophie, also eine Wertlehre; und Politik als Tun besteht in der Verwirklichung dieser Werte. Das ist Aufgabe eines Einzelnen oder einer Arbeitsgemeinschaft solcher, die gleiche Werte anerkennen und durchsetzen wollen. Die Bedeutung dieser Aufgabe und die Verantwortung, die mit ihr übernommen wird, sind uns klar geworden durch das Erkennen der Schuld, die wir geistigen Menschen am Schicksal unseres Volkes und der Menschheit, und gerade auch an der Katastrophe der letzten Jahre tragen.

Kernberger (= R.C.), 29.10.18