Die Bestimmung von Neurofilament-Leichtketten (NFL) im Serum ist ein wesentlicher Bestandteil in der Diagnostik der multiplen Sklerose (MS) und liefert wertvolle Aussagen zur Diagnosefindung, die durch Magnetresonanztomographie (MRT) erfolgt [4, 49].

Somit gliedert sich die vorliegende Übersicht über die NFL als prognostischer Biomarker in der Diagnostik der MS in die Serie „Biomarker“ des Zentralblatts für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie ein [15, 41, 42, 45]. Diese basiert auf Grundlagen der „S2e-Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose“, der „S1-Leitlinie zur Pädiatrischen Multiplen Sklerose“, der „Richtlinie 98/79/EG des Europäischen Parlaments“ und des „Rates über In-vitro-Diagnostika“ sowie der Neufassung der „Richtlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung laboratoriumsmedizinischer Untersuchungen – Rili-BÄK“ [9, 11, 20, 32,33,34, 43].

Das Krankheitsbild multiple Sklerose

Multiple Sklerose stellt die häufigste chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) mit einer Prävalenz von über 2 Mio. Menschen weltweit dar [1,2,3,4, 34, 35]. Dabei greift das fehlgeleitete Immunsystem die eigenen Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark an. Sie ist charakterisiert durch vollständig oder teilweise reversible Episoden neurologischer Symptome, welche typischerweise Tage oder Wochen andauern können. Zu diesen zählen die monokuläre Blindheit aufgrund der Neuritis optica, eine Schwäche der Extremitäten oder sensible Ausfälle aufgrund der transversen Myelitis sowie eine mögliche Ataxie im Rahmen einer Kleinhirnläsion [39,40,41,42, 49, 53,54,55].

Zu den häufigsten Symptomen der MS-Erkrankung zählen:

  • Muskelschwäche, Gesichtslähmungen, Muskelverkrampfungen

  • Lähmung von Extremitäten

  • Sprechstörungen mit undeutlicher, verwaschener Sprache

  • Gleichgewichtsstörungen

  • Schluckstörung

  • Empfindungsstörungen wie Taubheitsgefühl, Kribbeln, Ameisenlaufen

  • Fatigue

  • Sehstörungen

  • Depressionen

  • Blasenstörungen

  • Inkontinenz

  • Mastdarmstörungen

  • Kognitive Störungen

  • Konzentrationsstörungen

Verlaufsformen der MS

Verlaufsformen der MS kann man in 3 Formen einteilen:

  1. 1.

    Schubförmige remittierende Form

  2. 2.

    Sekundäre chronische progrediente Form

  3. 3.

    Primär-chronische progrediente Form

Von allen Betroffenen haben 85 % einen schubartigen Verlauf.

Nach etwa 10–20 Jahren geht die häufigste schubförmig-remittierende Form meist in eine sekundär-progrediente Form über, wobei ca. 15 % von einer primär-progredienten Form betroffen sind [4, 21,22,23,24,25, 35, 56, 57]. Etwa 75 % der Betroffenen sind Frauen, wobei Personen mit einem erkrankten erstgradig Verwandten ein Erkrankungsrisiko von 2–4 % aufweisen (Risiko der Allgemeinbevölkerung: 0,1 %) und Zwillinge eine Konkordanz von 30–50 % haben [4, 7, 35]. Die Prävalenz der MS hat von 2008 mit 30 pro 100.000 Einwohner bis 2013 mit 33 pro 100.000 Einwohner zugenommen [2, 44, 50]. Die höchsten Prävalenzen finden sich in Nordamerika (140 pro 100.000) und in Europa (108 pro 100.000); die niedrigsten in Afrika südlich der Sahara (2,1 pro 100.000) und in Ostasien (2,2 pro 100.000; [2, 5,6,7,8]).

Studien zeigten, dass mehr als 200 Genvarianten, die sehr häufig die Immunantwort betreffen, das Erkrankungsrisiko erhöhen [2, 4, 16,17,18,19, 35, 45, 46, 51, 52].

Eine gesteigerte Inzidenz findet sich in gemäßigten Klimazonen, was Ausdruck einer saisonalen Sonnenlichtexposition sein kann, wobei sich der Vitamin-D-Spiegel verändert [2, 32]. Neben den genetischen Faktoren werden auch Pathogene, welche hauptsächlich in dieser Region auftreten, wie Tabakexposition, Übergewicht und Mononukleose, auch im Rahmen eines molekularen Mimikries, diskutiert [1, 2, 5,6,7,8, 32, 35]. Im Mausmodell scheint dem intestinalen Mikrobiom eine große Rolle zuzukommen [36]. In Studien werden außerdem die chronische zerebrospinale venöse Insuffizienz, Impfungen gegen Hepatitis B und Tetanus, Immunisationen, organische Lösungsmittel, das Homocystein im Serum, traumatische Verletzungen und die Bleiexposition diskutiert [2, 9, 18, 19, 26,27,28,29,30, 38, 39, 41, 43, 45].

Die Magnetresonanztomographie (MRT) erlaubt eine genaue und frühe Diagnostik durch Aufnahme von Schichtbildern. Dadurch lassen sich Entzündungsherde bzw. geschädigte Nervenzellen gut darstellen [31, 35, 48, 50]. Betroffen sind die graue und weiße Substanz, der Hirnstamm, das Rückenmark und der Nervus opticus, wobei zur Diagnosestellung auch eine zeitliche Dissemination vorhanden sein muss [4, 7, 10, 13, 20, 26, 34]. Die Ursache der Entstehung der MS liegt im genetischen Bereich und hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie Umwelt, geographische Lage, Sonneneinstrahlung. Nordeuropa und Nordamerika haben die höchsten Erkrankungsraten.

Die klonale Expansion der Immunglobulin-produzierenden B‑ und Plasma-Zellen im ZNS resultiert in den charakteristischen nachweisbaren oligoklonalen Banden im Rahmen der Liquoruntersuchung [12, 15, 20, 30, 32, 35].

Der Biomarker NFL im Liquor und im Serum scheint vielversprechend axionale pathologische Prozesse anzuzeigen [30, 35,36,37,38,39,40, 43,44,45].

Referenzbereiche

NfL im Serum liegt bei 80 % der Kontrollpatienten zwischen 2 und 35 pg/ml. NFL im Liquor liegt bei 80 % der Kontrollpatienten zwischen 62 und 553 pg/ml. Eine NFL-Konzentration von über 500 pg/ml im Liquor gibt einen Hinweis auf ein Frühstadium der MS [11, 13, 14, 27, 28, 30, 31, 35].

Biochemie von NFL

Das Strukturprotein NFL mit einer Molmasse von 68 kDa stellt eine der Hauptkomponenten des Zytoskeletts von Neuronen dar und ermöglicht strukturelle Stabilität sowie schnelle Reizweiterleitung [20, 30, 35, 50].

Bei axionalen Schäden des zentralen oder peripheren Nervensystems wird NFL im Liquor und Serum nachweisbar, wobei die Konzentrationen im Serum deutlich niedriger sind [3, 16, 27, 28, 31, 34,35,36]. Es findet sich keine statistisch signifikante Geschlechterdifferenz. Allerdings steigt die Konzentration im Serum pro Jahr um ca. 2,2 % an, was mit der natürlichen Nervendegeneration im Alter erklärbar ist [3, 27]. Genau festgelegte altersspezifische Grenzwerte sind zurzeit noch nicht definiert, wobei z. B. die mediane NFL-Konzentration im Serum (in einer Studie von 2017) 22,9 pg/ml betrug [3, 10]. Der Nachweis erfolgt mittels ELISA („enzyme-linked immunosorbent“; [3, 31, 35]).

Die Neurofilament-Konzentration ist bei schnell fortschreitenden neurodegenerativen Erkrankungen erhöht [30, 35, 50].

Erhöhte Konzentrationen des Biomarkers NFL finden sich z. B. bei der amyotrophen Lateralsklerose, neurodegenerativen (frontotemporale Demenz, Chorea Huntington), ischämischen oder entzündlichen Erkrankungen, traumatischen Verletzungen und akuten Gehirn- oder Rückenmarkschäden sowie bei psychiatrischen Funktionsstörungen und kognitiv eingeschränkten humanen Immundefizienz-Virus(HIV)-Patienten [3, 14, 27, 28, 30, 50].

Bezüglich der MS stellt NFL einen dringend benötigten Biomarker dar, dessen Konzentration bei MS-Patienten nicht nur signifikant höher ist als bei gesunden Personen, sondern mit dem Auftreten von fokalen Läsionen im Gehirn und Rückenmark korreliert, welche durch die MRT dargestellt werden [30, 49].

Die Bestimmung ist besonders nützlich bei klinisch stummen Erkrankungsverläufen und auch, wenn klinische Veränderungen schwierig zu interpretieren sind [15, 41].

Studien gehen bei hohen NFL-Konzentrationen im Liquor von einem schlechten Langzeitverlauf aus [15, 30, 35]. Während einer Therapie sinken die Konzentrationen in den Normbereich, sodass NFL die Erkrankungsaktivität, die Krankheitsprogression und die Therapieeffizienz reflektiert [13, 15, 40, 47].

In Studien scheint NFL hilfreich bei der Differenzialdiagnose der amyotrophen Lateralsklerose zu sein, wobei eine niedrigere Konzentration ein Zeichen für einen prognostisch milderen Krankheitsverlauf sein kann [15]. Nach einem Herzstillstand eignet sich NFL als wertvoller prognostischer Marker für das neurologische Langzeitresultat [27, 34].

Indikation zur Bestimmung von NFL

Unter folgenden Bedingungen ist die Indikation der NFL-Bestimmung gegeben:

  • Diagnosesicherung, Prognose und Therapiemonitoring von MS

  • Erkennung einer Erkrankungsprogredienz

  • Früherkennung eines Erkrankungsrückfalls

  • Differenzialdiagnose der amyotrophen Lateralsklerose

  • Neurologischer Outcome-Marker nach Herzstillstand

Analog zu anderen Biomarkern ist die Bestimmung von NFL aufgrund der zu geringen Spezifität und Sensitivität sowie eines geringen positiven prädiktiven Wertes nicht als Screening-Untersuchung asymptomatischer Patienten in Check-up-Untersuchungen geeignet, sondern sollte nur bei bereits vorliegenden neurologischen Erkrankungen in Verbindung mit anderen Untersuchungen angewendet werden [3, 4, 26,27,28,29,30, 33,34,35,36, 41]. Zukünftige Studien sollten nach einer systematischen Erfassung der bereits publizierten Daten durch bibliometrische [56, 57] und metaanalytische [45, 56] Verfahren auf der Basis molekularbiologischer [39, 40] und biochemischer [30, 35] Methoden neue Aspekte der Thematik erforschen.

Ausblick

Werden die unterschiedlichsten Aspekte der arbeitsmedizinischen Vorsorge, wie sie aktuell im Zentralblatt für Arbeitsmedizin publiziert und diskutiert werden, betrachtet, so wird klar, dass NFL-Bestimmungen keine Berechtigung im Rahmen von Managerchecks im Kontext der Arbeitswelt haben, wohl aber im Bereich der Neurologie.

Fazit für die Praxis

  • Der Biomarker Neurofilament-Leichtketten (NFL) eignet sich zur Diagnose, Therapie‑, Verlaufs- und Progresskontrolle der multiplen Sklerose und zeigt häufig Progresse an, bevor diese überhaupt klinisch oder radiologisch detektierbar sind.

  • Es besteht in der Regel eine gute Korrelation der Werte zum klinischen Verlauf unter medikamentöser Therapie.

  • Erhöhte Konzentrationen vor einer Behandlung können auf eine schlechte Prognose hindeuten.

  • In der Primärdiagnostik ist die Bestimmung von NFL in Kombination mit der Magnetresonanztomographie einsetzbar.

  • Die Konzentrationen sind bei vielen verschiedenen Krankheiten erhöht, wie u. a. bei der amyotrophen Lateralsklerose, neurodegenerativen (frontotemporale Demenz, Chorea Huntington), ischämischen oder entzündlichen Erkrankungen, traumatischen Verletzungen und akuten Gehirn- oder Rückenmarkschäden sowie bei psychiatrischen Funktionsstörungen und kognitiv eingeschränkten humanen Immundefizienz-Virus(HIV)-Patienten.