Im Jahr 2000, gut zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, herrschte in den Staaten des ehemaligen Ostblocks noch freudige Erwartung; die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in einem vereinigten Europa waren weitgehend ungetrübt.

Auch Ungarn, das bekanntlich vier Jahre später – zusammen mit sieben weiteren mittel- und osteuropäischen Ländern – Vollmitglied der Europäischen Union werden sollte, bereitete sich damals auf die kommende EU-Mitgliedschaft vor. Von dieser erwartete man sich nicht nur die Festigung von Freiheit, Demokratie, Sicherheit und Wohlstand, sondern auch eine Verbesserung der Lage der insgesamt rund 2,5 Mio Menschen umfassenden ungarischen Minderheiten, die va in den Nachbarländern Ungarns beheimatet sind. Vor diesem Hintergrund fand 2000 in Budapest im Rahmen eines EU-Schulungsprogramms für Hohe Beamte ua ein Treffen mit einigen (west-)europäischen Minderheitenexperten statt. Die Überraschung – und Enttäuschung – bei den ungarischen Gesprächspartnern war zum Teil groß, als von Seiten der Experten dargelegt wurde, dass sich im – damaligen – Recht der EU nur wenige und nur mittelbare Anknüpfungspunkte zugunsten einer Besserstellung (auch) von Minderheiten fänden, wohingegen sogar zu befürchten sei, dass va infolge des EU-Binnenmarktkonzepts nationale Minderheitenschutz-Systeme ins Wanken geraten könnten. – Weshalb eigentlich? Zwar hatten die Gründungsväter und -mütter der Europäischen Gemeinschaften diese in erster Linie als Friedensprojekt im Rahmen einer – noch auszubauenden – Wertegemeinschaft betrachtet, diese jedoch zunächst nur als Wirtschaftsgemeinschaft konzipiert. Folglich hatte sich die Idee der Wertegemeinschaft bis in die jüngste Zeit hinein kaum im Normenapparat der Gemeinschaften bzw der Union niedergeschlagen. Die Gemeinschaften und später auch die EU waren insofern über Jahrzehnte hinweg primär als „Wirtschaftsgemeinschaft der Großen“, konkret der Nationalstaaten, zu charakterisieren, in der weder die Menschen- und erst recht nicht die Minderheitenrechte einen Platz hatten. Was für die „Großen“ im Gefolge des europarechtlichen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und der Binnenmarktfreiheiten einen epochalen Schritt hin zum Abbau politischer und wirtschaftlicher Grenzen bedeutete, barg und birgt für die „Kleine(re)n“, nämlich für die in ihrer kulturellen Existenz auf einen gewissen Gruppenbestand vor Ort angewiesenen nationalen Minderheiten, zumindest im Ansatz die Gefahr ihrer Auflösung. Dies jedenfalls dann, wenn insbesondere der freie Personenverkehr „zu viel“ Ab- bzw Zuwanderung nach sich zieht – und vor allem dann, wenn für nationale Minderheiten existenziell notwendige „Sonderrechte“, die auf nationaler Ebene zwecks Erreichung einer echten Chancengleichheit (Stichwort „positive Diskriminierung“ oder „affirmative action“) eingeräumt wurden, auf der EU-Ebene durch das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit wieder in Frage gestellt werden.

Vor diesem Hintergrund widmet sich der Beitrag von Waldemar Hummer den Neuerungen, welche in Recht und Rechtsprechung der EU im Hinblick auf die Minderheitenfrage ab dem Vertrag von Nizza (2001) bis zum Vertrag von Lissabon (2007) zu verzeichnen sind (allgemein zur Minderheitenfrage in der EU vgl Christoph Pan, EJM 1-2009; zur Thematik der Vielsprachigkeit in der EU vgl Johan Häggman, EJM 4-2009). Als geradezu epochal können dabei Entwicklungen bezeichnet werden, die einen möglichen Ausweg aus dem Kollisionsdilemma von EU-Recht einerseits und förderndem Minderheitenschutz (im Sinne von „affirmative action“) andererseits aufzeigen und die überdies zu einer erstmaligen Verankerung des Begriffs der „Minderheit“ im Primärrecht der EU und damit zu einer Anerkennung des fördernden Minderheitenschutzes „als zu schützender Grundwert“ (Hummer) geführt haben.

Diese erfreulichen Entwicklungen gerade in der Minderheitenfrage, wodurch übrigens die EU dem Europarat auch in dieser Hinsicht ein Stück näher gekommen ist, sind nicht nur der Initiative von Fachleuten auf NGO-Seite sowie vieler engagierter (EU-)Politiker, sondern speziell auch dem Einsatz Ungarns zu verdanken.

Hier hat sich das schlichte Motto „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, einmal mehr als zielführend erwiesen, auch wenn die betreffenden „Wege“ häufig nur schwer und mit großem Zeitaufwand, der sich allein schon aus der notwendigen Überzeugungsarbeit ergibt, begehbar sind. Wer sich der Erreichung bestimmter ideeller Ziele wie jenem des Minderheitenschutzes verschrieben hat, der weiß, dass hier nur in langfristigen Zusammenhängen gedacht werden sollte, dass immer auch mit Rückschlägen zu rechnen ist und dass schließlich auch – wirklich oder vermeintlich – kleine Schritte schon von großer Bedeutung sein können.

Umgekehrt ist wiederum sicher, dass ohne den entsprechenden politischen Willen auf verantwortlicher Seite auch keine Chancen bestehen, Fortschritte zugunsten der Minderheiten in Europa zu erreichen. Dies selbst dann nicht, wenn, wie im Falle der Friesen in den Niederlanden, die Rechtslage formaliter gar nicht so schlecht ist und sogar der Grundgedanke des fördernden Minderheitenschutzes mit aufgegriffen wurde. So kann nicht oft genug daran erinnert werden, dass „Recht, um effizient sein zu können, nicht nur gesetzt, sondern auch umgesetzt, gesellschaftlich grundsätzlich akzeptiert, ‚gelebt‘ und ggf auch […] eingeklagt werden muss“ (so das Vorwort zu EJM 1-2010). Auch Richt Sterk verweist in ihrem Beitrag auf diese Notwendigkeiten, indem sie die vielen praktischen Hindernisse erörtert, die in den Niederlanden einem effektiven Gebrauch des Friesischen im Bildungswesen sowie in Justiz und Verwaltung entgegenstehen. Dabei zeigt Sterk zugleich Wege auf, wie diese Hindernisse – bei entsprechendem politischem Willen – überwunden werden könnten und schlägt überdies speziell für den privaten Bereich gesetzgeberische Ergänzungen vor, die sich langfristig auch auf die gesellschaftliche Akzeptanz des Friesischen auswirken könnten. Auch hier gilt es, auf breiter Ebene Überzeugungsarbeit zu leisten, indem man die Verantwortlichen zB daran erinnert, welch klare, vor allem wirtschaftliche Vorteile die effektive Förderung einer Minderheitensprache hervorzubringen vermag (vgl dazu auch den Beitrag „Neue Perspektive beim Europarat: Minderheitensprachen als Instrument der Regionalentwicklung“ in EJM 2-2010).

Kraft seines christlich inspirierten Willens und mittels stetiger Überzeugungsarbeit neue Wege hat auch Erzbischof Alfons Nossol, Bischof em. von Oppeln (Opole)/Oberschlesien, eingeschlagen, indem er die Grenzen nicht nur zwischen Konfessionen, sondern auch zwischen Polen und Deutschland und zwischen der polnischen Mehrheit und der deutschen Minderheit überschritten hat und sich in diesem Sinne immer wieder neu als Brückenbauer im Dienste der Versöhnung betätigt. In seinem Beitrag „Ökumenisch-pastoraler Dienst in einer Lokalkirche mit Minderheiten“ bringt er, erstmals im EJM, die (katholisch-)theologische Perspektive zur Minderheitenfrage ein, indem er die „nationale Frage“ zunächst theologisch bewertet. Er erörtert dabei – ohne Scheu auch vor Selbstkritik – die offizielle Haltung der Katholischen Kirche zu dieser Thematik und schält dann die Grundlinien heraus, die auch aus theologischer Sicht das Prinzip der „Einheit in der Vielfalt“ bestätigen, dies sowohl in der Minderheitenfrage als auch ganz allgemein im Verhältnis zwischen den „europäischen Völkern“. Schließlich leitet er daraus ganz konkrete pastorale Aufgaben und Herausforderungen für die Lokalkirche ab.

Als Brückenbauer hat sich auch der 2011 verstorbene Rudolf Hilf betätigt. In seinem Nachruf erinnert Christoph Pan an die verschiedenen Stationen im Leben von Rudolf Hilf, die von dessen Engagement für die Sudetendeutsche Landsmannschaft und ganz allgemein in der Minderheitenfrage – Letzteres vor allem durch die Gründung des Internationalen Instituts für Nationalitätenrecht und Regionalismus INTEREG in München – bis hin zu seinem aktiven Einsatz zugunsten der deutsch-tschechischen Versöhnung reichen. Gerade der Lebensweg von Rudolf Hilf belegt einmal mehr, dass ideelles Engagement nicht nur zu Erfolgen (in seinem Fall zB die Gründung des INTEREG und der Euregio Egrensis) führen kann, sondern auch mit gewissen Rückschlägen leben muss, die, wie Christoph Pan darlegt, von Rudolf Hilf nicht als echte Niederlagen, sondern stets als Herausforderungen begriffen wurden.

Beate Sibylle Pfeil