FormalPara Müller, Sebastian:

Die Grenzen des Konsums. Eine Verantwortungstheorie der Konsumentenrolle. Frankfurt am Main: Campus 2022. 424 Seiten. ISBN: 978-3593516240. Preis: € 39,–.

Wie man in „Empire of Things“ von Frank Trentmann eingangs lesen kann, ist Konsum zum bestimmenden Merkmal unseres Lebens geworden, und statt Krieger oder Arbeiter sind wir heutzutage mehr denn je Verbraucher; eine Feststellung, die in den letzten Jahrzehnten unzählige Male so getroffen wurde. Angesichts dieser Einordnung drängt sich die Frage auf, wie die soziale Stellung der Verbraucher und Verbraucherinnen eigentlich konzeptionell-terminologisch einzuschätzen ist.

In der Verbrauchs- und Verbraucherforschung gibt es hierzu mehrere Vorschläge. So wird von Antlitz („face“), Charakter, Habitus, Identität, Image, Leitbild, Rolle, Sozialfigur, Stereotyp und Subjekt gesprochen, um das Besondere des Verbraucherseins einzufangen, oft ohne großen Theorieaufwand, mithin recht beliebig und folgenlos. Wobei für die meisten Vorschläge gilt, dass die innere Befindlichkeit, Bewusstseinslage, Haltung der Verbraucher und Verbraucherinnen im Vordergrund stehen, weniger die soziale Dimension, die empirisch-konkrete, interaktionsbasierte Wechselwirkung untereinander. Ausgenommen davon ist einzig der Begriff der sozialen Rolle, der es explizit auf die Vermittlung von Gesellschaft und Individuum anlegt und für den die direkte Begegnung zwischen Personen, mithin Interaktivität konstitutiv ist. Für die Konsumsoziologie als „Erfahrungswissenschaft“ geht vom Rollenbegriff daher ein besonderer Reiz aus, wenn alle anderen Begrifflichkeiten auch unverändert relevant bleiben.

Vor diesem Hintergrund weckt die Qualifikationsarbeit „Die Grenzen des Konsums. Eine Verantwortungstheorie der Konsumentenrolle“ von Sebastian Müller aus dem Jahre 2022 großes Interesse, da Müller die soziologische Rollentheorie für sein Unterfangen, gängige Verantwortlichkeitszumutungen gegenüber heutigen Verbrauchern und Verbraucherinnen kritisch zu hinterfragen, zentral in Stellung bringt.

Die Arbeit operiert auf drei Forschungsfeldern zugleich, nämlich Konsum‑, Verantwortungs- und Rollenforschung, ein durchaus ambitioniertes Unterfangen. Der Text wendet sich nach einer Einleitung zunächst der Konsumforschung zu, führt dann in die Verantwortungsforschung ein, fasst im dritten Kapitel den Stand der Forschung zu/r Verantwortung und Verantwortlichkeiten von Verbrauchern und Verbraucherinnen zusammen, entwickelt daraufhin eine eigene Konzeption der Konsumentenrolle und legt schließlich im fünften und sechsten Kapitel den Entwurf für eine Verantwortungstheorie der Konsumentenrolle vor. Die Arbeit wurde an der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eingereicht und abgeschlossen.

Bezugnehmend auf das eingangs bekundete Erkenntnisinteresse richtet sich die weitere Aufmerksamkeit hier in besonderem Maße auf Müllers eigene Konzeption der Konsumentenrolle. Müller rekapituliert hierfür den Stand der soziologischen Rollentheorie (deren Hochzeit schon Jahrzehnte zurückliegt), wenngleich nur limitiert-selektiv, und fokussiert selber vier zentrale Merkmale sozialer Rollen, nämlich Handlungen, Normen und Sanktionen, Einstellungen und Artefakte. An fünfter Stelle folgen nachzüglerisch noch zwei Eigenschaften, und zwar Übertragbarkeit und Alltäglichkeit.

Betrachtet man Müllers vier Merkmale im Einzelnen, so ist deren Auswahl durchweg triftig. Allenfalls bei der Frage, inwiefern subjektive Überzeugungen der Rollenträger bei der Rollenausführung für das soziologische Rollenverständnis selber relevant sind, regen sich gewisse Einwände. Gravierender ist hingegen, dass diese vier Merkmale im Prinzip für jedes soziale Handeln nach Max Weber bedeutsam erscheinen. Anders formuliert: Es gibt kein soziales Verhalten, das sich nicht aus Handlungen, Normen, Einstellungen und Artefakten zusammensetzt. Insofern, gemäß der Regel „genus proximum et differentia specifica“, ist die Hervorhebung dieser vier Merkmale sicher nicht verfehlt, aber rein auf sich gestellt zu unbestimmt.

Dies ändert sich geringfügig, schaut man die beiden Eigenschaften „Übertragbarkeit“ und „Alltäglichkeit“ näher an. Denn hier unterscheidet Müller zwischen Institutionen, die soziale Rollen „sind“, nämlich dann, wenn ihre Übertragbarkeit und Ausführbarkeit durch verschiedenste Personen (nahezu folgenlose Austauschbarkeit der Rollenträger) gewährleistet sind, und solchen, für die das nicht gilt, wenn mithin Idiosynkrasien das Geschehen bestimmen. Was hiermit zum Vorschein kommt, sind notwendige strukturelle Vorbedingungen der Möglichkeit von Rollenbildung und Rollenbedarf überhaupt, die bei Müller beiläufig als „Institution“, „Kontext“ oder „Set“ zwar Erwähnung finden, ohne dass er jedoch über eine eigene Gesellschafts- oder Institutionentheorie verfügt. Ralf Dahrendorf, auf den sich Müller wiederholt bezieht, argumentierte 1958 zwar auch nicht im Rahmen einer explizit entfalteten Gesellschaftstheorie. Doch wird bei Dahrendorfs Vorgehensweise immerhin und unmissverständlich klar, dass soziale Rollen ihre soziale Legitimität und Funktionalität zwingend erst durch sogenannte „Positionssegmente“ wie Beruf, Familie, Politik erfahren, quasi strukturalistisch top down gedacht. Freilich vertrat Dahrendorf damals auch die Auffassung, dass es den rollenlosen Menschen gar nicht gäbe.

Eine zweite Unschärfe ergibt sich bei Müller dadurch, dass er wiederholt zwar von „Austausch“ und „Interaktion“ spricht, sein Rollenverständnis letztlich aber eines ist, dies zeigen seine vier Hauptmerkmale fast durchgängig, das vom Grunde her nicht interaktionistisch angelegt ist, selbst wenn er es bisweilen explizit so bezeichnet. Dabei ist eine Besonderheit des soziologischen Rollenbegriffs immer gewesen, dass direkte Begegnungen von Angesicht zu Angesicht konstitutiv erscheinen, wie bei jeder Theateraufführung, und sei es nur zwischen einem einzigen Schauspieler, den Hamlet-Monolog haltend, und seinem Publikum. Mit anderen Worten, und dies mag eine arg strenge Auslegung der soziologischen Rollentheorie sein, ist der soziologische Rollenbegriff im Kern auf Interaktivität bezogen, d. h. auf die besonderen wechselseitigen Abstimmungserfordernisse, die sich sogleich aufdrängen, sowie sich mindestens zwei Personen face to face begegnen und das Problem der doppelten Kontingenz allergrößte Relevanz gewinnt. Und selbst für diesen Kardinalfall von Sozialität findet nicht durchweg Unsicherheitsabsorption durch die Verfügbarkeit sozialer Rollen statt, wie man bei Erving Goffman in „Behavior in Public Places“ studieren kann, weil soziale Rollen, darauf hatte Heinrich Popitz 1967 hingewiesen, mehr noch eine ausreichende positionale Verfestigung benötigen, mithin, wie schon angesprochen, genügend Institutionalität (Positionssegmente, soziale Felder, Funktionssysteme, (formale) Organisationen usw.) brauchen, um als soziale Rollen Bestand zu haben und sich erfolgreich behaupten und durchsetzen zu können, bezogen auf ständig wiederkehrende Begegnungssituationen (Wiederholungswahrscheinlichkeit) bei sehr hoher Standardisierbarkeit der Verhaltensabläufe.

Diese beiden Merkmale Institutionalität und Interaktivität schlagen nun auch bei Müllers eigener Konzeption der Konsumentenrolle insofern zu Buche, als die „differentia specifica“ bei ihm viel zu vage bleibt, da Müller weder die nötige Institutionalität als conditio sine qua non für seine Rollenzurechnungen ausreichend sicherstellt, noch darauf achtet, dass er seinen Begriff der Verbraucherrolle erst dann in Anschlag bringt, wenn das Moment der Interaktivität dazu hinreichend Anlass gibt.

Diese Unbestimmtheit hat im Übrigen auch damit zu tun, dass Müllers Konsumbegriff ein wenig oberflächlich bleibt. Denn was bedeutet Konsum heutzutage? Gewiss nicht nur Einkaufen, das macht Müller hinlänglich klar. Doch wo sind die „Grenzen des Konsums“ heutzutage, um dergestalt mit Müllers Titel zu spielen?

Um hier nur ein Beispiel Müllers aufzugreifen: Wenn eine Frau eine Einkaufsstätte mit einer Tasche betritt und diese wieder verlässt, ohne etwas eingekauft zu haben, trage „die Frau die Tasche, ohne konsumiert zu haben“ (S. 279). Was sogar dagegen spreche, dass die „Konsumentenrolle [überhaupt] funktionale Artefakte“ besitze, etwa Einkaufstaschen, und dies gelte selbst fürs Geld (daselbst). Ist dem so?

Wie man bei Colin Campbell in „The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism“ oder Wolfgang Ullrich in „Habenwollen“ lernen kann, sollte Konsum keineswegs mehr aufs Einkaufen reduziert werden, oder auf Besitz und Eigentum von Konsumgütern, ebenso wenig auf bestimmte Praktiken, welche die spätere Nutzung bestimmter Sach- oder Dienstleistungen zum Inhalt haben. Konsum umfasst heutzutage vielmehr auch das Imaginieren, Phantasieren, Tagträumen, nicht zuletzt auf nichtkommerzielle Phänomene wie Erlebnisse, Gefühle, den Körper oder die Natur gerichtet, sodass es kaum noch Grenzen des Konsums zu geben scheint. Wenn Konsum (mittlerweile) aber eine solche Ubiquität auszeichnet ist die Frage, ob das die Chance für ausreichende Institutionalität nicht gänzlich auflöst? Ohne ausreichende Institutionalität aber keine stabile Rollenbildung. Und auf der anderen Seite spielt sich Kaufen und Konsumieren heutzutage so oft unter nahezu interaktionsfreien Umständen ab, etwa beim E‑Commerce, dass auch von dieser Seite kaum Rollenbedarf aufkommt. Andere Terminologien und Konzepte wie Antlitz („face“), Charakter, Habitus, Identität, Image, Leitbild, Sozialfigur, Stereotyp oder Subjekt erschienen hierfür dann viel geeigneter, um die Praxis moderner Konsumtion adäquat zu erfassen. Dem soziologischen Rollenbegriff käme demnach nur noch eine sehr eingeschränkte empirische Erforderlichkeit und Geltung zu, soweit es ums Kaufen und Konsumieren geht, abhängig vom jeweiligen Gegenstandsbereich.

Zum Abschluss noch ein Wort zu der Frage, welche Verantwortung der Verbraucherrolle als Rolle zukommt. Müller leitet die Verantwortbarkeit der Verbraucherrollen (Käufer‑, Kunden- und Konsumentenrolle jetzt zusammengefasst) im Wesentlichen aus einer universalistischen, an Hans Apels Diskursethik angelehnten Perspektive ab. Philosophisch ist das konsequent.

Geht man allerdings davon aus, dass man es in der modernen Gesellschaft mit funktionaler Differenzierung zu tun hat, und sei es nur eine Gemengelage sozialer Felder à la Pierre Bourdieu (oder Positionssegmenten nach Dahrendorf), kommt jedem sozialen Feld Autonomie zu. Und sofern überhaupt, verfügen diese sozialen Felder, so auch Wirtschaft, demnach über je eigene Verhaltensstandards, deren Moralität feldspezifisch begründet ist. Wichtig wäre somit, die in jedem Feld spezifische Moralität zu ermitteln, in diesem Falle der Wirtschaft, und die Verantwortbarkeitschancen der Verbraucherrollen in erster Linie darauf zu beziehen. Dies betrifft vorrangig den Aspekt der Institutionalität, der in Müllers Rollenverständnis nebensächlich bleibt und der es zudem fragwürdig erscheinen lässt, ob man den Verbraucherrollen (und vermutlich allen sonstigen Rollen) die Bürgerrolle tatsächlich überordnen kann, wie Müller (u. a. S. 391) dies postuliert, weil es sich empirisch doch eher um eine horizontale denn vertikale Arbeitsteilung handelt.

Ein zweiter Einwand berührt den Aspekt der Interaktivität. Werden Legitimität und Funktionalität sozialer Rollen auf das eminent virulente Problem der doppelten Kontingenz bei direkten Begegnungen bezogen, für das soziale Rollen hochstandardisierte Unsicherheitsabsorption erbringen sollen, könnte die Verantwortbarkeit der Verbraucherrollen alternativ auch dahingehend diskutiert werden, inwieweit die Ausübung von Verbraucherrollen ihre Moralität nicht darin beweist, die jeweilige Kauf‑, Kunden- oder Konsuminteraktion davor zu schützen, dass sie als Interaktion scheitert, übrigens ein Hauptanliegen Erving Goffmans. Bei Müller klingt dieser Fall durchaus an, wenn er schreibt: „Die Handlungen sind unverantwortlich, weil die ‚Händlerin‘, das ‚Hotelpersonal‘, oder die ‚Mitarbeitenden‘ des Unternehmens nicht als gleichberechtigte Diskurspartner anerkannt werden“ (S. 361). Denn mit Goffman kann gesagt werden, dass die generelle Verantwortbarkeit sozialer Rollen im Interaktionsschutz liegt, in der Aufrechterhaltung der „interaction order“: Das ist die originäre Verantwortung sozialer Rollen im Allgemeinen, und auf Verbraucherrollen respezifiziert: der Schutz direkter Begegnungen von Käufern, Kunden, Konsumenten mit dem Personal vor Störungen des „Betriebsablaufs“. Bei Müller klingt das zumindest ansatzweise an: „Entsprechend kommt Individuen lediglich die Rollenverantwortung zu, konform zu ihrer Rolle zu handeln“ (S. 383). Diese Betrachtung setzt allerdings voraus, dass man dem Aspekt der Interaktivität dafür genügend Aufmerksamkeit schenkt.

Abschließend ist festzustellen, dass die Arbeit von Sebastian Müller sich gleich auf drei Forschungsfelder begeben hat und diese durchaus anregend miteinander verknüpft. Insofern kann diese Arbeit als eine gute Einführung in diese höchst kontrovers diskutierte Debatte um die Verantwortung und Verantwortbarkeit der Verbraucher und Verbraucherinnen heutzutage behandelt werden, welche primär normativ aus der Perspektive der Philosophie konzipiert wurde, und man kann daran instruktiv studieren, wie man mit dieser hochaktuellen Problemstellung multidisziplinär weiter umgehen könnte. Ansonsten empfiehlt sich für die Frage nach der Verantwortung und Verantwortlichkeit sozialer Rollen, nochmals bei Niklas Luhmann in „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ nachzuschauen, weil heutzutage davon auszugehen ist, dass die meisten stabilen Rollensysteme über formale Organisationen institutionalisiert werden dürften.